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Krieg und Erinnerung

Sonderbeilage zur Geschichte in „Tygodnik Powszechny“

Der 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges bietet Gelegenheit, in Deutschland, Polen und Russland über Formen der Erinnerung an dieses Ereignis nachzudenken. Aus diesem Grund greift die Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny“ dieses Thema in ihrer aktuellen Sonderbeilage zur Geschichte auf, an deren Gestaltung neben TP auch die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit mitgewirkt haben.

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Besonders aufmerksam machen möchten wir auf das – unten auch in deutscher Sprache aufgeführte – Interview von Wojciech Pięciak mit Professor Norbert Lammert, dem ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages und Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung. Im Mittelpunkt steht dabei die  Beantwortung schwieriger Fragen: Wie blicken die Deutschen heute auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges? Welche Wirkungen verbinden sich damit noch für sie? Wie steht es um das historische und politische Bewusstsein der Deutschen? Und wie stellen sie sich gute und stabile Beziehungen zu Polen vor?

 

Wojciech Pięciak/TP: Vor einiger Zeit schon, im Jahre 1996 – also kurz nach dem 50. Jahrestag des Kriegsendes – erschien in Deutschland ein interessantes Buch, das leider nur wenig Beachtung fand. Es war ein Gespräch – manchmal: ein Streitgespräch – zwischen Wolfgang Schäuble und Ignatz Bubis. Damals, nach der Wiedervereinigung, gab es in Deutschland viele emotionale Debatten, in denen die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte. Und Schirrmacher behauptete in diesem Buch, dass es sich in all diesen Debatten um ein grundsätzliches Konflikt handelt, in dem es zwei Schulen gebe: die eine behauptet, dass der Nationalsozialismus und insbesondere der Holocaust ein Zentrum, ein unseliges Zentrum der deutschen Geschichte seien. Die andere, dass der Nationalsozialismus und der Holocaust Momente – schreckliche Momente – in der deutschen Geschichte seien, die aber keinen Schatten auf die ganze deutsche Geschichte werfen sollten. Inzwischen haben wir das Jahr 2020, der Zweite Weltkrieg ist 75 Jahre her. Was ist mit diesem Konflikt heute? Wie verortet man heute den Zweiten Weltkrieg?

Prof. Dr. Norbert Lammert:  Vor 35 Jahren, am 8. Mai 1985, hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dessen hundertsten Geburtstag wir dieses Jahr begehen, im Deutschen Bundestag gesagt: „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.“ Als er diesen Satz vortrug, hatte er keineswegs eine damals allgemein vorhandene Einsicht formuliert, aber eine veränderte Wahrnehmung zum Ausdruck gebracht, die heute – 75 Jahre nach Kriegsende – von einer breiten Mehrheit der Deutschen geteilt wird, die sich der Historie bewusst sind.

Wir wissen, dass am 8. Mai 1945 ein Weltkrieg zu Ende gegangen ist, der von Deutschland, von einer deutschen Regierung mit menschenverachtender Energie begonnen und betrieben wurde, und mehr als sechzig Millionen Menschenleben gekostet hat.

Der 8. Mai war für den gesamten Kontinent ein Tag der Befreiung. Er war aber kein Tag der deutschen Selbstbefreiung, und auch wenn wir die gescheiterten Versuche mutiger Deutscher im Widerstand nicht vergessen, gelten heute unsere Gedanken und unser Respekt vor allem denen, die unter unvorstellbaren Verlusten die NS-Terrorherrschaft beendet haben, und denen, die unter den Verbrechen der Nazis leiden mussten.

Der 8. Mai ist Ende und Anfang zugleich gewesen. Befreiend wirkte der 8. Mai, weil erst das Kriegsende einen Neubeginn ermöglichte, um die Zukunft anders und besser zu gestalten. Auch dieser Neuanfang war von den Folgen des Weltkrieges belastet: Der Charta der Vereinten Nationen und dem ehrgeizigen Projekt, den gescheiterten europäischen Nationalismus in einer Union der Staaten zu überwinden, standen die atomare Konfrontation in einer bipolaren Welt, die jahrzehntelange Teilung des Kontinents, auch unseres Landes, gegenüber.

