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"Lauer Frühlingsgipfel - Die Tagung des Europäischen Rates vom 22. und 23. März 2005"

von Dr. Peter R. Weilemann †

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Lauer Frühlingsgipfel - Die Tagung des Europäischen Rates vom 22. und 23. März 2005

Die Frühjahrstagung des Europäischen Rates (ER) ist traditionell der wirtschaftlichen Entwicklung der Europäischen Union gewidmet. Im Vordergrund der Tagung stand deshalb auch die lang vorbereitete Zwischenbilanz der sogenannten Lissabonstrategie. Beherrscht wurde der Gipfel von der öffentlichen Debatte um die vorgeschlagene Liberalisierung der Dienstleistungen im Binnenmarkt. Nachdem die Finanzminister sich am Wochenende davor auf die heftig umstrittene Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verständigt hatten, wurde diese ohne große Diskussion von den Staats- und Regierungschefs gebilligt. Auf der außenpolitischen Agenda standen die Vorschläge Kofi Anans zur Reform der Vereinten Nationen oben an. Auch die Kroatien-Frage wurde – entsprechend einer Initiative des EVP-Gipfels - nochmals aufgegriffen, ohne dass dies Eingang in die Schlussfolgerungen gefunden hätte.

1.Lissabon-Strategie

Mit drei Themen sollte sich der Gipfel auseinandersetzen:

a)Bekräftigung der Ziele und Einordnung der Strategie im Verhältnis zur Finanziellen Perspektive 2007-2013, zur Anpassung des Stabilitätspaktes und zur nachhaltigen Entwicklung

b)Festlegung der Prioritäten

c)„Governance“ oder Politikgestaltung, d.h. Arbeitsteilung und Verantwortung bei der Umsetzung der Strategie.

Was die Einordnung der Strategie zu den anderen beiden großen Projekten, die die Diskussion in den letzen Wochen bestimmten, betrifft, so überrascht es nach der Einigung der Finanzminister nicht, dass die Staats- und Regierungschefs die Reform des Stabilitätspaktes (s.u.) als Beitrag zu mehr Wachstum werten. Jetzt könnten die Mitgliedstaaten ihre Rolle bei der Schaffung langfristigem Wachstums „voll ausspielen“! Die Formulierungen der Schlussfolgerungen zur Finanziellen Vorausschau ( die Union mit den Mitteln ausstatten, die es ihr erlauben auch die Prioritäten der Lissabon-Strategie zu einem guten Ende zu führen) können sowohl von den Befürwortern des Kommissionsansatzes wie auch den Vertretern eines Sparkurses ins Feld geführt werden. Auch lässt sie keine definitiven Rückschlüsse zu, ob mit der Reform des Stabilitätspaktes auch bei einigen der Widerstand gegen höhere Mittelausstattung der EU abgemildert ist.

In der Frage der grundsätzlichen Prioritätensetzung liegt das Hauptaugenmerk auf Wachstum und Beschäftigung als Voraussetzung für soziale Kohäsion und nachhaltige Entwicklung. Die Schlussfolgerungen sprechen von drei Achsen zur Wiederbelebung des Lissabon-Prozesses:

„Wissensgesellschaft und Innovation als Motor für langfristiges Wachstum“, ein „attraktiver Raum für Investitionen und Arbeitsplätze“ sowie „Wachstum und Beschäftigung im Dienste sozialer Kohäsion“. Um diese drei Achsen sollen sich zehn Aktionsfelder ranken. Was das im einzelnen heißt wird sich erst bei genauerer Analyse herausstellen. Sehr Innovatives fällt bei der ersten Lektüre nicht ins Auge. Die Luxemburger Präsidentschaft hat sich die Mühe gemacht in einem Arbeitsdokument einmal aufzulisten was das für den einzelnen Bürger bzw. die jeweilige Zielgruppe bedeutet. Herausgekommen ist eine gut gemeinte aber nicht sonderlich greifbare Liste von Maßnahmen („Unternehmergeist bei jungen Menschen entwickeln“; innovative Modelle der Arbeitsorganisation entwickeln“ etc.)

Der spannendste Punkt verbirgt sich unter dem Begriff „Governance“, Verbesserung der Politikgestaltung. Hier geht es um die Verteilung der Zuständigkeiten und insbesondere, welche Rolle der europäischen Ebene bei der Umsetzung des Prozesses zukommt. Die gefundene Lösung steht in der klassischen Tradition der Behandlung solcher Fragen auf dem Brüsseler Parkett.

