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Essay

Terror als politisches Prinzip

von Prof. Barbara Zehnpfennig

Zur Geburt von Wladimir Iljitsch Lenin in Simbirsk am 22. April 1870

Die Geschichte wird es uns nicht verzeihen, wenn wir jetzt die Macht nicht ergreifen.“ Lenins revolutionäre Umgestaltung Russlands und die Folgen. Ein Essay anlässlich des 150. Geburtstages von Lenin.

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Als sich Lenin an die Spitze der Revolution in Russland setzte, mochte er glauben, im Sinne der von Marx und Engels propagierten geschichtlichen Notwendigkeit zu handeln. Tatsächlich bedeutete sein Eingriff in das Geschehen einen gewaltsamen Bruch mit allem Überkommenen und auch mit jenen Entwicklungen, die sich nach der Revolution von 1905 und der Februarrevolution von 1917 ergeben hatten. Doch auch wenn er sich als Vollstrecker eines geschichtlichen Auftrags sah, scheint es eher sein Machtwille gewesen zu sein, dem er in äußerster Unbedingtheit und Unnachgiebigkeit folgte. Denn immerhin setzte er sich mit seinem Versuch, den Sozialismus in einem industriell unterentwickelten Land durchzusetzen, großzügig über die Marxsche Theorie hinweg, dass der Sozialismus erst nach Vollendung des Kapitalismus aufgebaut werden könne. Außerdem müsste sich die Geschichte, hätte sie gerade Lenin mit ihrer Mission betraut, fragen lassen, wieso sie ein angeblich so hehres Menschheitsanliegen wie die Schaffung der sozialistischen Gesellschaft mit solcher Unmenschlichkeit herbeiführen wollte, wie Lenin sie institutionalisierte und förderte. Lenin hat die Geschichte verändert, zweifellos. Dass er es in ihrem Sinne tat, lässt sich allerdings mit Fug und Recht bezweifeln.

 

Theoretiker der Revolution

Wie wurde Lenin, der eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow hieß, zum Revolutionär? Das prägende Erlebnis des am 22. April 1870 als Sohn eines in den Adelsstand erhobenen Gouvernementsinspektors geboren Lenin, war wohl 1887 die Hinrichtung seines Bruders Alexander, der an einer Verschwörung zur Ermordung von Zar Alexander III. beteiligt gewesen war. Während seines Jurastudiums nahm Lenin an Studentenunruhen teil, was zu seiner Relegation von der Universität führte. Dennoch konnte er sein juristisches Examen ablegen, war aber fast nie als Rechtsanwalt tätig, weil er offenbar sehr früh den Weg des Berufsrevolutionärs einzuschlagen beschloss. Seine entsprechenden Kontakte, etwa mit den Führern der russischen Sozialdemokratie, und seine politischen Aktivitäten brachten ihm Verbannung (Sibirien) und Exilierung (z. B. Genf, München, Helsinki, Zürich) ein. Was sich im gärenden Russland ereignete, das von sozialen und nationalen Spannungen zerrissen und von der Reformunwilligkeit von Zar Nikolaus II. gelähmt war, nahm Lenin zumeist von außen wahr. Wann immer er in Russland eingriff, hatte er die Verhältnisse, die er revolutionär wenden wollte, nicht mit seinem Volk durchlebt und durchlitten. Er bezog die Maßstäbe für sein Tun vielmehr aus der Theorie. Diese Theorie war der Marxismus, dem er, hierin weniger seine Anpassungsfähigkeit an die Verhältnisse als seinen unbedingten Willen zur revolutionären Umgestaltung bezeugend, eine ganz eigene Wendung verlieh.

