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"Kurzanalyse: Die Tagung des Europäischen Rates vom 4.-5. November 2004 in Brüssel"

von Dr. Peter R. Weilemann †

Undramatischer Gipfel mit Langfristfolgen?

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Kurzanalyse: Die Tagung des Europäischen Rates vom 4.-5. November 2004 in Brüssel - Undramatischer Gipfel mit Langfristfolgen?

Der erste Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unter niederländischer Präsidentschaft, nur wenige Tage nach der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages in Rom, verlief ohne große Spannungen und Dramatik. Im Rückblick könnte sich aber herausstellen, dass hier einige wichtige Vorklärungen getroffen wurden. Auf der gemischten Tagesordnung standen vornehmlich die Diskussion über die Fortführung der Lissabon-Strategie auf der Basis des sogenannten „Kok-Berichtes“, ein Meinungsaustausch zur Fortentwicklung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (das sogenannte Haager-Programm), Überlegungen zur künftigen Kommunikationsstrategie im Kontext des beginnenden Ratifizierungsverfahrens des Europäischen Verfassungsvertrages sowie eine Information zum Fortgang des Erweiterungsprozesses, letztlich wurden einige außenpolitische Themen angesprochen. Die medienwirksamste Nachricht des Gipfels - neben den Meldungen über die Nachhutgefechte zur Irakpolitik - allerdings war die Bekanntgabe der Namen der geänderten künftigen Kommission durch den designierten Präsidenten Barroso.

1.Der neue Kommissionsvorschlag

Nach dem Rückzug des italienischen Kommissionskandidaten Rocco Buttiglione und der Benennung eines neuen lettischen Kandidaten handelte der designierte Kommissionspräsident rasch, indem er ein begrenztes Revirement seiner ursprünglichen Mannschaft vorschlug. Der neue italienische Kandidat, Außenminister Franko Frattini soll Kommissar für Freiheit , Recht und Sicherheit werden. Der europapolitisch erfahrene Lette Andris Piebalgs, mehrmaliger Minister und aus der Familie der EVP kommend, wird das Ressort mit dem wegen seiner mangelnden Sachkenntnisse unter Beschuss geratenen Ungar Lazlo Kovacs (bisher Energie, künftig Steuern und Zölle) tauschen.

Die kleine Rochade wird nicht alle zufrieden stellen. Innerhalb der EVP-ED-Fraktion gibt es genügend Stimmen, die auch ein „Opfer“ von den Sozialisten und Liberalen fordern. Die Grünen sprechen sich weiter gegen die Kandidatinnen Kroes (Wettbewerb) und Fischer-Boel (Landwirtschaft) sowie auch gegen Kovacs aus. Auch bei den Sozialisten gibt es nach wie vor Vorbehalte gegen die beiden erstgenannten. Doch signalisieren die Fraktionsspitzen der EVP, Sozialisten und der Liberalen Zustimmung.

Barroso hat gute Gründe für diese rasche Lösung auf seiner Seite. An der fachlichen Qualifikation der beiden neuen Kandidaten für ihr jeweiliges Ressort kann kein Zweifel bestehen; und warum darf man jemanden, der wirtschaftlich erfolgreich war oder eigene berufliche Erfahrung in der Landwirtschaft hat, nicht zutrauen, dass er ein öffentliches Amt auf diesem Gebiet nicht nur mit der notwendigen Sachkenntnis sondern auch unbestechlich ausübt. Ein größeres Revirement hätte die strukturellen Schwächen des Nominierungsverfahrens – der Kommissionspräsident muss eine Mehrheit für ein Team finden auf dessen Zusammensetzung er nur einen begrenzten Einfluss hat – nicht beseitigt sondern eher noch weiter verschärft. Das Ende des unguten Schwebezustands vermeidet auch eine weitere Beschädigung nicht nur der anderen Kommissionsmitglieder sondern auch des Präsidenten und der ihn unterstützenden Kräfte wie der Europäischen Union insgesamt .

Der Europäische Rat hat die neuen Namen noch am selben Abend bestätigt. Es sollten also gute Chancen bestehen, dass nach rechtzeitiger Durchführung der Hearings, die neue Kommission noch in der nächsten Straßburgwoche (vom 14. –17. November) vom Parlament bestätigt wird.

2.Lissabon-Strategie

Was die Reformpolitik in Europa betrifft so hat der Kok-Bericht nunmehr schriftlich gegeben was jeder schon wusste: die Ziele der Lissabon-Strategie wurden bislang verfehlt. Ob die Diskussion und einführenden Beiträge des deutschen Bundeskanzlers sowie des finnischen und slowakischen Ministerpräsidenten über die bisherigen Erkenntnisse hinausführen und wo die Staats- und Regierungschefs bis zum nächsten Frühjahrsgipfel 2005 nun ernst machen wollen zeichnet sich noch eindeutig ab. Erste Reaktionen aus den Reihen des Parlaments lassen erkennen, dass die eigentliche Debatte jetzt erst beginnt. So erklärten Vertreter der sozialistischen Fraktion, darunter der Vorsitzende der SPE, der Kok-Report belege unter anderem, dass “hohe ökologische und soziale Normen“ nicht Kosten sondern Beiträge zur Wettbewerbsfähigkeit seien, ebenso wie gute öffentliche Dienste, und ein „nichtreformierter Stabilitätspakt“ sich als Hindernis für die Lissabonstrategie herausstelle. Von der Barosso-Kommission, welche die erfolgreiche Umsetzung der Lissabon-Strategie zu ihrem Markenzeichen machen möchte, wird also viel an ordnungspolitischer Klarheit abverlangt werden müssen.

