Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem deutschen Angriff auf Polen. Über fünf Jahre Besatzung brachten unermessliches Leid über die Bevölkerung, die nicht nur Zerstörung und Ausplünderung ausgesetzt war, sondern von den ersten Tagen der Okkupation an auch einem Mordprogramm. Von drei Millionen getöteten Jüdinnen und Juden ist auszugehen, seriöse Schätzungen der Zahl ermordeter ethnischer Polinnen und Polen liegen zwischen 500.000 und 1,4 Millionen, wozu außerdem hunderttausende Angehörige weiterer Ethnien des multinationalen Landes kommen.
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Schon diese Opferstatistik zeigt, dass die Forschungslage auch 80 Jahre nach Kriegsende unbefriedigend ist; sie zeigt außerdem, dass wir wesentlich mehr über den Holocaust als über die nichtjüdischen Toten der deutschen Vernichtungspolitik wissen. Nach 1945 dominierte in Deutschland allerdings die Erinnerung an Flucht und Vertreibung: Weil die Alliierten beschlossen hatten, Polen als Teil der Reparationen die preußischen Landesteile Schlesien, Neumark und Pommern zu übertragen, mussten rund fünf Millionen Deutsche diese Gebiete verlassen; aus West- und Zentralpolen, wo es deutsche Minderheiten gegeben hatte, sowie aus Ostpreußen, das zwischen Sowjetunion und Volksrepublik Polen geteilt wurde, stammten weitere etwa 2,5 Millionen.
Die eigenen Opfer und die der anderen
Das Schicksal der Vertriebenen, verbunden mit einer manchmal schwierigen Integration in der neuen Heimat, bestimmte in den ersten Nachkriegsdekaden den Blick auf die gemeinsame deutsch-polnische Vergangenheit – und ging oft mit dem Anspruch einher, die neue Grenze an Oder und Neiße zu revidieren. Die Erinnerung an die mörderische Besatzungspolitik pflegten vor allem Opferorganisationen wie die VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes), die teils kommunistisch unterwandert waren. Vertriebene wie Verfolgte einte die Ignoranz gegenüber dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der nicht nur in den ersten beiden Kriegsjahren zu einer geteilten Okkupation Polens geführt, sondern bereits die nach 1945 gültige Ostgrenze des Nachbarlandes festgeschrieben hatte. Dass auch Polinnen und Polen Opfer von Flucht und Vertreibung geworden waren – tatsächlich ja schon unter deutscher Herrschaft – fiel weitestgehend unter den Tisch und ist bis heute in unseren Geschichtsdiskursen kaum präsent.
Die justizielle Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den ersten Nachkriegsjahren brachte jenseits der Nürnberger Prozesse vor allem Verfahren wegen deutscher Opfer. Die von den Alliierten in Nürnberg oder Polen verurteilten Täter wie Hans Frank oder Arthur Greiser, die im Generalgouvernement und in Danzig-Westpreußen geherrscht hatten, fanden in Bundesrepublik und DDR kaum Beachtung.
Das galt auch für das 1947 in Krakau durchgeführte Verfahren zum Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Erst der zwischen 1963 und 1966 verhandelte Frankfurter Prozess gegen Personal aus jenem Lager rief einige Aufmerksamkeit hervor und stand am Anfang einer Dekade der justiziellen Aufarbeitung des Holocaust, bei der auch andere Mordstätten wie Treblinka, Bełżec oder Sobibór erstmals überhaupt ins Bewusstsein der Deutschen rückten. Der Westen hob sich hier sehr deutlich von der DDR ab, wo die umfangreichen Ermittlungen insbesondere der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg keine Entsprechung hatten.
Allerdings war auch in der Bundesrepublik der Fokus ganz klar auf die Verbrechen der Shoah gerichtet, während es beispielsweise zu keinerlei Untersuchungen der Taten der SS-Einsatzgruppen in Polen 1939 kam, die annähernd 60.000 Tote – in der ganz überwiegenden Mehrzahl ethnische Polen – zu verantworten hatten. Demgegenüber waren ihre um den Faktor 15 gesteigerten Exzesse in der besetzten Sowjetunion, die Teil des Holocaust waren, bereits in einem Nürnberger Nachfolgeprozess sowie 1958 in Ulm verhandelt worden. Zu diesem einseitigen Blick passten auch Verfahren wie dasjenige gegen Karl Eimann, dessen Einheit 1939 in der Kaschubei in der Nähe von Danzig etwa 10.000 Menschen erschossen hatte; verurteilt wurde er 1968 allerdings nur für die Morde an 1.200 Insassinnen und Insassen von Psychiatrieanstalten aus dem deutschen Teil Pommers, während die Tötung der polnischen und kaschubischen Eliten keine Berücksichtigung fand.