Die Marxsche Theorie ist ganz zweifellos eine Theorie der Revolution, die die Diktatur des Proletariats vorsieht – hier hatte Lenin gegenüber seinem deutschen sozialdemokratischen Konkurrenten Karl Kautsky recht, den Lenin mit vernichtender Kritik überzog und einen Renegaten schalt. Den reformerischen Weg, den ein Teil der deutschen, aber auch der russischen Linken zur Verbesserung der Verhältnisse einschlagen wollte, hatte Marx ebenso abgelehnt, wie es Lenin nun tat. Für Marx musste es zur Verelendung der Arbeiter kommen, damit sich jene revolutionäre Kraft entfalten konnte, welche die alten Strukturen und Mächte hinwegfegen würde. Schon Marx war also bereit, eine oder auch mehrere Generationen von Menschen zu opfern, wenn es denn der Revolution diente.

Was ebenfalls keine Leninsche Erfindung war, war die der kommunistischen Partei zugedachte Führungsrolle im revolutionären Geschehen. Im „Kommunistischen Manifest“ betonen Marx und Engels sehr deutlich den Bewusstseinsvorsprung der Kommunisten vor konkurrierenden Gruppierungen und natürlich vor den Proletariern, die ja organisiert werden mussten. Hier war Lenins Theorie der Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse durchaus schon vorgebildet. Und auch vieles andere, was die Apologeten des Marxismus einer fehlerhaften Umsetzung der Theorie in die Praxis anlasten wollen, findet sich im „Manifest“ als Programm für den nach-revolutionären Staat: Enteignung von Grund und Boden, Arbeitszwang für alle, industrielle Armeen in der Landwirtschaft, Wirtschaften nach einem zentralen Plan, Monopolisierung des Kredits in den Händen des Staates, Zentralisierung allenthalben. Dass man dies alles nur mit Gewalt durchsetzen konnte, dass man ein solches Vorhaben nur in rücksichtsloser Zerschlagung vorhandener Traditionen, gewachsener Strukturen und menschlicher Beziehungen umsetzen konnte, ist offensichtlich und nichts, was einem Revolutionär wie Lenin erst in Konfrontation mit der Praxis eingefallen wäre.

 

Unterwerfung der Wirklichkeit unter die Theorie

Womit Lenin über Marx hinausging, war die Durchsetzung der Revolution in einem ökonomisch völlig unterentwickelten Land. Mangels Industrialisierung gab es auch kein nennenswertes Proletariat als revolutionäres Subjekt. So sollte nun ein Bündnis aus Bauern und Arbeitern die revolutionäre Masse bilden. Das eigentliche proletarische Bewusstsein verkörperte aber nicht sie, sondern die Partei, die deshalb zur Führung der Masse berufen war. Eine aus Berufsrevolutionären zusammengesetzte, strikt hierarchisch aufgebaute, bedingungslos der Parteispitze folgende Partei – das entsprach dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“, das Lenin programmatisch vorgegeben hatte. Weshalb er das sozialistische Experiment in einem aus Marx‘scher Sicht völlig ungeeigneten Land unternahm, erklärt seine Imperialismustheorie. Nach dieser ist der Imperialismus „das höchste Stadium des Kapitalismus“. Das bedeutet: Innerhalb der kapitalistischen Länder verliert der Klassengegensatz an revolutionärer Wucht, weil der Staat die Gegensätze durch Intervention in das Wirtschaftsgeschehen entschärft und einen Teil der Arbeiterschaft korrumpiert. So verlagert sich der revolutionäre Impetus in die imperialistisch ausgebeuteten unterentwickelten Länder. Damit kam auch Russland ins Spiel, das nun – unter dem erbarmungslosen Regiment der Partei – jene Industrialisierung nachholen sollte, die für Marx die Voraussetzung für die Revolution gewesen war.

Einerseits wollte Lenin die Wirklichkeit also der Theorie unterwerfen. Andererseits war er durchaus bereit, die Theorie der vorgefundenen Wirklichkeit soweit anzupassen, dass sie seine revolutionären Pläne rechtfertigte. Wie sich dann zeigen sollte, sperrte sich die Wirklichkeit auch seiner revidierten Theorie. Das hinderte ihn nicht, sie gnadenlos durchzuexerzieren. Wie viele Menschopfer auf dem Altar seines anscheinend von keinem Zweifel getrübten Glaubens an die eigene Mission erbracht werden mussten, kümmerte ihn ganz offenbar nicht. Viele Millionen Menschen mussten sterben, um einer Idee zur Wirklichkeit zu verhelfen, die die Gewaltsamkeit schon in sich trug. Denn sie degradierte den Menschen zum Objekt eines sozialtechnologischen Experiments bisher nicht gekannten Ausmaßes.

