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Schockstarre versus Euphorie

Israel nach den Wahlen zur 20. Knesset

Israel hat gewählt. Auch die erfahrensten Analysten haben das Ergebnis der Knessetwahl am 17. März 2015 so nicht vorhergesehen. Dass der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Likud) die nächste Regierung bilden würde, galt zwar vielen als sicher. Dass er jedoch einen haushohen Wahlsieg einfahren würde und damit in der Lage ist, eine klare „rechte“ Regierung zu bilden, hätte kaum jemand erwartet – letzte Umfragen sagten vor der Wahl einen klaren Wahlsieg der Zionistischen Union um Jitzchak Herzog voraus.

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Noch am 12. März führte die Zionistische Union unter der Doppelspitze von Jitzchak Herzog und Tzipi Livni laut einer Haaretz-Umfrage mit 24 Mandaten klar in der Wählergunst, wohingegen der Likud gemäß dieser Erhebung nur 21 Sitze in der Knesset erhalten hätte. Am Wahlabend kam dann die erste Überraschung: In zwei der drei Wahltagsbefragungen lagen die Zionistische Union und der Likud mit 27 Mandaten gleich auf. Nachdem 99 Prozent der Wählerstimmen ausgezählt waren, wurde klar, der Likud hat die Wahlen haushoch gewonnen. Wie konnte es dazu kommen?

In den letzten Wochen vor der Wahl stellten viele Wahlbeobachter nur noch eine Frage: Kann es Jitzchak Herzog gelingen, eine Koalition zu formen? Denn selbst wenn die Zionistische Union, so wie die Umfragen es prognostiziert haben, mit einem Vorsprung von zwei bis vier Mandaten gewonnen hätte, hielten es viele Analysten für wahrscheinlicher, dass Staatspräsident Reuven Rivlin das Mandat zur Regierungsbildung an den Likud-Vorsitzenden Benjamin Netanjahu geben würde.

Rolle des Staatspräsidenten

Eine Besonderheit des israelischen Wahlsystems sieht vor, dass der Staatspräsident nach den Wahlen entsprechend der Empfehlungen der Parteiführungen einen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragt. Er muss sich jedoch nicht an diese Empfehlung halten, sondern kann bspw. dem Anführer der Partei mit den meisten Knessetsitzen das Mandat zur Regierungsbildung übertragen. Laut Medienberichten hatte Netanjahu gute Aussichten, von den Vorsitzenden der Parteien HaBait HaJehudi, Shas, United Torah Judaism sowie von Kulanu für die Regierungsbildung empfohlen zu werden.

Im Falle eines klaren Wahlsiegs der Zionistischen Union hätte der Staatspräsident aber auch den bisherigen Oppositionsführer Herzog mit der Regierungsbildung beauftragen können. Der wäre dann vor der Herausforderung gestanden, sehr divergente Parteien für sich zu gewinnen. Er wäre sowohl auf die ultraorthodoxen Parteien als auch auf Jair Lapids Partei „Jesch Atid“ angewiesen gewesen. Diese an einen Tisch zu setzen wäre jedoch nahezu unmöglich gewesen. Lapids erklärtes Ziel in der letzten Legislaturperiode war es, die Privilegien der ultraorthodoxen Bevölkerung einzuschränken. Dies hat ihn und seine Partei zur „Persona non grata“ für die strengreligiösen Politiker gemacht.

Diese Überlegungen, die die Debatten der letzten Monate in den Medien dominiert haben, sind nun weitestgehend hinfällig geworden. Nachdem am Wahlabend die Ergebnisse der Wahltagsbefragungen veröffentlicht wurden, deutete alles auf ein Patt und damit auf die von Staatspräsident Rivlin präferierte Bildung einer großen Koalition unter Likud und Zionistischer Union hin. Dementsprechend sprach sich Rivlin noch am Abend der Wahl mit durchaus dramatischen Worten für diese Variante aus: „Ich bin überzeugt, dass nur eine Einheitsregierung den raschen Zerfall der israelischen Demokratie und baldige Neuwahlen verhindern kann“.