Vermutlich war die Zeit noch nicht reif für eine Debatte um die deutsche Schuld. Die sogenannte Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands von 1965, die explizit davon sprach, traf jedenfalls auf viel Kritik, weil sie zugleich eine Reflexion über eine mögliche Permanenz der Oder-Neiße-Linie anregen wollte. Das war für weite Teile der deutschen Gesellschaft noch nicht vorstellbar, weshalb auch Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau – vor dem Denkmal für die Heldinnen und Helden des Aufstands im dortigen Ghetto 1943 – stark kritisiert wurde. Schließlich ging seine Geste mit einer neuen Ostpolitik einher, die nicht zuletzt in der Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze bestand.
Wiedergutmachung und Reparationen
Im Zuge der Annäherung von Bonn und Warschau kam es erneut zu Wiedergutmachungszahlungen. 1960/61 waren unter Konrad Adenauer erstmals humanitäre Leistungen für die Opfer pseudomedizinischer Experimente geflossen, die die Brandt-Regierung nun ausweitete und zudem mehrere hundert Millionen Mark für polnische Rentenansprüche überwies, was schon zeitgenössisch als eine verdeckte Reparation galt. Seitdem ist der Gesamtumfang der Leistungen stetig gewachsen: 1980 wurde ein Hilfsfonds für jüdische Polinnen und Polen eingerichtet und im Rahmen des Deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags von 1991 oder bei den Entschädigungen für Zwangsarbeit flossen weitere Gelder. Mit etwa 90 Prozent nehmen den größten Anteil der deutschen Leistungen aber die Abtretungen der ehemaligen deutschen Ostgebiete ein. Rechnet man das alles zusammen, erhält man einen Zeitwert (2023) von über 187 Milliarden Euro. Eine große Summe, aber doch nur ein kleiner Teil der bereits von den Alliierten berechneten Reparationsschuld von 1,4 Billionen Euro nach heutiger Kaufkraft. Freilich sind diese gut 13 Prozent tatsächlich sogar minimal mehr als der Durchschnitt der sonstigen Reparationen, also durchaus vergleichbar mit dem, was andere Länder erhalten haben.
In den 1970er Jahren nahm die westdeutsche Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus spürbar an Fahrt auf. Dank zivilgesellschaftlicher Initiativen entstanden immer mehr Gedenkstätten, die aufgrund ihrer geographischen Lage allerdings vorwiegend zu Opfern bzw. Verbrechen in Deutschland arbeiteten. Die Aufmerksamkeit für Taten und Tatorte im östlichen Europa, hinter dem Eisernen Vorhang, blieb gering. Einzige nennenswerte Ausnahme war die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, die in jenen Jahren bereits ein Netzwerk mit Auslandskontakten und -reisen aufbaute, die insbesondere nach Polen führten, und gegen viele Widerstände hüben und drüben 1986 sogar eine internationale Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz eröffnen konnte.
Mit einigen Schwierigkeiten war die Aktion Sühnezeichen auch in der DDR aktiv. Dort durften die Projekte nach dem Mauerbau nicht mehr in den Westen gehen, weshalb der Fokus noch mehr auf Lagern in Polen wie Stutthof, Majdanek, Groß-Rosen und Auschwitz lag. Gleichwohl war das Interesse Ostberlins an seinem Nachbarn und der gemeinsamen Geschichte gering, denn die DDR lehnte jegliche Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen ab und interpretierte sie hauptsächlich imperialistisch-faschistisch, was die genuin antisemitischen und antipolnischen Spezifika der Besatzung verwischte.
