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Kreisauer Kreis verfasst Entwurf über die Neuordnung Deutschlands

Die führende Gruppe des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus entwarf Pläne zur politisch-gesellschaftlichen Neuordnung nach der Hitler-Diktatur. Mit manchen ihrer Vorstellungen für eine Nachkriegsordnung legten sie nach dem Krieg wichtige Grundlagen für den Wiederaufbau, andere Ideen konnten sie jedoch nicht gegen den nun entstehenden parlamentarischen Parteienstaat durchsetzen.

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Seit 1940 sammelten sich um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg NS-Gegner aus verschiedenen politisch-weltanschaulichen Lagern, um die Neuordnung nach dem Sturz Hitlers vorzubereiten. Neben weiteren Vertretern aus Adelsfamilien (Adam von Trott zu Solz, Hans Bernd von Haeften, Carl Dietrich von Trotha, Horst von Einsiedel, Otto Heinrich von der Gablentz) umfasste der innere Kreis aktive Sozialdemokraten (Adolf Reichwein, Theodor Haubach, Carl Mierendorff, Julius Leber) sowie Vertreter der evangelischen Kirche (Harald Poelchau, Theodor Steltzer, Eugen Gerstenmaier) und der katholischen Kirche (die Jesuiten Augustin Rösch, Lothar König und Alfred Delp sowie die früheren Mitglied der Zentrumspartei Hans Peters, Hans Lukaschek und Paulus van Husen).

 

Neuordnungspläne für Deutschland und Europa

Neben regelmäßigen Treffen in Berlin fanden 1942/43 drei größere Tagungen auf Kreisau, dem Gut Moltkes in Schlesien, statt. Befruchtet von jugendbewegt-reformkonservativem und religiös-sozialistischem Geist, erstrebte der Kreisauer Kreis eine tiefgreifende, ethisch fundierte Wende auf der Basis des Christentums. Jenseits eines enthemmten Liberalismus des Westens und des Zwangskollektivismus des Ostens suchte man eine gerechte, menschenwürdige Ordnung in neuer Synthese von Freiheit und Bindung des Individuums („dritte Idee“, Delp). Der Verfassungsaufbau sollte, geprägt von Subsidiarität und Selbstverwaltung in „kleinen und überschaubaren Gemeinschaften“, organisch von unten nach oben gegliedert sein. Träger der geistig-sittlichen Neuordnung sollten nicht Parteien, sondern vor allem Kirchen und Arbeiterschaft sein. Für die Wirtschaft war ein staatlich „geordneter Leistungswettbewerb“ vorgesehen, mit harmonisierendem Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Außenpolitisch zielte man auf eine rasche europäische Einigung (Europaidee).

 

„Die letzte Bestimmung des Staates ist es daher, der Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Dann ist es ein gerechter Staat.“ (Helmuth James Graf von Moltke an Peter Graf Yorck von Wartenburg).

 

In den auf den 9. August 1943 datierten „Grundsätzen für die Neuordnung“ wurden die großen Linien des Kreisauer Programms vorgestellt, die als Basis für eine neue Verfassung dienen sollten. Das Dokument stellt den umfassendsten Neuordnungsentwurf dar, der durch deutsche NS-Gegner im Verborgenen erarbeitet worden ist. Unter Bezug auf das Christentum sollten sieben Forderungen die Grundlage der Erneuerung und eines dauerhaften Friedens bilden: Zu Beginn wurden die Wiederherstellung des Rechtsstaats sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit unter Anerkennung der unverletzlichen Würde des Menschen gefordert. Zudem wurde allen Menschen das Recht auf Arbeit und Eigentum zugesprochen. Die Kernzelle des Zusammenlebens sollte die Familie darstellen. An die Stelle von Befehl und Gehorsam sollten Selbstbestimmung, politisch-gesellschaftliche Verantwortung und Mitwirkung im Betrieb stehen. Statt für die Wiederherstellung einzelner staatlicher Souveränitätsrechte traten die Kreisauer für die Gründung einer friedensstiftenden Völkergemeinschaft ein.

Für die künftige Staatsform gaben die Mitglieder des Kreisauer Kreises keine Empfehlung ab, betonten aber die Notwendigkeit, eine Staatsautorität herzustellen. Ihre Vorstellungen waren geprägt von der Ablehnung eines autoritären Staates einerseits und dem Misstrauen gegenüber einer parlamentarischen Demokratie Weimarer Prägung andererseits, deren Scheitern sie noch klar vor Augen hatten.