Netanjahus erfolgreicher Mobilisierungswahlkampf

Als jedoch frei nach dem Motto „mit dem Patt einschlafen und mit Netanjahu aufwachen“ im Verlaufe der Nacht die endgültigen Ergebnisse in den Medien bekannt gegeben wurden, war eines klar: Netanjahus „die oder wir“-Strategie hat ihm zu einem überragenden Wahlsieg verholfen. Dass eine so dramatische Wendung eintreten kann, ist durchaus erklärungsbedürftig, denn für den einen oder anderen deutschen Beobachter ist ein so polarisierender Wahlkampf fremd. In Deutschland geben die Wechselwähler in der Mitte den Ausschlag bei Wahlen. Wer seine Kampagne zu sehr auf die eigenen vermeintlichen oder tatsächlichen Stammwähler ausrichtet, läuft Gefahr, die Wechselwähler in der Mitte zu verprellen.

In Israel ist das anders: Hier ist die Mobilisierung der eigenen Klientel und die Ausschöpfung des eigenen Potentials besonders wichtig. Der Likud-Vorsitzende hat konsequent auf eine starke Polarisierung gesetzt und den Wählern in den Tagen vor der Wahl zu verstehen gegeben, dass jede Stimme, die einer anderen rechten Partei als dem Likud zukäme, die Zionistische Union um Jitzchak Herzog stärken würde. Eine Regierung des „nationalen Lagers“ werde es nur unter Führung eines starken Likuds geben. Damit hat Netanjahu letztlich das eigene Spektrum „kannibalisiert“, indem es ihm gelungen ist, der nationalreligiösen Partei Naftali Bennets, HaBajit HaJehudi, zahlreiche Stimmen abzujagen. Ihr Anteil an Sitzen in der Knesset ist von vormals 12 Sitzen auf 8 Sitze gefallen.

Netanjahu hat bei dieser Strategie angesichts der hohen Wahlbeteiligung innerhalb der israelisch-palästinensischen Bevölkerung und dem damit angeblich drohenden Einfluss Mahmoud Abbas’ auf die israelische Politik auch vor grenzwertigen Aussagen (die Linke karre „Horden von Arabern“ in Bussen an die Wahllokale) gegenüber den palästinensischen Israelis nicht zurückgeschreckt und damit offensichtlich einen Nerv innerhalb des rechten Lagers getroffen. Den stärksten Eindruck hat dabei eine Aussage gemacht, die er inzwischen – wenige Tage nach der Wahl – wieder halbwegs einkassiert hat, nämlich die Absage an die Zwei-Staaten-Lösung und das Bekenntnis, einen unabhängigen Staat der Palästinenser nicht anerkennen zu wollen.

Bei dieser Mobilisierungsstrategie hat Netanjahu auch von einer Tatsache profitiert, die eine Umfrage der linksliberalen Haaretz zeigt, die Ende Februar veröffentlicht wurde, nämlich von der hohen Zahl der Unentschlossenen, die zwar einem Lager nahestehen, sich aber noch nicht entschieden haben, wirklich zur Wahl zu gehen. Demnach hat ein großer Teil der Befragten – nämlich 43 Prozent –, die angegeben hatten, für die Zionistische Union stimmen zu wollen, ihre Entscheidung noch nicht endgültig getroffen. Bei den Befragten, die planten, ihre Stimme dem Likud zu geben, waren dies 36 Prozent. In Anbetracht des Wahlergebnisses scheint Netanjahu diese Unentschlossenen gewonnen, und sich eine Mehrheit der potentiellen Likud-Wähler am Ende für die Wahl dieser Partei entschieden zu haben.

