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"Kraft- und Ideenlos - Die Tagung des Europäischen Rates vom 16. und 17. Juni 2005"

von Dr. Peter R. Weilemann †

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Kraft- und Ideenlos - Die Tagung des Europäischen Rates vom 16. und 17. Juni 2005

Wie weiter mit dem Europäischen Verfassungsvertrag und Finanzielle Vorausschau 2007 -2013 – das waren die dominierenden Themen des zweiten Gipfels der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unter der Luxemburger Präsidentschaft. Hier wollte man ein Zeichen der Entschlossenheit und Umsetzungsstärke nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlande setzen. Weitere Tagesordnungspunkte - die man überwiegend den Außenministern überließ - waren die wirtschaftliche Entwicklung der Union, das Haager Programm und Terrorismusbekämpfung sowie die Außenbeziehungen. Die brisanten Erweiterungsfragen wurden in den Schlussfolgerungen systematisch zwar etwas kryptisch abgehandelt, in der Substanz aber gab es keine Änderung. Sieht man davon ab, dass beim Punkt Lissabonstrategie das Thema Nachhaltigkeit prominent in den Vordergrund geschoben wurde, so kann man den Außenministern großen Fleiß bei der verbalen Bewältigung der außenpolitischen Agenda bescheinigen. Bei der Bewältigung der beiden Hauptthemen aber zeigten sich die Staats- und Regierungschefs kraft- und ideenlos, am Ende dann auch erfolglos.

1. Das weitere Schicksal des Verfassungsvertrages

Es gibt keine Alternative zum vorliegenden Verfassungsvertrag – Der Ratifikationsprozess braucht mehr Zeit – Plan D soll es richten. Das sind die Schlüsselelemente der „Strategie“ zur Rettung des Vertrages.

Die klare Absage an ein Nachverhandeln oder gar Fallenlassen des Verfassungstextes kam nicht überraschend, trotz vieler Ideen im politischen Umfeld, wie Teile des Vertrages ohne Ratifikation zu retten seien, neue Gremien dem Vorhaben neue Legitimation verleihen könnten etc. Es gibt keinen besseren Vertag, lautet die Botschaft. Er ist die Lösung und nicht das Problem.

Das Problem vielmehr sei, dass noch nicht jeder Europäer dies richtig verstanden habe und einige Länder bei einem Referendum die Gefahr eines negativen Votums liefen. Deshalb soll der ursprünglich avisierte Termin für den Abschluss des Ratifikationsverfahrens, der 1. November 2006, auf unbestimmte Frist verschoben werden um Zeit für eine Denkpause zu haben. Wie lange diese dauern soll bleibt ebenfalls offen, Mitte 2007 könnte man soweit sein, schätzt der Präsident des ER. Unter österreichischer Präsidentschaft (1. Halbjahr 2006) soll der Stand der Diskussion überprüft werden. Den Ländern steht es allerdings offen, souverän und autonom über den Zeitpunkt des Referendums zu entscheiden. Auch kann, wer will parlamentarisch ratifizieren.

Wie die Pause genutzt werden soll, darüber gibt es noch keine detaillierten Vorstellungen. Der von Kommissionspräsident Barroso einige Tage zuvor in die Debatte gebrachte Plan D (Demokratie und Dialog oder Dialog und Debatte – so genau wussten es Kommissionspräsident und Parlamentspräsident am Abend nicht) soll den Rahmen bilden. Ausgangspunkt ist die Überlegung, so Juncker, dass nicht über den Vertrag abgestimmt worden sei. Das Hauptproblem sei die Arbeitslosigkeit. Das Tempo der Erweiterung sei in der Sitzung nur einmal - nach Teilnehmeraussagen vom französischen Staatspräsidenten - thematisiert worden. Juncker schwebt wohl so ein gesamteuropäisches Brainstorming von Rat, Parlament, Kommission und Zivilgesellschaft vor; man müsse sich dem Bürger intensiver öffnen als früher. Auch Barroso greift in diese Kiste; es gäbe Probleme und Ängste denen man sich nicht verschließen dürfe. Am konkretesten noch zeigte sich Parlamentspräsident Borrell, der hier zurecht eine große Chance und Verantwortung für das Europäische Parlament sieht, wenn auch nicht immer richtig nutzt. Man müsse von dem jetzt geweckten Interesse an Europa profitieren, erklärte er vor den Staats- und Regierungschefs. Die Abstimmung sei nicht über den Text (der Verfassung) sondern den Kontext gegangen. Deshalb stünden zwei große Themen im Vordergrund: Die Grenzen Europas; notwendig sei eine Unterscheidung von der Wiedervereinigung Europas und künftigen Erweiterungen. Das zweite sei die Zukunft des europäischen Gesellschaftsmodells; statt Abgrenzung müsse man voneinander lernen.