 

Mitbegründer der CDU

Die Kerngruppe des Kreises war zugleich an den Umsturzvorbereitungen gegen das NS-Regime beteiligt. Neben der Militäropposition und der zivilen Führungsgruppe um Carl Goerdeler knüpfte der Kreisauer Kreis geheime Verbindungen ins neutrale und besetzte Ausland sowie zu den Alliierten. Nach der Verhaftung Moltkes im Januar 1944 waren die verbliebenen Mitglieder großenteils eingebunden in die Vorarbeiten zum Staatsstreich des 20. Juli 1944. Nach dessen Scheitern wurden Moltke, Yorck, Trott, Haeften, Reichwein, Haubach, Leber und Delp hingerichtet.

Die Überlebenden engagierten sich beim Neuaufbau nach 1945 mehrheitlich in der CDU: Gablentz, Steltzer, Lukaschek und Husen gehörten zu den Mitgründern in Berlin. In ihrem politisch integrativen, christlich-sozialreformerischen Anspruch nahm die frühe CDU wesentliche Anliegen des Kreisauer Kreises auf. Hohe Ämter als CDU-Politiker erlangten Steltzer, Lukaschek und Gerstenmaier.

Indes kritisierten in der Ära Adenauer ehemalige Kreisauer (Steltzer, Gablentz u.a.) den Kurs der Union als einseitig konservativ. Bei den Beratungen zum Grundgesetz 1948/49 waren die Ideen des Kreisauer Kreises zur Verfassung und Wirtschaftsordnung kaum zum Zuge gekommen. Konzeption und Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft waren stärker vom Erbe des Freiburger Kreises geprägt als von den Gedanken des Kreisauer Kreises. Auch war die Etablierung der parlamentarischen Demokratie mit einer starken Stellung der Parteien nicht im Sinne der Kreisauer. Mit ihrem Einsatz für Rechtsstaatlichkeit, Föderalismus und europäische Zusammenarbeit sowie der Forderung, den Menschen als Mittelpunkt der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systeme zu betrachten, leisteten die ehemaligen Mitglieder des Kreisauer Kreises allerdings einen wertvollen Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik Deutschland.

Wilhelm E. Winterhager, ergänzt von Judith Michel.

 

Literatur:

  • Bleistein, Roman (Hg.): Dossier Kreisauer Kreis: Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1987.
  • Brakelmann, Günter: Der Kreisauer Kreis als christliche Widerstandsgruppe, in: Ders./Keller, Manfred (Hg.): Der 20. Juli 1944 und das Erbe des deutschen Widerstandes, Münster 2005, S. 67–85.
  • Brakelmann, Günter: Helmuth James von Moltke 1907–1945. Eine Biographie, München 2007.
  • Brakelmann, Günter: Peter Yorck von Wartenburg, 1904–1944. Eine Biographie, München 2012.
  • Geyken, Frauke: Freya von Moltke. Ein Jahrhundertleben, 1911–2010, 3. Auflage, München 2014.
  • Karpen, Ulrich (Hg.): Der Kreisauer Kreis: Zu den verfassungspolitischen Vorstellung von Männern des Widerstandes um Helmuth James Graf von Moltke, Heidelberg 1996.
  • Karpen, Ulrich: Deutschland und Europa: Das Staatsrecht in den Plänen des Kreisauer Kreises, in: Historisch-Politische Mitteilungen 1 (2007), S. 4565.
  • Moltke, Helmuth James Graf von: Briefe an Freya: 1939–1945, 2. Auflage, München 1991.
  • Mommsen, Hans: Der Kreisauer Kreis und die künftige Neuordnung Deutschlands und Europas, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42/3 (1994), S. 362377.
  • Mommsen, Hans: Gesellschaftsbild und Verfassungspläne im deutschen Widerstand gegen Hitler, in: Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der Jüngeren Geschichte der Deutsch-Russischen Beziehung 3 (2008), S. 178–186.
  • Ullrich, Volker: Der Kreisauer Kreis, Reinbek bei Hamburg 2008.
  • Van Roon, Ger: Neuordnung im Widerstand: Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967.
  • Winterhager, Wilhelm Ernst: Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe, Mainz 1985.

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