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Think Tank Newsletter - Q1 2016

Neues aus den Brüsseler Think Tanks

Die bestimmenden Themen im ersten Quartal des Jahres waren die Migrationsdebatte innerhalb der Europäischen Union sowie der mögliche EU-Austritt Großbritanniens. In Reaktion auf die Anschläge von Paris wurde auch die Sicherheitspolitik der EU wieder intensiv diskutiert.

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NEUES AUS DEN BRÜSSELER THINK TANKS

Die bestimmenden Themen im ersten Quartal des Jahres waren die Migrationsdebatte innerhalb der Europäischen Union sowie der mögliche EU-Austritt Großbritanniens. In Reaktion auf die Anschläge von Paris wurde auch die Sicherheitspolitik der EU wieder intensiv diskutiert.

1.Migration

Die wachsende Anzahl der Flüchtlinge, die Europas Grenzen überschreiten und Zuflucht vor Krieg und Gewalt suchen, hat die Agenda der Europäischen Institutionen und der Mitgliedstaaten zu Beginn des Jahres bestimmt. Bei drei Gipfeltreffen, bei denen die Migrationspolitik im Mittelpunkt stand, versuchten die Staats- und Regierungschefs der EU eine gemeinsame Lösung für diese Herausforderungen zu finden.

Die politischen Probleme, die innerhalb der EU und ihren Mitgliedstaaten in Folge der Flüchtlingsströme und der Überforderung der Politik auftraten, werden von Kemal Kirisci im Policy Brief des European Policy Centres (EPC) aufgegriffen. Er erläutert die Lage und die Entwicklungen zwischen der EU und der Türkei bis Ende Februar, also noch vor den beiden Gipfeltreffen im März 2016 und dem dabei ausgehandelten EU-Türkei-Abkommen. Der Autor illustriert die komplizierte Beziehung der beiden Parteien, die einerseits von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt sei, andererseits aber auch stark divergierende Positionen aufzeige, insbesondere in Bezug auf die Gewährung von Grundfreiheiten. Die aktuelle Situation spitze sich zudem noch dadurch zu, dass die bisher fehlende Umsetzung des EU-Türkei Joint Action Plans von November 2015 politische und wirtschaftliche Auswirkungen für beide Parteien habe und darüber hinaus noch weiteres Misstrauen schüren würde. Der Autor sieht nur in einem Vorstoß durch eine „Koalition der Willigen“ in der Europäischen Union in enger Zusammenarbeit mit der Türkei die Lösung, da dies eine Win-win-Situation für beide Seiten ergeben würde. Nur so könne es zu einer schnellen Entschärfung der Krise, zur Anerkennung der türkischen Bemühungen und damit zu einer wirklichen Hilfe für die Flüchtlinge kommen.

Neben der Suche nach geeigneten Partnern, drehte sich die Debatte zwischen den Mitgliedstaaten in den vergangenen Monaten insbesondere um die Umverteilung der Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union. Mit diesem Thema befasst sich Elspeth Guild in ihrem Essay, herausgegeben vom Centre for European Policy Studies (CEPS). Sie ist der Auffassung, dass sich die emotionale Migrations- und Flüchtlingsdebatte in den Medien wieder mehr auf Fakten beziehen müsse. Anhand der Zahlen von EUROSTAT aus dem Monat November 2015, veran-schaulicht sie die von den EU-Mitgliedstaaten genehmigten Aufenthaltserlaubnisse der letzten Jahre. Die Autorin beschreibt, welche Nationalitäten bevorzugt von den EU-Mitgliedstaaten aufgenommen wurden und welche Gründe maßgeblich bei der Vergabe von Aufenthaltserlaubnissen waren. So wurden beispielsweise in Deutschland die meisten Aufenthaltserlaubnisse im Rahmen der Familienzusammenführung, zumeist an syrische Antragsteller, erteilt. Laut Guild sind die Gründe für die Gewährung relativ gleichmäßig über die vier Kategorien Familienzusammenführung, Bildung, Arbeit und internationaler Schutz verteilt. Die mediale Aufmerksamkeit zieht hingegen v.a. letztere Kategorie auf sich. Andererseits stellt sie fest, dass die Zahlen der genehmigten Anträge in den Jahren 2008 bis 2014 relativ stabil blieben – trotz des Arabischen Frühlings. Die Autorin schließt mit der Aufforderung, die statistischen Daten von 2015 abzuwarten, bevor voreilige Schlüsse in der Migrationspolitik gezogen werden.