3.Das Haager Programm

Im Bereich des sogenannten Raumes der Freiheit, Sicherheit und des Rechts werden schon seit einiger Zeit eher im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit eine Reihe von konkreten Maßnahmen diskutiert und in die Wege geleitet, die wesentliche Schritte zu einer Vergemeinschaftung der Asyl- und Einwanderungspolitik in sich bergen. Die niederländische Präsidentschaft hat sich hier ein ehrgeiziges Programm vorgenommen, das teilweise durch die Bestimmungen des Vertrages von Nizza vorgegeben war aber doch auch die politische Notwendigkeit reflektiert in diesen Fragen zu handeln.

„Freiheit, Gerechtigkeit, Kontrolle der Außengrenzen, innere Sicherheit und Vorbeugung gegen Terrorismus“, so heißt es in dem mehr als 30 Seiten umfassenden Konzept „sollen in der gesamten Union künftig als unteilbares Ganzes gesehen werden“. Hinter den Schlagworten wie „Stärkung der Freiheit“ oder „Stärkung des Rechts“ verbergen sich eine Fülle von Vorschlägen, die auf eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik hinauslaufen. Die Kommission wird mit entsprechenden Machbarkeitsstudien und Evaluierungsverfahren beauftragt, die Mitgliedstaaten angehalten ihre Einwanderungspolitik besser zu koordinieren, und z.B. die bisherigen und künftigen Erfahrungen auf diesem Feld über das Internet auszutauschen. Das gesamte Programm wird man einer sehr sorgfältigen Analyse unterziehen müssen. Fest steht, dass hier viele Maßnahmen geplant sind, die einen beachtlichen Kompetenzzuwachs der Europäischen Union auf einem sensiblen Feld bedeuten. Andererseits konnten Widerstände einiger Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, alle Fragen der Asyl- und Einwanderungspolitik sowie des Schutzes der Außengrenzen, wie es der Vertrag von Nizza vorsieht und das EP es fordert, bis April 2005 zu vergemeinschaften, d.h. Mehrheitsentscheidungen und Mitentscheidungsverfahren zu unterwerfen, offensichtlich auch bei diesem Gipfel noch nicht ganz ausgeräumt werden. Mit welchem Engagement das Programm unter luxemburgischer und späterer britischer Präsidentschaft vorangetrieben wird und ob der neue Kommissar Frattini - vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche Schlüsselfunktion dem diffamierten Buttiglione zugekommen wäre - es mit gleicher Energie anpackt wie sein Vorgänger Vitorino bleibt abzuwarten. Offen ließen die Staats- und Regierungschef auch die Frage der Finanzierung dieser Politik mit ihren neu zu schaffenden Agenturen und Fonds.

4. Erweiterung

Über die Erweiterungsfragen wurde planungsgemäß nur berichtet. Die Entscheidungen sollen auf dem Gipfel im Dezember fallen. Dann wird es vor allem darum gehen, den Begriff „ergebnisoffener Verhandlungen“ mit der Türkei hinreichend zu präzisieren. Der für Erweiterungsfragen zuständige Kommissar Verheugen hatte bei seinem mündlichen Bericht über die Empfehlung der Kommission am 6. Oktober gesagt, ergebnisoffen dürfe nicht bedeuten, dass am Ende keine Mitgliedschaft stehen könne - eine Interpretation, die Beobachter als vom Kommissionsvotum nicht gedeckt sahen. Gut wäre auch, wenn der Europäische Rat auf dem Dezember-Gipfel eine klare Sprache zu Rumänien finden könnte.

Auf einem dem Treffen der Staats- und Regierungschefs vorgeschalteten EVP-Gipfel hatten die dort versammelten Spitzen der türkischen AK Parti (der Partei des Ministerpräsidenten Erdogans) einen Beobachterstatus - nicht den von einigen favorisierten Status eines assoziierten Mitgliedes - ab dem Frühjahr 2005 angeboten. Außerdem wurde der österreichische Kanzler Schüssel damit beauftragt, die Haltung der EVP zur Beitrittsfrage der Türkei zu koordinieren und im Europäischen Rat zu vertreten. Er wird die schwierige Aufgabe haben, die bald schon schizophrene Situation zu meistern, dass zunehmend die politischen Eliten - von der breiten Bevölkerung ganz abgesehen - in den Hauptstädten der EU kalte Füße angesichts der Entscheidung von Helsinki bekommen, aber nur die deutsche Oppositionsführerin diese Bedenken öffentlich und auch direkt gegenüber dem türkischen Ministerpräsidenten äußert.

5. Kommunikationsstrategie

Nicht sonderlich einfallsreich waren die Staats- und Regierungschefs was die Überwindung der zunehmenden Distanz zur Europäischen Union in der Bevölkerung und die erfolgreiche Umsetzung des Ratifizierungsprozesses des Verfassungsvertrages betrifft. Letzteres sei Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten, die ihre „Informationen und Erfahrungen teilen (können)“. Die Kommission wird aufgefordert bis zum Sommer 2005 ein Konzept zur Kommunikationsstrategie vorzulegen. Das Europäische Parlament hatte schon vor einiger Zeit kritisiert, dass der neue Kommissionspräsident die Ratifizierung nicht nur der für Kommunikation zuständigen Kommissarin Walström überlassen dürfe, sondern dies zur Chefsache erklären müsse.

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