Wenn auch noch nicht geklärt ist, wie die Pause genutzt wird, so ist doch klar wem sie nutzt. Vor allem den sieben Ländern, die sich zu einer Volksabstimmung über den Vertrag entschieden haben (Dänemark, Portugal, Tschechische Republik, Irland, Polen, England und als erstes Luxemburg). Nach Aussagen des luxemburgischen Ministerpräsidenten Juncker soll das Parlament dort jetzt die Möglichkeit haben, über eine Verschiebung des für den 10. Juli geplanten Referendums zu befinden.

Die Entscheidung für eine Pause war keineswegs unumstritten im Kreise der Regierungschefs. Die meisten hatten sich noch bis kurz vor dem Gipfel für eine Fortsetzung des Ratifizierungsverfahrens ausgesprochen. Nach Auffassung von Beobachtern kam die Initiative für den Schwenk von luxemburgischer Seite. Nach längerer Diskussion machte sich der EVP-Gipfel sie sich zu eigen. Im Grunde ist die Entscheidung ein Kunstgriff bei dem weniger zu verlieren als zu gewinnen ist, wenn sie denn richtig genutzt wird; so bleibt England weiter an Bord, die Chance kritische Masse zu Gunsten der Verfassung aufzubauen besteht. Eine Kommunikationsstrategie à la Wallström allerdings wird nicht reichen. Schon in der nächtlichen Pressekonferenz der drei Präsidenten konnte man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass Diagnose wie Therapie zerredet werden. Der Umschwung kommt nicht durch Aufklärung allein; der Bürger muss die Änderung fühlen, die EU „materiell“ liefern. Vor allem deutet die Verschiebung noch keine Lösung an, wie das Votum der Franzosen und Niederländer zu korrigieren ist – durch ein neues europaweites Referendum, wie Schüssel es anregt ? Im Kontext der französischen Präsidentschaftswahlen ? In Verbindung mit den Europawahlen 2009 ? etc. Aber auch dafür gibt es ja die Denkpause.

2. Der Finanzrahmen 2007-2013 – Nabelschau statt Vorausschau

„Der Europäische Rat bedauert, dass es nicht möglich war, in diesem Stadium zu einer umfassenden Übereinkunft über die finanziellen Perspektiven zu kommen“ heißt es lapidar in den Schlussfolgerungen. Der Präsident des ER bewertete das Scheitern als Ausdruck einer tiefen Krise Europas. Bundeskanzler Schröder gab, wie viele andere auch, die Schuld für die fehlende Einigung dem britischen Premier Blair, aber auch den Regierungen der Niederlande und Schwedens. Selbst eine spektakuläre Geste der neuen Mitgliedsländer konnte sie nicht bewegen.

Wie in der Vergangenheit wollte sich die Europäische Union mit zeitigem Vorlauf auf einen Finanzrahmen für die Jahre 2007-2013 verständigen. Damit soll Planungssicherheit gegeben werden, um den künftigen internen und externen Herausforderungen begegnen zu können. Noch die alte Kommission Prodi hatte im Frühjahr 2004 einen ersten Haushaltsentwurf vorgelegt, der ein Gesamtvolumen der Bewilligungen über sieben Jahre von rund Euro1022 Mrd. vorsah und die Aufgabenfelder der Union in fünf Rubriken neu zusammenfasste: 1.Wettbewerbfähigkeit im Dienste von a)Wachstum und Beschäftigung - und b) Kohäsion im Dienste von Wachstum und Beschäftigung; 2. Nachhaltige Bewirtschaftung und Schutz der natürlichen Ressourcen - im Klartext Landwirtschaft -; 3. a) Freiheit, Sicherheit und Recht b) Andere interne Politikbereiche; 4. Die EU als globaler Partner; 5. Verwaltung. Dieses Ausgabevolumen, das ungefähr 1.24 Prozent des gesamten Bruttoinlandsproduktes der Europäischen Union entsprach stieß sofort auf Ablehnung der sechs sogenannten Nettozahler (Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweden, Niederlande und Großbritannien), die in einem gemeinsamen Schreiben mitgeteilt hatten, die Ausgaben dürften 1 Prozentpunkt des BNE nicht überschreiten. Das neu gewählte Parlament hatte im Herbst 2005 einen nichtständigen Ausschuss eingesetzt, dessen Empfehlungen, der sogenannte Böge-Bericht, mit einem Gesamtvolumen entsprechend 1.18 Prozent des BNE es im Mai mit großer Mehrheit annahm.