 

Anführer einer revolutionären Kaderpartei

1903 hatte Lenin im Exil mit seiner Vorstellung einer straff organisierten Kaderpartei eine Spaltung der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Menschewiki und Bolschewiki herbeigeführt. Als es 1905 eine erste Revolte gegen den Zaren gab, nahm Lenin dies zum Anlass, gegen Regierung und menschewistische Konkurrenz zugleich zu kämpfen. Der Versuch eines bewaffneten Aufstands im Dezember 1905 scheiterte und zwang Lenin, der sich kurzfristig in Moskau aufgehalten hatte, zurück ins Exil. 1917 sah er seine zweite Chance gekommen. In der Februarrevolution dieses Jahres ließ sich das Volk, von den Entbehrungen und Opfern des Weltkrieges und der Härte des zarischen Regimes zermürbt, nicht mehr mit Zugeständnissen abspeisen. Die Revolution führte zur Abdankung des Zaren.

Nun kehrte Lenin mit Hilfe der deutschen Regierung, die in ihm – zu Recht – einen destabilisierenden Faktor im Land des Kriegsgegners erblickte, nach Russland zurück. Lenins zuvor entwickelte Strategie war es, die Kriegsniederlage des eigenen Landes zu befördern und den Weltkrieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, um so der bolschewistischen Revolution zur Durchsetzung zu verhelfen. Aus der russischen sollte dann die Weltrevolution werden. In Russland angekommen, agitierte er gegen die provisorische Regierung unter dem den „Sozialrevolutionären“ angehörenden Kerenskij; ein erster Putschversuch scheiterte. Im Oktober gelang den Bolschewiki dann der Sturz der provisorischen Regierung und die Machtübernahme im Sowjetkongress. Lenin wurde zum Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare und damit zum russischen Regierungschef. Als die Bolschewisten aber bei der darauffolgenden Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung eine deutliche Niederlage erlitten – sie bekamen nur ein Viertel der Stimmen – ließ Lenin die Versammlung mit Gewalt auflösen. Die demokratische Entwicklung, die nach Abdankung des Zaren in Russland Fuß zu fassen begonnen hatte, fand auf diese Weise ein abruptes Ende.

 

Terror als politisches Prinzip

Denn nun herrschte Lenin mithilfe seiner bolschewistischen Kaderpartei, der von Felix Dserschinski geführten Geheimpolizei Tscheka und der von Leo Trotzki gegründeten Roten Armee. Der von den Bolschewisten propagierte „Rote Terror“ richtete sich erklärtermaßen gegen „die Bourgeoisie als Klasse“, aber auch gegen jeden, der Gegner des Regimes war oder als solcher deklariert wurde. Dabei traf er oft gerade diejenigen, die eigentlich Träger der Revolution sein sollten: Arbeiter, die wegen ihrer unerträglichen Lebensbedingungen streikten, und, Bauern, die gegen die existenzgefährdende Konfiskation ihrer Bodenerträge protestierten. Der Bürgerkrieg, der nach der Oktoberrevolution entbrannte und von den „Roten“ wie ihren Gegnern, den „Weißen“, mit äußerster Brutalität geführt wurde, kostete zehn Millionen Menschen das Leben. Nahrung fand er sowohl durch die mit Gewalt durchgesetzte gesellschaftliche und ökonomische Umstrukturierung des Landes wie auch durch den Separatfrieden von Brest-Litowsk, den Lenin 1918 mit Deutschland schloss. Denn dieser war mit riesigen Gebietsverlusten für Russland und tiefer nationaler Demütigung verbunden.