Janis A. Emmanouilidis bewertet in seinem Beitrag für den EPC die Ergebnisse des Gipfeltreffens am 17. und 18. März 2016. Nach einer eingehenden Analyse der Vorbedingungen und des Ablaufs untersucht er kritisch die Grundelemente des Abkommens, welches zwischen der EU und der Türkei vereinbart wurde. So hinterfragt er u.a., ob die festgelegten Verfahren mit europäischem und internationalem Recht vereinbar seien, ob der Status der Türkei als sicheres Herkunftsland angemessen sei und ob die Türkei ihr Asylsystem in der vereinbarten Weise verbessern könne und wolle. Neben diesen technischen Fragen erörtert der Autor zudem die Eingeständnisse, die die EU an die Türkei gemacht habe. Er kommt zum Ergebnis, dass das Abkommen ein wichtiges Element zwischen der EU und der Türkei sei, um die irreguläre Einwanderung zu stoppen. Ob damit die derzeitige Krise gelöst werden kann oder sich dies als eine geeignete Reaktion auf die Situation der Schutzsuchenden darstellt, bezweifelt der Autor. Allein die Tatsache, dass es in der derzeitigen Lage in Europa überhaupt zu einer Vereinbarung zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Türkei gekommen sei und die EU dabei keine Einschnitte bei ihren Grundprinzipien gemacht habe, bezeichnet der Autor als Fortschritt. Auf dieser Grundlage müsse nun aufgebaut und nach einer umfassenden sowie langfristigen Lösung gesucht werden, sodass die Krise dau-erhaft überwunden werden könne.

Im Mittelpunkt der Analyse von Stefan Lehne von Carnegie Europe steht die Frage, wie die Krise in der Migrationspolitik und die Debatte um die Flüchtlinge die Europäische Union verändern wird. Dabei geht er zunächst den Gründen nach, warum die Europäische Union bisher daran gescheitert sei, mit der Flüchtlingssituation und den damit verbundenen Herausforderungen umzugehen. Unter der Annahme, dass die Migrationsströme in naher Zukunft nicht abnehmen werden, stellt der Autor dieses Thema als „make-or-break issue“ für die Europäische Union dar und identifiziert diese Krise als richtungsweisend für die künftige Zusam-menarbeit in der EU. Er sieht drei verschiedene Szenarien: (1) Eine weniger enge Union und damit weniger Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, (2) eine Union mit stark engagierten „Kernstaaten“ oder (3) eine insgesamt stärker integrierte Europäische Union. Letztendlich gibt es für den Autor keine ernsthafte Alternative zum letzten Ansatz, der, wenn richtig verfolgt, zu einer stärkeren, resistenteren und reaktionsfähigeren Union führen könne.

EPC (19.02.2016): “Europe's refu-gee/migrant crisis: can 'illiberal' Turkey save 'liberal Europe' while helping Syrian refugees?”

CEPS (22.02.2016): “Rethinking Migration Distribution in the EU: Shall we start with the facts?”

EPC (21.03.2016): “Elements of a complex but still incomplete puzzle: an assessment of the EU(-Turkey) summit / Post-Summit Analysis”

Carnegie Europe (04.02.2016): “How the Refugee Crisis Will Reshape the EU”

2.Sicherheit

Nach den Pariser Anschlägen im November 2015 rückte das Thema Sicherheit wieder verstärkt in den Fokus der Europäischen Institutionen und der Brüsseler Denkfabriken. Durch die Verknüpfung des Themas mit der Flüchtlingsdebatte wurde schnell die Angst verbreitet, unter den Flüchtlingen könnten IS-Kämpfer unbemerkt auf europäisches Territorium gelangen, um hier Anschläge zu verüben.

Dieses Vorurteil versuchen Marco Funk und Roderick Parkes in ihrem Artikel „Refugees versus terrorists“ vom European Union Institute for Security Studies (EUISS) zu widerlegen. Zwar identifizieren sie dabei die Flüchtlingsströme als geeignetes Mittel für potenzielle IS-Terroristen, um unbeobachtet nach Europa zu gelangen. Doch in Anbetracht der Schwierigkeiten, Kosten und Gefahren dieser Route, halten die Autoren die massenhafte Einreise von IS-Terroristen über diesen Weg für unwahrscheinlich. Ihrer Meinung nach gehe die größere Gefahr von aus Europa stammenden Islamisten aus, die sich zunächst dem IS in Syrien und dem Irak anschließen und dann sowohl radikalisiert als auch mit militärischen Kenntnissen ausgestattet in die EU zurückkehren. Zudem illustrieren die Autoren die Beziehung zwischen dem IS und den Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten als zunehmend ambivalent. Einerseits instrumentalisiere der IS die erhöhten Flüchtlingsströme, um die politische Lage zu verschärfen und dadurch eine ablehnende Haltung in Europa gegenüber der muslimischen Bevölkerung hervorzurufen. Andererseits sehe die Terrormiliz die Flüchtlinge aber auch als Verräter an. Die Autoren kommen zu dem Fazit, dass es weniger die Neuankömmlinge in Europa seien, die terroristische Aktionen planen und durchführen, sondern eher Einwanderer der zweiten oder dritten Generation. Von diesen kommen Einige nach ihrem Aufenthalt in Syrien vollkommen desillusioniert wieder nach Europa zurück. Insbesondere diese Rückkehrer wären eine geeignete Zielgruppe staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung von Radikalisierung.