Dominanz der Sicherheitspolitik

Viele dieser potentiellen Likud-Wähler ließen sich bei der Stimmabgabe ganz offensichtlich vor allem von Sicherheitsbedenken leiten. Angesichts der sicherheitspolitischen Entwicklungen in der Region, dem wachsenden Einfluss des Iran auf Israels Nachbarländer Syrien und Libanon, der Ausbreitung terroristischer Gruppierungen wie dem Islamischen Staat oder der al-Nusra Front entlang Israels Grenzen und der nach wie vor immanenten Bedrohung durch die Hamas im Gaza-Streifen wünschen sich viele Israelis eine starke Führungspersönlichkeit mit Erfahrung im Sicherheitsbereich an der Spitze des Landes. Der Listenvorsitzende der Zionistischen Union scheint die Bevölkerung in dieser Hinsicht nicht überzeugt zu haben.

Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass während des gesamten Wahlkampfes das Thema „Zwei-Staaten-Lösung“ von den Befürwortern dieser Strategie tunlichst unter dem Teppich gehalten worden ist. Die einzige Partei, die sich nach wie vor klar und offen für diese Lösung ausgesprochen hat, war die Meretz-Partei. Für diesen verschämten Umgang mit diesem wichtigen Thema mag auch die Erkenntnis bei den Wahlkämpfern mit verantwortlich sein, die auch den Erkenntnissen entspricht, die die Konrad-Adenauer-Stiftung in Umfragen ermittelt hat, nämlich dass die Unterstützung für die „Zwei-Staaten-Lösung“ in der israelischen Bevölkerung deutlich nachlässt. In den letzten Jahren war die Mehrheit noch deutlich messbar. Zuletzt hat die KAS nur noch einen Anteil von 50 Prozent der Israelis gemessen, die sich für diese Lösung aussprechen.

Es ist aber nicht so, dass nur und ausschließlich die außenpolitischen Themen eine Rolle gespielt hätten. Bis zum Wahltag sind die sozialen und wirtschaftlichen Themen immer wieder als mitentscheidend für die Wahl genannt worden. Angesichts der Tatsache, dass die Zionistische Union diese Themen in den Vordergrund gestellt und damit einen erheblichen Teil ihres Wählerpotentials erreicht und mit 24 Sitzen alles andere als ein für sich genommen schlechtes Wahlergebnis erzielt hat, wird deutlich, welche Bedeutung diese Fragen inzwischen neben den sicherheitspolitischen Fragestellungen eingenommen haben. Der Milkyprotest, bei dem ein Israeli seine Landsleute zur Auswanderung nach Berlin aufgefordert hat, weil der in Israel so beliebte Schokopudding mit der Bezeichnung „Milky“ in der deutschen Hauptstadt dreimal billiger ist, ließ ahnen, dass insbesondere die Lebenshaltungskosten, die in Israel zwischen 100 und 200 Prozent höher liegen als in Deutschland sowie die außerordentlich hohen Miet- und Immobilienkosten immer wieder zum Thema werden würden.

Es ist jetzt schon abzusehen, dass es für Benjamin Netanjahu unmöglich werden wird, dieses Thema vollständig zu ignorieren und dies nicht nur, weil ihn die mögliche Opposition in dieser Sache „treiben“ wird. Noch am Wahltag hatte Mosche Kachlon, ohne dessen Partei Kulanu eine Regierungsbildung für Netanjahu sehr schwierig bis unmöglich werden wird, verkündet, dass er nur derjenigen Partei seinen Zuschlag geben wolle, die eine überzeugende sozio-ökonomische Agenda vorweisen könne. Schon in seiner Ansprache am Wahlabend hat Netanjahu deutlich gemacht, dass er bereit ist für diese politische Heirat den Brautpreis zu zahlen, den Kachlon verlangt. Man wolle, so Netanjahu, eine verantwortungsvolle Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben. In mehreren Twitter-Einträgen „zwitscherte“ der Premierminister, dass er sich konkret um die Lebenshaltungs- und Wohnkosten kümmern werde.