In den westlichen Besatzungszonen zogen die Deutschen antitotalitäre Lehren aus der Vergangenheit und haben damit zunächst getrennt und schließlich gemeinsam den „langen Weg nach Westen“ beschritten. Gerade weil der 8. Mai kein Tag der deutschen Selbstbefreiung war, wurde die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zum schmerzhaften Prozess der inneren Befreiung – nicht etwa um sich frei zu machen von der Geschichte, im Gegenteil: um sich dieser Geschichte zu stellen, selbst da, wo das nur schwer auszuhalten ist.

Nur im Bewusstsein unserer bitteren Erfahrungen, davon sind wir überzeugt, können wir Gegenwart und Zukunft politisch verantwortungsvoll gestalten, der Freiheit und dem Frieden in der Welt dienen.

 

Wojciech Pięciak/TP: Der oben erwähnte, inzwischen verstorbene Ignatz Bubis – ein Holocaust-Überlebender und langjähriger Repräsentant der deutschen Juden (und in dieser Rolle auch ein Politiker) – war ein ungewöhnlicher Zeitzeuge auch deswegen, weil er immer wieder wiederholte, dass sein Ziel eine neue Normalität zwischen Deutschen und den in Deutschland lebenden Juden sei. Es geht hier um das Wort „Normalität“: wenn ein deutscher Politiker von ihm Gebrauch macht, in dem historischen Kontext, kann schnell der Eindruck entstehen, dass er im Grunde genommen einen „Schlussstrich“ unter die Geschichte ziehen will. Heute haben wir übrigens manche AfD-Politiker, die das ganz offen sagen bzw. andeuten. Wie ist das heute, nach 75 Jahren, mit der Normalität: zwischen Deutschen und ihren damaligen Gegnern und Opfern? Zwischen Deutschen und Juden, auch zwischen Deutschen und Polen?

Prof. Dr. Norbert Lammert:  „Normalität“, im eigentlichen Sinne des Wortes, kann und wird es in den Beziehungen Deutschlands zu Polen auf absehbare Zeit nicht geben – und erst recht nicht in den Beziehungen zwischen Deutschen und Juden sowie zwischen Deutschland und Israel. Aufgrund der unsäglichen Verbrechen, die während der NS-Diktatur von Deutschen begangen worden sind, sind die bilateralen Beziehungen Deutschlands zu Polen wie auch zu Israel besondere Beziehungen – unter historischen wie moralischen Gesichtspunkten.

Eine der wesentlichen Grundlagen der deutsch-polnischen Beziehungen muss – wie es in der Vergangenheit immer der Fall war – auch künftig das Erinnern sein und das daraus erwachsende Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit. Weder Deutsche noch Polen werden ihre Zukunft unter Verdrängung oder Leugnung ihrer Vergangenheit gestalten. Denn Deutsche und Polen haben nicht nur eine gemeinsame Grenze, sie teilen sich vor allem eine gemeinsame Geschichte – eine Geschichte, die nicht nur von Leid und Schuld, sondern auch von großen gemeinsamen Überzeugungen und Anstrengungen geprägt ist. Weil in dieser Geschichte aber Grenzen oft eine unheilvolle Bedeutung gespielt haben und aufgrund der je unterschiedlichen Wahrnehmungen rechts und links dieser Grenze, ist der Dialog unter den Menschen unserer beiden Länder unerlässlich.

Dieser Dialog begann bereits kurz nach Kriegsende: 1947 gab es das erste deutsch-polnische Treffen auf der Burg Gemen, von der eine Botschaft „an die Jugend des polnischen Volkes“ ausging. Es ist das erste Dokument der Nachkriegszeit, das Polen und Deutsche als gläubige Christen zu einer Zukunft in Frieden und Freundschaft aufruft. Damals hätte wohl niemand für möglich gehalten, dass Deutsche und Polen heute Nachbarn in einem freiheitlichen und geeinten Europa sind. Es ist ein Wunder, es ist ein Glück und es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dies zu bewahren.

 

Wojciech Pięciak/TP: Vor etwa 20 Jahren begann in Deutschland ein Trend, die eigenen Opfer des Zweiten Weltkrieges wieder in die Mitte der Aufmerksamkeit zu stellen. Es begann mit dem umstrittenen (auch in Deutschland umstrittenen) „Zentrum gegen Vertreibungen“, wurde aber schnell zum gesellschaftlichen Mainstream: auch das öffentliche Fernsehen begann, die Themen wie „Flucht und Vertreibung“, „Bombenkrieg“, „Vergewaltigungen“ usw. usf. in den Fernsehfilmen – s.g. Blockbusters – zu thematisieren. Manchmal waren diese Filme gelungen („Gustloff“), manchmal – aus polnischer Sicht – kaum („Unsere Mütter, unsere Väter“). In Polen wurde dieser Trend mit Distanz betrachtet. 2005 schreib ein bekannter polnischer Publizist Janusz Reiter (ehem. Botschafter Polens in Deutschland): „Die Deutschen begreifen heute die Polen nicht mehr, und die Polen vertrauen heute den Deutschen nicht mehr“. Wie sehen Sie das?