Sophie Heine erörtert für das Egmont Royal Institute for International Relations, wie vor dem Hintergrund des Terrors in Europa die innere Sicherheit wieder hergestellt werden kann, ohne hierfür Grundfreiheiten aufs Spiel zu setzen. Die Autorin bezeichnet dabei das Recht auf Sicherheit als eines der ersten Rechte, welches Staatsbürgern garantiert werde. Die staatliche Gewährung der Sicherheit sei das bezeichnende Merkmal und die Grundlage der nationalstaatlichen Souveränität. Das Zersetzen der staatlichen Souveränität, u.a. durch die europäische Integration, habe hier eine Lücke geschaffen, die nun insbesondere im Angesicht der aktuellen Bedrohungen gefüllt werden müsse. Da sich nationale Instrumente als ineffizient erwiesen, sollen laut Heine geeignete Maßnahmen auf europäischer Ebene getroffen werden. Als Beispiel führt sie die Schaffung von europäischem Militär, Polizei, Grenzschutz und Nachrichtendienst an. Eine verstärkte Zusammenarbeit und Integration in der EU müsse allerdings mit einer Demokratisierung des Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesses einhergehen. Damit ruft die Autorin letztendlich zu einer Reform der EU auf, die die entscheidenden Kompetenzen zur inneren Sicherheit betreffen, eine europäische Souveränität auf diesem Gebiet herstellen und so den Schutz der Bürger garantieren soll.

EUISS (29.01.2016): “Refugees versus terrorists”

Egmont (21.01.2016): “How can we enhance our security without damaging our liberty?”

3.Großbritannien und die EU

Die Forderung Großbritanniens nach Reformen innerhalb der EU und die ablehnende Haltung der Briten gegenüber einer weiteren europäischen Integration, waren bestimmende Themen in den ersten Monaten des Jahres. Diese Debatte erreichte ihren bisherigen Höhepunkt im Zuge des europäischen Ratsgipfels am 18. und 19. Februar 2016. Hierzu wurden von den verschiedenen Brüsseler Think Tanks Einschätzungen über die Ergebnisse dieses Treffens sowie mögliche Zukunftsszenarien getroffen.

In einem anlässlich des Februar-Ratsgipfels verfassten „Post-Summit Commentary“ des European Policy Centre (EPC) beurteilte der Vorstandsvorsitzende des EPC Fabian

Zuleeg den Gipfel und dessen Resultate. Die Eingeständnisse der 27 EU-Mitgliedstaaten bezeichnet er dabei als wenig überraschend, da ein sog. Brexit mit hohen politischen und wirtschaftlichen Kosten verbunden sei, die die Europäische Union derzeit nicht tragen könne. Laut Zuleeg wird die aufkommende Debatte nun von den Befürwortern des „Brexit“ auf die Misserfolge der sog. Migrationskrise gelenkt, während die Gegner die wirtschaftlichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft betonen werden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass in der heutigen Zeit, trotz aller Schwächen der Union, ein Alleingang Großbritanniens keine ernsthafte Alternative darstellen kann. Der Ausgang des Referendums wäre aufgrund externer und interner Faktoren sowie des Momentums unvorhersehbar, es sei aber mit regionalen Unterschieden zu rechnen. Unabhängig vom Ergebnis solle sich in der EU nun aber generell mit Reformen und einer langfristigen Strategie für die weitere Vision auseinandergesetzt werden.