Der Faktor „Herkunft“ bei der Wahlentscheidung

Neben den genannten inhaltlichen Gründen ist für das Wahlverhalten in Israel auch der Faktor „Herkunft“ nicht ganz unwichtig. Bei den Wahlen kann man deutliche Unterschiede feststellen zwischen den Aschkenasim, also den Juden europäischer Herkunft, und den Misrachim, deren Vorfahren aus den Ländern Nordafrikas und den Nachbarländern Israels stammen.

Die Aschkenasim tendieren deutlicher zu den Mitte-Links-Parteien, während die Misrachim einen großen Teil der Stammwählerschaft des Likud bilden. Auch der Erfolg von Kulanu ist zumindest teilweise so zu erklären. Mosche Kachlon stammt von Juden aus Libyen ab und ist dementsprechend selbst ein Misrachi. Entlang dieser Herkunftslinien verläuft auch die religiöse Orientierung. Aschkenasim sind häufiger säkular eingestellt, während der Anteil religiöser Menschen bei den Misrachim ausgeprägter ist.

Wie sehr sich das auf die Wahl auswirkt, kann man insbesondere an der regionalen Stimmenverteilung sehen. In Jerusalem, in dem Misrachim deutlicher repräsentiert sind, hat Likud 24 Prozent der Stimmen erhalten. Die Partei „Vereinigtes Torah-Judentum“ des aschkenisch-ultraorthodoxen Bevölkerungsanteils hat hier einen deutlichen zweiten Platz errungen mit 21 Prozent der Stimmen. Zur Verdeutlichung: Wenn dies das nationale Ergebnis wäre, dann wären das 25 Sitze in der Knesset. Die Zionistische Union ist hier weit abgeschlagen mit lediglich zehn Prozent der Stimmen.

In Tel Aviv, wo die Aschkenasim stärker repräsentiert sind, hat das zionistische Bündnis mit 34,25 Prozent der Wählerinnen und Wähler ein überragendes Ergebnis eingefahren. Die Jerusalem Post hat das lakonisch mit der Überschrift „Herzog elected prime minister of Tel Aviv“ kommentiert. In der Küstenstadt hat auch Meretz 13 Prozent der Stimmen erreicht. Ähnliches gilt für die andere wichtige Küstenstadt: Auch in Haifa hat die Zionistische Union die Spitzenstellung erreicht mit 25 Prozent. So wie in vielen Elektoraten von entwickelten Ländern trifft auch in Israel die Beobachtung zu, dass es vor allem das gut verdienende Bildungsbürgertum ist, das mit Anflügen von postmaterialistischen Einstellungen die Parteien des linken Spektrums stärker unterstützt. Das zionistische Bündnis hat in 28 der 33 Städte gewonnen, in denen die wohlhabendsten Bürgerinnen und Bürger des Landes wohnen. (Das Central Bureau of Statistics hat für diese Einteilung das Pro-Kopf-Einkommen, die Anzahl neuer PKW, den Prozentsatz an Studenten sowie das Verhältnis von Einwohnerzahl und Arbeitslosigkeit zugrunde gelegt). Zum Beispiel: In Kfar Shmaryahu, einer der (nach der obigen Definition) zehn reichsten Städte in Israel, hat das zionistische Camp 53 Prozent erreicht.

Regionale Wahlergebnisse

Letztlich lässt sich auch nur über die Herkunft erklären, warum die „Peripherie“ im Süden und im Norden des Landes so deutlich für Likud gestimmt hat. Angesichts der Tatsache, dass diese Regionen in stärkerem Maße von Arbeitslosigkeit, von Entlassungen und von Armut bedroht sind als andere Gegenden des Landes, wäre zu erwarten gewesen, dass die sozialpolitischen Themen hier stärker wirken und damit auch die Zionistische Union über mehr Anhänger verfügt. Auch hier dürfte aber das misrachische Element entsprechende Wirkung entfalten. Netanjahu und Likud haben eindeutig in den „ärmeren“ israelischen Städten ihre beste „Ernte“ eingefahren. In 64 von 77 Städten in Israel, die eher von Mittelschicht und unterer Mittelschicht bevölkert werden, hat der Likud überragend abgeschnitten.