Aufbruch nach der Wende
Der Mauerfall brachte eine Wende in jeder Beziehung – das galt auch für die deutsch-polnische, die Helmut Kohl und der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki mit dem erwähnten Nachbarschaftsvertrag auf neue Beine stellten und bereits 1989 in einer Versöhnungsmesse auf dem im heutigen Krzyżowa gelegenen ehemaligen Gut der Widerstandskämpfer Helmuth und Freya von Moltke zelebrierten. Dieser politische Aufbruch hatte jedoch keine Entsprechung in der Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte. Das wurde allgemein nicht für nötig gehalten, lag doch eine verheißungsvolle europäische Zukunft in der Luft.
Deutschland wie Polen beschäftigten sich in diesen Jahren stark mit der Shoah. Dazu hatten hierzulande Filme wie Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ oder die Auseinandersetzung um das Holocaustmahnmal beigetragen, während es jenseits der Oder um den eigenen Anteil an jenem Menschheitsverbrechen ging und beispielsweise über Jedwabne, ein kleines ostpolnisches Städtchen, in dem 1941 polnische Einwohner ihre jüdischen Nachbarn massakriert hatten, gestritten wurde. Die auch in Deutschland etwa anlässlich der Wehrmachtsausstellungen stattfindende Debatte um eigene Schuld führte nur teilweise zum Schließen existierender Lücken im Wissen über andere verfolgte Gruppen und über die an ihnen verübten Verbrechen im östlichen Europa.
So verwechselte noch 1994 Bundespräsident Roman Herzog bei einem Interview vor seinem Besuch in Polen die beiden Warschauer Aufstände von 1943 und 1944. Bis heute ist derjenige im Warschauer Ghetto 1943 bekannter, selbst wenn deutsch-polnische Ausstellungsprojekte in den letzten Jahren auch Aufmerksamkeit für die Ereignisse 1944 geschaffen haben. Zu nennen ist hier außerdem Jochen Böhlers Ausstellung aus dem Jahr 2005 über die Verbrechen der Wehrmacht in Polen 1939, die mehr als zehn Jahre an verschiedenen Orten in Deutschland gezeigt wurde. Aber der Fokus der deutschen Wissenschaft in Bezug auf das östliche Europa im Zweiten Weltkrieg war ganz eindeutig auf den Holocaust und die jüdischen Opfer und vor allem die deutschen Täter gerichtet. Das trifft ganz ähnlich für die deutsche Politik zu, weshalb die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau mit zwei Mal 60 Millionen Euro in den Jahren 2016 und 2020 bedacht wurde. Doch das ist die Ausnahme, die Pflege der zahlreichen anderen Tatorte der deutschen Massenverbrechen in Polen obliegt dem Land selbst; Berlin fördert lediglich in Ausnahmefällen zeitlich befristete Projekte.
Das gilt trotz sinnstiftender Institutionen wie dem Deutschen Historischen Institut in Warschau oder seinem Pendant der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Pankow, die herausragende wissenschaftliche Studien zu Polen vorlegten. Zwar fördern die in Krzyżowa eingerichtete Jugendbegegnungsstätte genauso wie das Deutsch-Polnische Jugendwerk, die Stiftung Deutsch-Polnische Aussöhnung oder die Stiftung Deutsch-Polnische Zusammenarbeit den Austausch und die Verständigung, aber das Wissen über den Nachbarn und seine Geschichte verharrt auf niedrigem Niveau. Ein Grund dafür ist sicherlich in der mangelnden Berücksichtigung des Themas in den schulischen Lehrplänen zu suchen. Exemplarisch dafür steht das gemeinsame deutsch-polnische Schulbuch, das nach vielen Jahren harter Arbeit Anfang der 2020er vorlag, aber bislang nur individuell zur Unterrichtsvorbereitung, nicht jedoch für ganze Klassen genutzt wird.
Neue Herausforderungen
Ein Regierungswechsel in Polen von der pro-europäischen Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten und späteren europäischen Ratspräsidenten Donald Tusk hin zur deutschland- und europakritischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ zeigte nach 2015, dass die Aussöhnung der beiden Länder doch nicht so weit war, wie gedacht und erhofft. Getragen von einer ungebrochenen Geschichtsbegeisterung entstanden in Polen zahlreiche neue Museen, die eine nationalkonservative Sicht auf die Vergangenheit mit einer Betonung auf Helden und Opfer propagieren und insbesondere die Zeit zwischen 1939 und 1945 thematisieren. Diese Entwicklungen des historischen Diskurses wurden in Deutschland wissenschaftlich intensiv rezipiert, aber dem entsprach keine auch nur annähernd intensive Beschäftigung mit der Besatzungszeit selbst. Und so fehlt hierzulande schlicht das Bewusstsein dafür, dass es im Grunde in jeder polnischen Familie Tote, Zwangsarbeiterinnen bzw. Zwangsarbeiter, Umgesiedelte oder sonstige Opfer der deutschen Gewalt gab.