Prof. Dr. Norbert Lammert:  Ich habe nicht den Eindruck, dass es in Deutschland tatsächlich einen solchen „Trend“ gibt. Vereinzelt mag es in Deutschland Versuche geben, Opfer auf deutscher Seite in besonderer Weise „in den Mittelpunkt zu stellen“ – und gegenüber anderen Opfern zu instrumentalisieren. Die Richtung, aus der diese Versuche unternommen werden, ist dabei stets die gleiche – und stets widersprechen Politik und Zivilgesellschaft vehement. Bundespräsident Steinmeier hat in seiner Rede in Dresden völlig richtig formuliert: „Lassen Sie uns gemeinsam gegen all jene kämpfen, die Erinnerung als Munition missbrauchen wollen, um ihre ideologischen Schlachten zu schlagen!“

 

Wojciech Pięciak/TP: Seit einigen Jahren gibt es zwischen den Regierungen in Berlin und Warschau ein Streitthema: die Frage der materiellen Wiedergutmachung (Stichwort: Reparationen). Offiziell liegt es zwar nicht auf dem Tisch, es beeinflusst aber die Beziehungen. Der Standpunkt der Bundesregierung ist bekannt. Abgesehen von der rechtlichen (Un)Begründung solcher Ansprüche – eine Mehrheit der Polen (unabhängig davon, ob es sich um PiS-Anhänger oder PiS-Gegner handelt) ist eigentlich der Meinung, dass die Deutschen für ihren Vernichtungsfeldzug gegen Polen zu billig weggekommen sind, dass Polen (das Land und die Opfer) nur einen kleinen Bruchteil der materiellen Leistungen erhalten hat. Eine (politische) Frage ist nun: wie kann man das pragmatisch beenden, dieses „R“-Thema? Ist es zum Beispiel denkbar, dass Deutschland sich dazu beiträgt, polnische Streitkräfte zu modernisieren?

 

Prof. Dr. Norbert Lammert:  Wie eben bereits erläutert: Die Beziehungen Deutschlands sowohl zu Polen als auch zu Israel sind aufgrund der Vergangenheit jeweils besondere. Und es ist schwierig, die bilateralen Beziehungen Deutschlands zu vergleichen und gegeneinander aufzurechnen; zu verschieden sind die jeweiligen Sicherheitslagen, zu unterschiedlich waren die Ausgangsbedingungen wie die aktuellen Entwicklungen der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen. Im Unterschied zu jedem anderen Land, schon gar in Europa, wird das Existenzrecht Israels nach wie vor bestritten und bekämpft. Auch deshalb hat die deutsch-israelische Rüstungszusammenarbeit eine lange, wiederum besondere Geschichte. Doch auch mit Polen unterhält Deutschland im Bereich der Sicherheitspolitik enge Kontakte – auf bilateraler Ebene im Bereich der Teilstreitkräfte, aber auch institutionalisiert im Rahmen der NATO und der Europäischen Union – beides übrigens internationale Organisationen, die im Ernstfall den (militärischen) Beistand vorsehen.

Uns ist bewusst, dass das Unrecht und Grauen, das Deutsche in Polen angerichtet haben, nicht wiedergutgemacht werden können. Ob Deutschland auch in Zukunft besondere Beiträge, möglicherweise zum Wiederaufbau von zerstörten Stätten wie dem Sächsischen Palais in Warschau, leisten kann, muss auf der entsprechenden politischen Ebene entschieden werden. Wichtiger ist aber aus meiner Sicht, weiter die deutsch-polnische Freundschaft gerade im zivilgesellschaftlichen Bereich zu fördern – auch finanziell. Denn es ist diese Arbeit, die die langfristige Qualität und Stabilität der deutsch-polnischen Beziehungen am ehesten sichert – zum Nutzen beider Länder.

 

 

 

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