Zudem scheint die demographische Entwicklung dem rechten politischen Lager zugute zu kommen. Die israelische Gesellschaft wird jünger. Außerdem wächst der Anteil nationalreligiöser und ultraorthodoxer Israelis. Diese drei Gruppen wählen tendenziell Parteien, die rechts von der Mitte stehen.

Unter den regionalen Wahlergebnissen gibt es einen besonders spannenden Ausnahmefall. In vielen grenznahen Gebieten am Gaza-Streifen entlang, dort wo viele Menschen besonders durch Raketenangriffe betroffen waren, ist nicht unbedingt Likud der Wahlgewinner. Auch wenn der Landstrich in der Nähe von Gaza traditionell eher links steht und sozialistische Ideen in den dortigen Kibbutzim noch immer eine wichtige Rolle spielen, sind die Ergebnisse beachtlich: Im Kibbutz Nahal Oz beispielsweise waren es 57 Prozent, die sich für das zionistische Camp ausgesprochen haben. Wie sehr diese Zahlen aber mit Vorsicht zu genießen sind, zeigt das Ergebnis in der Stadt, die diesen Kibbutzim besonders nahe liegt: In Sderot hat das Sicherheitsthema offenbar voll auf die Wahlentscheidung „durchgeschlagen“. Hier sind es 43 Prozent, die sich für Likud entschieden haben.

Nicht sehr überraschend ist die Tatsache, dass das „Jüdische Heim“ die Siedlerpartei bleibt und in diesen Gebieten auch dem Likud sehr klar den Rang abläuft, der in den Siedlungen ebenfalls recht gut abgeschnitten hat. In Siedlungen wie Gush Etzion waren es 55 Prozent, die der Partei Naftali Bennets ihre Unterstützung gaben, in Neve Daniel 63 und in Alon Shvut 65 Prozent.

Auch die ansonsten abgeschlagene „Green Leaf Party“, die sich für die Legalisierung von Marihuana ausspricht, hat wenigstens einen Ort, an dem sie die Prozenthürde knapp übersprungen hätte: Eilat.

Überras chungserfolg der Vereinigten Arabischen Liste

Natürlich ist angesichts des guten Abschneidens der Vereinigten Arabischen Liste wichtig zu erfahren, wo diese Partei besonders stark war. Ganz offensichtlich hat die Partei in allen arabischen Communities ihre Potentiale voll ausgeschöpft: In Nazareth 92 Prozent, in Rahat 89 Prozent, in Taibe 96 Prozent und in Umm-el-Fahm 95 Prozent. Schon vor der Wahl hatte eine Studie, die gemeinsam von der Tel Aviv-Universität und der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt worden ist, eine Wahlbeteiligung von 65 Prozent erwarten lassen. Das zeigt das Potential dieser Wählergruppe auf: 1,6 Millionen palästinensische Israelis leben im Land. Sie machen fast 20 Prozent der Bevölkerung aus. Die meisten sind Muslime, aber auch Christen und Drusen gehören dieser großen Minderheit an. Oft sind es Nachkommen von Palästinensern, die im Unabhängigkeitskrieg von 1948 nicht aus dem Land geflohen sind und nicht vertrieben wurden.

Insgesamt hat nicht nur das gute Abschneiden der Vereinigten Arabischen Liste für große internationale Aufmerksamkeit gesorgt, sondern schon zuvor die Tatsache, dass es zu dieser Vereinigung von drei sehr widerstreitenden Parteien überhaupt gekommen ist. Es war vor allem der Parteichef von Israel Beiteinu, Avigdor Lieberman, der – allerdings unterstützt von Benjamin Netanjahu – bereits 2013 eine Erhöhung der Prozenthürde von zwei auf 3.25 Prozent vorgeschlagen und durchgesetzt hat.