Letztlich siegten die Bolschewisten und konnten das Land zum Experimentierfeld ihrer realitätsfernen Vorstellungen machen. Lenin glaubte etwa, irgendwann werde man ein Stadium erreichen, in dem man die gesamte Volkswirtschaft nach dem „Vorbild der Post“ organisieren könne. Entsetzliche Hungersnöte und Misswirtschaft waren die Folge einer Zwangsbewirtschaftung, die weder auf die Bedürfnisse der Menschen noch auf die ökonomischen Gegebenheiten Rücksicht nahm. Mit massenhaften, zum Teil von Lenin selbst angeordneten Liquidierungen und dem Verfrachten von Menschen in die gleich nach der Revolution errichteten Konzentrationslager sollte der daraus entstehende Widerstand gebrochen werden. All das wurde gezielt und bewusst eingesetzt, um am Ende jenen „neuen“, jenen „sozialistischen“ Menschen zu schaffen, von dem Trotzki glaubte, er werde dereinst zum „Übermenschen“ mutieren. „Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“

 

Bis heute keine Entleninisierung

Viel Zeit blieb Lenin nach dem Ende des Bürgerkriegs 1921/22 nicht mehr zur weiteren Umsetzung seiner Pläne. 1918 wurde ein Attentat auf ihn verübt, und dessen Spätfolgen sowie diverse Krankheiten bewirkten ab 1922 einen deutlichen körperlichen und geistigen Verfall. 1924 starb er. Sein von ihm nicht gewollter Nachfolger Stalin setzte die kommunistische Schreckensherrschaft auf solch brutale Weise fort – z. B. in den großen Säuberungen der dreißiger Jahre –, dass das Wirken seines Vorgängers Lenin in der Erinnerung dahinter verschwand. So wurde 1956 durch die Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPDSU in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten zwar die Entstalinisierung in Gang gesetzt, doch eine Entleninisierung hat es nie gegeben. Vielmehr blieb der Marxismus-Leninismus der Leitstern der sozialistischen Staaten bis zu ihrem Untergang.

Und auch in den sozialistischen Bewegungen der westlichen Staaten blieb Lenin Vorbild und Heros. Auf kaum einem Flugblatt in der Studentenbewegung fehlte sein Konterfei, wenn man sich der geistigen Väter versicherte, mit denen man die physischen bekämpfen wollte. Die unterschiedlichsten Gruppierungen beriefen sich in der Zeit, als die Sponti-Szene in der Bundesrepublik zur K-Gruppen-Dogmatik erstarrte, auf den Leninismus, sei es in Bezug auf Lenins Schriften, sei es in Bezug auf die von ihm geforderte strikte Parteidisziplin oder die trickreiche Instrumentalisierung verschiedenster Bündnispartner. Bis in die Gegenwart hinein ist sein Nimbus ungebrochen. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) bekennen sich zu ihm und „Marx 21“, eine radikale Untergruppierung der „Linken“ , befindet: „jeder, der sich heute mit den Fragen des Aufbaus von Organisationen zum Kampf gegen den Kapitalismus befasst, [ist ] gut beraten, sich mit den grundsätzlichen Ideen Lenins zum Parteiaufbau auseinanderzusetzen – aber nicht mit der stalinistischen Karikatur namens ,Leninismus‘.“

Auch dies ist eine Art, Lenins zu gedenken. Eine andere ist es, die Erinnerung an seine Opfer wachzuhalten, jene Menschen, die er so kaltblütig und bedenkenlos seinen Vorstellungen von einer angeblich gerechteren Gesellschaft geopfert hat. Man sollte nicht immer nur auf Stalin blicken. Das ganze Elend der kommunistischen Gewaltherrschaft lag bereits in ihrem Beginn. Und hier hat Lenin wahrlich Entscheidendes in Gang gebracht – nichts, wofür es ihn zu rühmen gälte.

 

Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau.

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Stefan Boness/IPON/Süddeutsche Zeitung Photo
21. Februar 2023
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