Der Frage, was die Alternative Großbritanniens zur EU-Mitgliedschaft wäre, widmet sich das Arbeitsdokument „The Final Brexit Question“ des Centre for European Policy Studies (CEPS). Michael Emerson unternimmt hier den Versuch, drei verschiedene Möglichkeiten eines „Plan B“ vorzustellen, nachdem „Plan A“, also die Bedingungen für den Verbleib in der EU, nun bekannt sei. Der erste, der sog. Plan B.1, sieht einen „clean break“ vor, also die sofortige Auflösung aller derzeit geltenden Verträge zwischen Großbritannien und der EU. Nicht nur würde diese Entscheidung eine große Rechtslücke hinterlassen, sondern wäre zudem mit solch immensen wirtschaftlichen Nachteilen für Großbritannien verbunden, dass der Autor diese Lösung im Endeffekt als undenkbar bezeichnet. Plan B.2 schlägt vor, dass Großbritannien zwar die EU verlässt, dennoch Teil des Binnenmarktes oder der Zollunion bleibt, da diese die wichtigsten Vorteile beinhalten. Das „Norwegische Modell“, also der Verbleib im Europäischen Wirtschaftsraum, ist dabei wahrscheinlicher, würde aber weiterhin den freien Verkehr von Gütern, Dienstleistungen und Kapital, aber eben auch Personen bedeuten. Dieser Ansatz könnte zwar die wirtschaftlichen Konsequenzen für Großbritannien dämpfen, dennoch müsste man sich damit zufrieden geben, Personen frei verkehren zu lassen und sich an EU-Recht zu halten, ohne dabei

ein Mitspracherecht zu haben – entscheidende Punkte, denen eigentlich durch den EU-Austritt aus dem Weg gegangen werden sollte.

Der Plan B.3 beinhaltet die Möglichkeit, dass Großbritannien nach dem EU-Austritt neue Verträge mit der EU und der restlichen Welt aushandelt. Der Autor beschreibt dies als schwierig und zeitaufwändig, nicht zuletzt aufgrund des Widerstands der restlichen EU-Staaten, den der Austritt auslösen würde. Diese würden nicht akzeptieren, dass sich Großbritannien nur das Beste aus den Verträgen herauspicken möchte. Auch außerhalb der Union sieht er die Neuverhandlungen problematisch, da einerseits bereits bestehende internationale Handelsverträge für Großbritannien erlöschen würden, die es so schnell wie möglich neu zu verhandeln oder von der EU zu kopieren gilt. Andererseits würden die in Verhandlung stehenden Verträge, wie TTIP, entgegen der Vermutung vieler Befürworter des Austritts auch nicht schneller verhandelt werden, wodurch auch hier ein Vorteil durch die Abspaltung eher unwahrscheinlich ist. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass alle dargelegten Szenarien keine wirkliche Alternative für die derzeitige Lage darstellen. Großbritannien habe bereits eine Sonderrolle in der EU. Ein „Brexit“ wäre nicht nur mit immensen Kosten verbunden, sondern würde zudem dazu führen, dass Großbritannien weltweit erhebli chen Einfluss verlieren und letztendlich auch das eigene Bestehen gefährden würde, da die Debatte um die Unabhängigkeit Schottlands neuen Schwung gewinnen könnte.

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Kirsty Hughes von Friends of Europe. Sie vertritt die Meinung, eine Trennung von der EU könne die Diskussion um die Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands erneut entfachen. In ihrem Diskussionspapier „Scotland and Brexit“, welches sie im Januar, also noch vor dem Februar-Ratsgipfel, verfasste, illustriert sie ausführlich unterschiedliche Szenarien für Großbritannien im Falle eines positiven Votums für einen EU-Austritt. Grundsätzlich würde dies eine Politik- und Verfassungskrise in Großbritannien auslösen, deren Folgen und Ausmaße kaum eingeschätzt werden können. Die Optionen, die sich daraufhin für Schottland ergeben, welches im Gegensatz zu England eine starke proeuropäische Position vertrete, summiert sie auf vier Möglichkeiten: (1) Schottland verlässt mit dem restlichen Königreich die EU (2) Schottland strebt gleich zu Beginn des Austrittsprozesses ein zweites Unabhängigkeitsreferendum an (3) Schottland versucht, gegen den „Brexit“ auf

rechtlichem Wege vorzugehen und (4) Schottland bleibt Teil Großbritanniens, verhandelt aber einen speziellen Vertrag mit besonderen Regeln mit der EU. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sich die Diskussion um die mögliche schottische Unabhängigkeit als unkomplizierter erweisen würde, wenn Großbritannien gegen den Austritt aus der Union stimmen sollte.

Wie sich die künftigen Entwicklungen auf die Beziehung zwischen Großbritannien und Schottland auswirken werden, bleibt abzuwarten.

EPC (22.02.2016): “Brexit averted through EU reform?”

CEPS (23.02.2016): “The Final Brexit Question: The known Plan A to remain or the unknown Plan B to leave”

Friends of Europe (11.02.2016): „Scot-land and Brexit: shockwaves will spread across EU”

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