Angesichts dieser erheblichen Differenzen schon bei den globalen Kennziffern wurden die Chancen, unter Luxemburgischer Präsidentschaft zu einer Einigung zu kommen, allgemein als gering eingeschätzt. Warum die Präsidentschaft nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden eine Chance sah, doch noch zu einem Abschluss zu kommen und damit Handlungsfähigkeit der EU zu demonstrieren bleibt ihr Geheimnis, auch wenn es gut gemeint war. Ihre Vorbereitung des Gipfels in dieser Frage war gut und ihre Verhandlungsführung war so, dass Juncker zurecht sagen konnte, dass am Schluss die Differenzen minimal gewesen seien.

Über die Gesamthöhe der Ausgaben - nunmehr bei rund 1.06 Prozent - wie auch die Ausstattung der einzelnen Titel (Rubrik la Euro 61.8Mrd; Rubrik 1b Euro 306,5 Mrd.; Rubrik 2 Euro 377,8 Mrd.; Rubrik 3a Euro 6,6 Mrd.; Rubrik 3b Euro 11,0 Mrd.; Rubrik 4 Euro 50,0 Mrd.; Rubrik 5 Euro 50,3 Mrd.) schien weitgehender Konsens zu herrschen, nachdem die Sechser-Koalition, wie vorausgesagt, auseinandergebrochen war. Doch noch blieb das Problem der sogenannten Eigenmittel zu lösen. Die Einnahmen der Union setzen sich aus Abgaben und Zöllen, Beiträgen der Mitgliedsstaaten gemäß Wirtschaftskraft und Abgaben aus den nationalen Mehrwertsteueraufkommen zusammen. Einige Staaten zahlen deshalb mehr in die EU-Kasse ein, als sie als Rückflüsse erhalten. Zum Ausgleich dieser Diskrepanz hatte Großbritannien 1984 in Fontainebleau einen Korrekturmechanismus (AKM) durchgesetzt, der im Prinzip für alle betroffenen Staaten gelten konnte, aber nur London zugebilligt wurde, der sogenannte Britenrabatt. Was damals gerechtfertigt schien ist heute allen andern Mitgliedstaaten ein Dorn im Auge. Zudem wollten Schweden und die Niederlande, Nettozahler mit den höchsten Pro-Kopfanteilen, dass auch sie eine Entlastung bei ihren Beitragszahlungen erhielten; die Bundesregierung hatte sich schon vorher kompromissbereit gezeigt. Die Luxemburgische Präsidentschaft schlug vor, dass der Britenrabatt auf dem Niveau von 2006, was einer Festschreibung auf rund Euro 5 Mrd. statt künftig 8 Mrd. entsprochen hätte, eingefroren werden sollte. Den Niederländern wurden Nachlässe auf die Beiträge bis über Euro 700 Mio. angeboten.

Doch Blair, Balkenende und Persson lehnten ab. Im Grunde ging es nicht mehr um Zahlen. Der Britenrabatt ist angesichts der geänderten wirtschaftlichen Lage sicherlich nicht mehr haltbar. Aber für London, dem der extrem hohe Anteil der Landwirtschaft von rund 40 Prozent ein Ärgernis ist, ist er auch der Hebel in eine Reform der Ausgabenstruktur insgesamt. Zukunftsinvestitionen statt Subventionen, lautet das Argument. Selbst das Europäische Parlament hatte mit dem Böge-Bericht signalisiert, dass es sich einen Einstieg in die Kofinanzierung der Agrarausgaben vorstellen könne.