Um nicht von der Bildfläche zu verschwinden, sahen sich die arabischen Parteien gezwungen, ihre Kräfte zu vereinen. Es entbehrt nicht einer doppelten Ironie, dass nicht nur die Prozenthürde Liebermans eigener Partei gefährlich geworden ist, die zwischenzeitlich durch erhebliche Skandale in der Wählergunst stark abgerutscht ist, sondern dass er mit dieser Strategie den Einzug der israelisch-palästinensischen Abgeordneten in die Knesset eben gerade nicht verhindert hat.

Entgegen aller Erwartungen von politischen Beobachtern ist der Zusammenschluss der arabischen Parteien zu einer Liste gelungen. Dieses Ereignis ist deshalb historisch, weil das Spektrum der arabischen Parteien in ihrer Diversität und mit kommunistischen, islamistischen und nationalistischen Strömungen bislang so etwas dargestellt hat wie eine kleine Knesset in sich. In Deutschland wäre das ungefähr so als ob sich CDU, FDP, Grüne und Linkspartei zu einer Liste zusammenschließen würden. Hier liegt aber auch die Achillesferse der Partei. Wie fragil ist dieses Gebilde? Die entscheidenden Fragen werden sein: Wie lange wird die Einigkeit nach der Wahl bleiben? Wird diese Partei zusammen bleiben? Wird der Erfolg zusammenschweißen, oder werden die Fliehkräfte am Ende doch größer sein?

Die Regierungsbildung und Mosche Kachlon

Anders als im Falle eines Wahlsieges der zionistischen Union, bei dem die Vereinigte Arabische Liste bei einer möglichen Regierungsbildung, nach den Aussagen ihrer maßgeblichen Vertreter, an der Spitze der charismatische Vorsitzende Ayman Odeh, eine Minderheitsregierung unterstützt hätten, werden sie sich nun hochwahrscheinlich in einer Oppositionsrolle beweisen müssen. Denn bisher deutet alles darauf hin, dass Netanjahu eine Koalition mit HaBajit HaJehudi von Naftali Bennet, Kulanu, den ultraorthodoxen Parteien und eventuell Israel Beiteinu von Avigdor Lieberman anstrebt.

Um die Bedürfnisse all dieser potentiellen Koalitionspartner zu erfüllen, wird der Likud auf einige zentrale Ministerposten verzichten müssen. Dies wird zwar innerparteilich für Unmut sorgen, wird aber den erfahrenen Politiker Netanjahu nicht weiter in Bedrängnis bringen. Möglich ist auch die Schaffung zusätzlicher Ministerien, nachdem 2013 auf Forderung von Jesch Atid die Anzahl der Ministerien verringert wurde. Moshe Kachlon, der von den hiesigen Medien als der Königsmacher bezeichnet wird, kommt eine zentrale Rolle bei der Regierungsbildung zu.

Kachlon verdankt seine Popularität nicht nur – wie genannt – seiner misrachischen Herkunft, sondern auch seinem sauberen Image und seiner anerkannt guten Amtsführung als Kommunikationsminister in Netanjahus Regierung von 2009 bis 2013. Sollte der dann neue und alte Premierminister den Wunsch erfüllen und Kachlon zum Finanzminister machen, richten sich durchaus hohe Erwartungen an den Pragmatiker. Als Kommunikationsminister war es ihm gelungen, mit durchgreifenden Reformen den Mobiltelefonmarkt und vor allem die Tarife in diesem Markt entscheidend zu beeinflussen. Schon im Wahlkampf hatte Kachlon angekündigt, sich vor allem den Bankensektor vornehmen zu wollen. Da die mangelhafte Sozialpolitik, so Kachlon, 2013 der Grund für seinen Austritt aus dem Likud gewesen sei, wird Netanjahu Kachlon hier in jedem Falle entgegen kommen müssen.

Außenpolitisch hingegen ist Kachlon nicht sehr weit vom rechten Lager entfernt und hat sich deshalb bei diesem Thema im Wahlkampf auffällig zurückgehalten. Eine spannende Rolle könnte in diesem Zusammenhang allerdings innerhalb der Partei von Kachlon der ehemalige israelische Botschafter in den USA, Michael Oren, spielen. Je nachdem welchen Posten er einnehmen wird, kann Oren dazu beitragen, das nachhaltig beschädigte Verhältnis zwischen der amerikanischen und der israelischen Regierung wieder in bessere Bahnen zu lenken.