Sicherlich ist das Ausdruck eines asymmetrischen Verhältnisses, das sich etwa wirtschaftlich, touristisch oder in Fragen der Arbeitsmigration zeigt. In Warschau und in weiten Teilen der polnischen Bevölkerung wird es als Ignoranz und Nicht-Wissen-Wollen wahrgenommen. Aufbauend auf diese kritische Sichtweise – und auch, um davon innenpolitisch zu profitieren –, legte Warschau 2022 eine Bilanz der durch das Deutsche Reich verursachten materiellen Schäden vor, die wiederum Grundlage für eine offizielle Note über die Notwendigkeit von Reparationen war. Berlin lehnte diese Forderungen ab und freute sich über den Regierungswechsel 2023 zurück zu Donald Tusk, für den Reparationen keine Priorität haben.
Doch in der sich in zwei unversöhnlichen Lagern gegenüberstehenden polnischen Gesellschaft bleiben Geschichte und Geschichtspolitik auf der Agenda, sodass sich die Schwerpunkte der historischen Debatte in Polen in der näheren Zukunft nicht ändern dürften. „Recht und Gerechtigkeit“ hat mit ihren Themensetzungen das Klima auch dadurch schwer belastet, indem sie das innerpolnische Freund-Feind-Denken auf die Zusammenarbeit mit Partnern in Deutschland übertragen hat. Die hierzulande dominierende Ablehnung von Themen und Projekten, die in Polen als förderungswürdig galten – und umgekehrt –, führte zu wechselseitigen selektiven Wahrnehmungen.
Umso wichtiger ist die 2017 entstandene Initiative für den Bau eines sich zu einem Deutsch-Polnischen Haus entwickelnden Polen-Denkmals, das die gemeinsame Geschichte in einen weiten Zeitraum einordnen, zugleich aber einen klaren Schwerpunkt auf den Zweiten Weltkrieg legen will. Die deutsche Diplomatie sah sich in jener Zeit bereits mit einer deutschlandfeindlichen polnischen Außenpolitik konfrontiert, die öffentlich Reparationsforderungen ins Spiel brachte, sodass Überlegungen eines proaktiven, symbolischen Handelns in Berlin nicht fernlagen.
Dennoch handelt es sich hierbei um ein notwendiges Projekt – selbst, wenn die Bundesrepublik für Deutsche baut und es keine binationale Veranstaltung ist –, denn es kann zum gemeinsamen Nachdenken über die Vergangenheit unter Einbeziehung auch unliebsamer Perspektiven beitragen. Das ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil die russische Aggression gegen die Ukraine seit 2014, die seit der Ausweitung 2022 auch in den westeuropäischen Staaten als Krieg interpretiert wird, zeigt, wie wenig wir eigentlich über unsere Nachbarn im Osten wissen – und wie sehr deren Perspektiven für uns Bedeutung haben können.
Stephan Lehnstaedt ist Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien an der Touro University Berlin.
Literatur:
- Bingen, Dieter / Lengemann, Simon (Hrsg.): Deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939 – 1945. Eine Leerstelle deutscher Erinnerung? Bonn 2019.
- Hahn, Hans Henning /Traba, Robert (Hrsg.): Deutsch-polnische Erinnerungsorte. 5 Bände. Paderborn 2015.
- Lehnstaedt, Stephan (Hrsg.): Schuld ohne Sühne? Deutschland und die Verbrechen in Polen im Zweiten Weltkrieg. Berlin 2021.
- Roth, Karl Heinz /Rübner, Hartmut: Verdrängt – Vertagt – Zurückgewiesen. Die deutsche Reparationsschuld am Beispiel Polens und Griechenlands. Berlin 2019.