Es waren Deutschland und Frankreich die sich 2002 auf die Festschreibung des hohen Agraranteils von rund 40 Prozent am EU-Haushalt verständigt hatten. Sie, die alten Rivalen aus dem Irakkonflikt, betrieben nun alles, den britischen Premier weiter zu „outen“. Warum sollte der den beiden, nur noch auf Abruf amtierenden Politikern nachgeben, ohne Punkte für die noch anstehende Europadebatte zu Hause zu holen ? Auch Balkenende, der das heimische „Nee“ zur Verfassung gerade auch als ein Nein zu den hohen Nettozahlungen der Niederlande interpretieren musste, und dem Schwäche gegenüber Brüssel vorgeworfen wurde, hatte angesichts der Koalitionslage zu Hause kaum eine andere Wahl. Auch den schwedischen Premier, der ja die Verfassung ratifizieren möchte, hätte ein Finanzkompromiss zu seinen Lasten zu Hause nicht populärer gemacht.

Der letzte Druck fehlte. Die eigentliche haushaltstechnisch relevante Deadline ist der Sommer 2006 und theoretisch kann die Europäische Union auch mit jährlichen Budgets leben. Sicherlich aber schlechter. Und ohne Zweifel wird sich die Haushaltkrise bereits jetzt auf die Beratungen des Etats 2006 niederschlagen. Der Zufall will es, dass gerade die britische Präsidentschaft beauftragt ist, die Verhandlungen auf dem eingeschlagenen Weg weiter voranzutreiben. Doch die Skepsis, ob sie das könne, stand schon lange vor dem Scheitern. Es ist nicht auszuschließen, dass auch der bisher erreichte und sicherlich diskussionswürdige Konsens über die Ausgabenprioritäten wieder auseinander bricht. Und selbst wenn der Rat eine Einigung erzielt, dann hat sich schon das Parlament zu Wort gemeldet, um seine Forderungen durchzusetzen, die einerseits Machtanspruch und höhere Ausgaben implizieren. Vor allem aber will es den Hebel nutzen, qualitative Veränderungen, wie eine Reform der Haushaltsordnung und der Entbürokratisierung der Mittelvergabe, durchzusetzen.

3. Erweiterung

Ungeachtet des Verlaufs der Ratssitzung (s.o.) besteht weitgehend Konsens, dass das Tempo der Erweiterung und insbesondere die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, bei aller unterschiedlicher Motivation in Frankreich und den Niederlanden, wesentlich ausschlaggebend war für das negative Votum in diesen beiden Ländern wie für das wachsende Unbehagen mit der Einigungspolitik in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung allgemein. Der Europäische Rat hat sich jedoch nicht zu klaren Konsequenzen entscheiden können.

Es stand zu erwarten, dass nach Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit Rumänien und Bulgarien im April diesen Jahres und vorher versäumten Chancen die Entwicklungen zu korrigieren, der Gipfel jetzt keine Kehrtwende einleiten würde. Folgerichtig beschloss er, dass diese Länder nun als aktive Beobachter an den Beratungen des Europäischen Rates, des Rates und seiner Vorbereitungsgremien teilnehmen werden. Das Parlament hat eine analoge Entscheidung verschoben auf Januar 2006, gegebenenfalls sogar 2007. Auch andere Hürden sind noch nicht genommen, wie der Fortschrittsbericht der Kommission im kommenden Herbst und natürlich die nationalen Ratifizierungsverfahren.

In der Kroatienfrage hatten die Außenminister schon vor dem Gipfel festgestellt, dass die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen - zufriedenstellende Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal - noch nicht erfüllt seien. In den Schlussfolgerungen wird Kroatien namentlich gar nicht erwähnt sondern darauf hingewiesen, dass „die Zusammenarbeit aller Länder der Region mit dem ICTY eine wesentliche Voraussetzung für ihre weitere Annäherung an die EU bleibt“. Das Bekenntnis des ER zur vollständigen Umsetzung der Agenda von Thessaloniki, welche den Ländern des Westbalkan eine Beitrittsperspektive eröffnet, findet sich - systematisch bezeichnend - im Kapitel Außenbeziehungen zwischen UN-Politik und Neuer Nachbarschaft.