Statistische Besonderheiten der Wahl

Schon jetzt stechen einige statistische Daten bei der Zusammensetzung der 20. Knesset heraus:

  • Wie eine erste Auswertung des Israel Democracy Institute, eine langjährige Partnerinstitution der KAS Israel, zeigt, gelang es den Kandidaten in diesem Jahr besonders viele Wähler zu mobilisieren. Mit 72,3 Prozent stieg die Wahlbeteiligung auf den höchsten Stand seit 1999.
  • Aufgrund der Anhebung der Sperrklausel sind von nun an weniger Parteien in der Knesset vertreten. Während in der letzten Legislaturperiode noch 12 Parteien den Einzug schafften, sind inzwischen nur noch zehn Parteien im Parlament. (Zuletzt waren 1992 so wenige Parteien in der Knesset.)
  • Insgesamt wurden 41 Abgeordnete zum ersten Mal ins Parlament gewählt und könnten daher neue Schwerpunkte in die politische Agenda mit einbringen.
  • Überdies lässt sich sagen, dass noch nie so viele Frauen in der Knesset saßen. Allerdings repräsentieren die 28 Frauen nur 23,3 Prozent aller Sitze. Im Bundestag hingegen sind heute 36,5 Prozent der Abgeordneten Frauen.
  • Die Anzahl der arabischen Abgeordneten (in und außerhalb der arabischen Liste) stieg von 12 auf 17 und zeigte damit einen deutlichen Zuwachs.
  • Im Vergleich zur 19. Knesset, in der 39 orthodoxe Gesetzgeber gewählt wurden, sind in der kommenden Legislaturperiode nur noch 28 Abgeordnete jüdisch-orthodox. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die ultraorthodoxen Parteien gemeinsam fünf Sitze verloren haben.
Zuverlässigkeit der Wahlvorhersagen

Angesichts der hohen Unterschiede zwischen den Umfragen vor der Wahl und dem tatsächlichen Wahlergebnis stellt sich freilich abschließend auch erneut die Frage nach der Zuverlässigkeit von Umfragen. Zum einen sind die Standards bei Umfragen in Israel nicht selten niedriger als beispielsweise in Deutschland. So zählt eine Quellengröße von 500 Befragten zum Durchschnitt, die nur schwerlich zu repräsentativen Ergebnissen führt. Die methodischen Schwächen sieht man insbesondere an den Abweichungen gegenüber den Exit-Polls, also den Befragungen vor dem Wahllokal, die normalerweise sehr zuverlässig sind. Eine öffentliche Debatte darüber ist in den Medien spürbar in Gang gekommen – unter anderem mit der Aufforderung an die Demoskopen, ihre Methoden offen zu legen.

Allerdings muss man in diesem Fall zumindest für die letzten Umfragen vor dem Wahltag einschränkend sagen, dass vermutlich für die Abweichungen nicht nur die Standards verantwortlich sind, sondern ein ganz anderer Faktor: In vielen Ländern, so auch in Israel, verstärkt sich der Trend, die eigentliche Wahlentscheidung sehr spät zu treffen.

In Israel, so wie auch in Deutschland, gibt es die Vorgabe, einige Tage vor der Wahl – im Falle von Israel handelt es sich dabei um fünf Tage – keine Umfrage mehr vorzunehmen. Nun ist die Entscheidung für den Likud offenbar aber tatsächlich erst in diesem kurzen Zeitraum vor der Wahl gefallen, mit dem Effekt, dass die Umfragen möglicherweise den tatsächlichen Entscheidungsstand abgebildet haben.

Den gesamten Länderbericht inklusive Tabellen und Fußnoten lesen Sie im pdf.

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Dr. Alexander Brakel

Alexander.Brakel@kas.de
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18. März 2015
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