Das Verfahren kann ungefähr wie folgt skizziert werden: Auf der Grundlage der Schlussfolgerungen des ER beschließt der Rat „integrierte Leitlinien“ die aus zwei „Komponenten“ (Grundzüge der Wirtschaftpolitik; Leitlinien für Beschäftigungspolitik“) bestehen. Dies soll erstmals Ende April 2005 geschehen. Davon ausgehend sollen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Reformprogramme entwickeln. Der ER „ersucht“ die Mitgliedstaaten, diese bis Herbst 2005 vorzulegen. Als Gegenstück soll die Kommission ein gemeinschaftliches Programm („Lissabon-Programm der Gemeinschaft“) vorlegen. Einmal im Jahr – beginnend im Herbst 2006 – berichten die Mitgliedstaaten über die Umsetzung ihrer nationalen Programme. Die Kommission wertet diesen Bericht aus. Basierend auf dieser Einschätzung zieht der ER im Frühjahr dann Bilanz und „äußert“ sich zu eventuellen Anpassungen. Nach drei Jahren, 2008, nimmt die Kommission dann eine umfassende Bewertung der Fortschritte vor. Auf dieser Grundlage werden dann die “integrierten Leitlinien“, die „nationalen Reformprogramme“ und das „Lissabon Programm der Gemeinschaft“ – die beindruckenden jeweiligen Kürzel der Programme sollen dem Leser erspart bleiben - für den nächsten Drei-Jahres-Zyklus erneuert.

Am Ende dieses zweiten Drei-Jahreszyklus ist die Lissabon-Dekade allerdings schon ein Jahr vorüber. Nach fünf Jahren Zwischenbilanz vermittelt dieses Verfahren nicht den Eindruck als sei ein Ruck durch die Union gegangen. Wer fragt, wo der europäische Mehrwert dieser Regelungen liegt wird sich auf eine ausführlichere Antwort gefasst machen müssen.

Ein Vorgeschmack darauf, wie die Debatte in den nächsten Jahren ablaufen kann, gibt bereits heute die Auseinandersetzung um die Dienstleistungsrichtlinie. Sie war noch von der Vorgängerkommission unter Frits Bolkestein konzipiert und in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden. Doch erst zu Beginn des Jahres wurde die Brisanz für die öffentliche Debatte in einigen Mitgliedsländern deutlich, insbesondere in Frankreich, wo sie der Diskussion um das Verfassungsreferendum eine neue Wende gibt. 50 000 Menschen aus den Mitgliedstaaten demonstrierten am Samstag in Brüssel gegen die sogenannte „Frankenstein-Richtlinie“. Um die hitziger und emotionaler werdende Debatte zu entschärfen verständigte sich der ER noch am Abend des ersten Tages darauf, dass der Entwurf der Richtlinie zwar nicht zurückgezogen werde – das kann eh nur die Kommission. Er müsse aber so geändert werden, dass das europäische Sozialmodell gewahrt bleibe. Insbesondere der französische Staatspräsident Chirac und Bundeskanzler Schröder haben ihre ablehnende Haltung noch einmal betont. Formal befindet sich die Richtlinie im einem „Gesetzgebungsstadium“, wo der Rat, geschweige denn der ER noch gar nicht damit befasst sein sollten. Zunächst muss das Europäische Parlament seine Position finden. Die zuständige Berichterstatterin, die deutsche Abgeordnete Gerhard (SPE) hat mit ihrer scharfen Ablehnung schon einmal den Ton gesetzt. Die SPE feierte den Beschluss des ER dann auch als ihren Sieg.

An der Bedeutung der Liberalisierung der Dienstleistung für das Wirtschaftswachstum in Europa kann es kaum Zweifel geben. Für die Kommission ist die Richtlinie eines der wenigen Felder im Lissabonprozess, wo die Zuständigkeiten bei ihr liegen und sie ihre Handschrift zum Ausdruck bringen kann.