Zum Türkeibeitritt sollte ursprünglich gar nichts gesagt werden. Jetzt nehmen die Schlussfolgerungen noc h einmal kurz allgemeinen Bezug auf den Dezember-Gipfel, der grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gegeben hatte und unterstreichen die Notwendigkeit, die Entscheidungen vollständig umzusetzen. Auf dem EVP-Gipfel zuvor hatte man sich verständigt, dass der Verhandlungsrahmen nochmals enger - Aufnahme des Begriffes Privilegierte Partnerschaft - präzisiert werden sollte, selbst zu dem Preis, dass der Verhandlungsbeginn festgeschrieben würde. Die türkische Seite, die am Tag des Gipfels das Protokoll mit der EU zur Einbeziehung der neuen Mitgliedsländer unterzeichnete, wurde nicht müde zu betonen, dass sie ihre Hausaufgaben mache und der Ausgang der Referenden vor allem mit der ökonomischen Schwäche der EU zu tun habe.

4. Die wirtschaftliche Lage der Union

Zum drängendsten Problem der Europäischen Union, die Wirtschafts- und Wachstumsschwäche sowie die Arbeitslosigkeit in den meisten ihrer Mitgliedstaaten, fiel den Staats- und Regierungschefs nicht viel Neues ein. Man rekurriert auf den Frühjahrsgipfel und billigt die integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung (2005-2008) als erstes Ergebnis. Sie müssten jetzt von den Mitgliedstaaten anhand der Zeitpläne der Kommission in „ehrgeizige nationale Reformprogramme“ umgesetzt werden. Vorweg macht der ER aber diesmal deutlich, dass die Lissabon-Strategie im „größeren Rahmen der nachhaltigen Entwicklung zu sehen sei“ und billigt dazu eine entsprechende dreiseitige Erklärung, die als Hauptziele Umweltschutz, Soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt, wirtschaftlicher Wohlstand, internationale Verantwortung - in dieser Prioritätensetzung - nennt. Wie das mit dem in den vergangenen Monaten fast mantrahaft vorgetragenen Bekenntnis der Kommission zu „Wachstum zuerst“ zu vereinbaren ist, wird sich zeigen.

5. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Auch Integration und Identität der Gesellschaft in Zeiten globaler Migration wie Innere Sicherheit gehören zu den drängenden Fragen der europäischen Bevölkerung. Mit dem Aktionsplan zum sogenannten Haager Programm, dessen Annahme der ER begrüßt, können hier wichtige Weichenstellungen bezogen werden. Transparenz und öffentliche Debatte über diese Maßnahmen weisen jedoch noch erhebliche Defizite auf. Bei der Terrorismusbekämpfung setzen die Staats- und Regierungschefs unter anderem folgende Prioritäten: Informationsaustausch und Austausch strategischer wie operativer Daten, Aktionsplan zum Problem der Radikalisierung und Rekrutierung von Terroristen, Strategie zur Bekämpfung von Terrorismusfinanzierung.

6. Außenbeziehungen

Bei ihrer Bestandsaufnahme der Außenbeziehungen der Europäischen Union - neben dem Balkan wurden insgesamt dreizehn weitere Bezugsfelder abgehandelt - setzten die Staats- und Regierungschefs wenig neue Akzente. Ausführlich werden die Vorbereitungen für das Gipfeltreffen der Vereinten Nationen und der Beitrag der EU zu den Millenium Development Goals erörtert. Die EU 15 verpflichten sich - wieder einmal - auf das 0,7 Prozent Ziel bis 2010; die neuen Mitglieder bescheiden sich mit 0,33 Prozent. Zur institutionellen Reform der Organe der Vereinten Nationen findet sich nur ein allgemeines Bekenntnis zu mehr Repräsentativität, Transparenz und Effizienz. Eine theoretisch mögliche deutlichere Unterstützung für einen weiteren europäischen Sitz im Sicherheitsrat fehlt - zu Recht. Hinsichtlich der Internationalen Handelspolitik heißt es, dass beim WTO-Ministertreffen in Hongkong „anspruchsvolle Ergebnisse“ erzielt werden müssten.

Eine Revision der zu Beginn des Jahres gelockerten Kuba Politik wurde weiter vertagt - die Anfang des Jahres beschlossene Aufhebung des Sanktionsverfahrens wird im Juni 2006 überprüft.

Zum transatlantischen Verhältnis verweist der ER auf die anstehenden Gipfeltreffen EU-USA am 20. Juni in Washington und EU-Kanada am 19. Juni. Mit der Bush-Administration will man sich vor allem auf Prinzipien der Demokratieförderung verständigen sowie einen strategischen Dialog über Ostasien beginnen. Das Europäische Parlament hatte zuvor ein Transatlantisches Partnerschaftsabkommen gefordert, das politische Deklarationen durch eine „Community of Action“ ersetzt. Die Kommission lehnt diesen Vorschlag ab. Der ER hebt in den Schlussfolgerungen die Wirtschaftsbeziehungen hervor.

Im Vorgriff auf die britische Präsidentschaft befasst sich der Rat außerdem sehr ausführlich mit Afrika..

Das Projekt Europäischer Auswärtiger Dienst, über das Kommissionspräsident Barroso und der Generalsekretär des Rates Solana vor kurzem noch gemeinsam vorgetragen hatten, findet sich nicht mehr. Die Fortschritte in der Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik beim Krisenmanagement oder bei der Arbeit der Europäischen Verteidigungsagentur werden gewürdigt.

7. Ausblick

Das Projekt einer europäischen Verfassung scheint vorerst zwar gerettet. Der erhoffte erste Befreiungsschlag in Form einer Einigung über die künftige Mittelausstattung und damit Handlungsfähigkeit der Europäischen Union ist gescheitert. Optimismus und Pessimismus halten sich gleichwohl nur noch schwerlich die Waage.

Die europäische Führungskrise ist seit langem schon evident. Doch selten waren zentrale Akteure auf einem Gipfel politisch so angeschlagen wie diesmal. Der französische Staatspräsident mit der blamablen Niederlage beim Referendum im Gepäck. Ein deutscher Bundeskanzler, der gescheitert und praktisch schon abgetreten. Der niederländische Premier hatte mit mehreren Koalitionsbränden gleichzeitig zu Hause zu kämpfen. Selbst der Präsident des Europäischen Rates hatte, indem er sein Schicksal als Ministerpräsident mit dem Ausgang des Referendums in Luxemburg verknüpfte, seinen eigenen Manövrierraum beeinträchtigt. Nimmt man erfolgreiche Wirtschaftspolitik, kritische Haltung zu Brüsseler Bürokratie und gesunder Pragmatismus als gute Kriterien für die künftige Politik, so dürfte man mit einiger Erwartung auf die britische Präsidentschaft schauen. Doch deren selbstgewählte Markenzeichen für die kommenden sechs Monate - Klimapolitik, Nachhaltigkeit und Afrika - liegen nun nicht gerade im Zentrum dessen was Europa braucht. Ermunternder ist da der Blick auf die Wahlkalender, aber nicht überall geht es so rasch wie in Deutschland.

Die Rettungsoperation des Verfassungsprojektes mutet schon etwas seltsam an. Nicht der Patient wird behandelt, denn er gilt als gesund, sondern das Umfeld in dem er leben soll. Die große Gefahr liegt darin, dass trotz aller Bekenntnisse zum „Kein Weiter so“, die EU in die klassische Informationsstrategie der Infobroschüre verfällt. Voraussetzung für den Erfolg jedoch ist die Substanz europäischer Politik. Sicherlich ist die Kommission der Ort, wo der operative Konsens hergestellt werden muss; aber das braucht nicht nur reaktiv zu geschehen. In gleicher Weise müssen sich die nationalen politischen Eliten in der Pflicht sehen mit den Brüsseler Institutionen in ein konstruktives Wechselspiel zu treten und nicht diese als Sündenbock abzustempeln. Das heißt aber auch, Subsidiarität auf beiden Seiten ernst nehmen. All diese Punkte klingen vertraut. Und langjährige Beobachter verweisen zu Recht auf die Parallelen bei der Krise um den Maastricht-Vertrag. Trotzdem, seitdem ist viel passiert in Europa und keineswegs nur zum schlechten; eher umgekehrt.

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