2.Stabilitäts- und Wachstumspakt

Wie zu erwarten wurden die von den Finanzministern in der Nacht von Sonntag auf Montag erarbeiteten Reformvorschläge zum Stabilitäts- und Wachstumspakt ohne große Diskussion abgenickt. Nur die Regierungen der Benelux-Länder kritisierten die Art und Weise wie die Ergebnisse des Kompromisses gegenüber der Öffentlichkeit dargestellt wurden. In einer gemeinsamen Erklärung wiesen sie deshalb noch einmal darauf hin, dass der Pakt weder geschwächt noch gelockert sei. Die 3% - bzw. 60 % Marke würden unverändert Gültigkeit haben; keine Ausgabe sei von den 3% ausgenommen. Der Verweis auf die „relevanten Faktoren“ bei der Berechnung des Defizits sei keine Grundlage ein Defizitverfahren einzustellen. Außerdem sei der präventive Arm, d.h. Vorkehrung zum Vorhalten in guten konjunkturellen Zeiten, verbessert, die Rolle der Kommission als Wächter des Paktes gestärkt.

Die Anhänger einer strikten Einhaltung des Paktes werden dies gerne hören. Doch die Erklärung ist wohl eher der Beginn des Kampfes um die Interpretationshoheit als das Ende der Auseinandersetzung. Es gab viele analytische Gründe, eine Anpassung des Paktes zu rechtfertigen. Doch der politische Hauptgrund war, das Deutschland und Frankreich nicht bereit waren, seine Anwendung in der bisherigen Form zu akzeptieren. Die Chance, die Rolle der Kommission in diesem Verfahren zu stärken, wurde bei den Verhandlungen zum Verfassungsvertrag vertan. Will man der jetzigen Reform etwas positives abgewinnen so wäre dies, dass der politische Schaden bei einem weiteren Verstoß gegen einen reformierten Pakt ungleich größer wäre als der bislang angerichtete. Ob das die kleineren Länder, deren Mitgliedschaft ansteht, beruhigt, die Finanzmärkte überzeugt oder gar die Briten zu einer positiven Haltung gegenüber dem EURO bringt, darf mit einem großen Fragezeichen versehen werden.

3.Bewertung

Es kommt selten vor, dass ein Gipfel früher endet als geplant, weil man mit der Agenda durch ist. Das kann ein gutes Omen sein. Es spricht zumindest für die Luxemburgische Präsidentschaft. Die Tagesordnung war bewusst schlank. Das Thema Nachhaltige Entwicklung wurde zügig abgehandelt: der ER wird auf seiner nächsten Sitzung eine Strategie dazu verabschieden. Die Reformvorschläge des UN-Generalsekretärs wurden begrüßt: Die EU ist fest entschlossen, eine größere Rolle beim Reformgipfel im September 2005 zu spielen. Um aus der – insbesondere von Großbritannien, Schweden und den Niederlanden betriebenen - Kroatien-Blockade herauszukommen wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt.

In den zentralen wirtschaftspolitischen Fragen hinterlässt der Gipfel jedoch einen etwas schalen Geschmack. Dazu trägt einerseits die Ungewissheit über die Zukunft des Euro bei. Vor allem aber gewinnt man nicht den Eindruck, als wisse man jetzt, wie man die fünf verlorenen Jahre des Lissabonprozesses aufholen möchte. Es ist eine Sache, die Ziele herunterzuschrauben; das trägt zur Glaubwürdigkeit bei. Es ist eine andere, Klarheit zu haben, wie man diese erreichen will. Beim Frühjahrsgipfel im vergangenen Jahr hatte man sich auf die ordnungspolitischen Grundlinien verständigt. Jetzt wo es um die Umsetzung geht, die Kommission mit Rückendeckung einer Mehrheit des Parlaments wie auch Präsidentschaft sich auf Wachstum und Beschäftigung als prioritäre Voraussetzung für den Wirtschaftsaufschwung verständigt zu haben scheinen, beginnt die neuerliche Beschwörung des „Europäischen Sozialmodells“. Ein zweiter politischer Punkt kommt hinzu. Die Barosso- Kommission hat den Lissabon-Prozess zu ihrem Markenzeichen erklärt, mit guten Vorsätzen und klugen politischen Vorstellungen. Doch sie muss aufpassen - und das hat der Gipfel gezeigt – dass sie sich nicht einen Schuh anzieht, mit dem eigentlich andere, sprich die Mitgliedstaaten, auf dem Reformpfad wandern müssten. Wenn die Europäische Union am Ende nicht liefert, dann wird man nicht den Finger auf die nationalen Hauptstädte richten, sondern nach Brüssel.

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