Zusammenfassung
- Im November hat sich die Situation im Luftkrieg gegen die Ukraine wenig verändert – trotz leicht positiver Tendenz zu mehr abgefangenen Flugkörpern. Die russische Armee greift weiter kritische Infrastruktur der Energiewirtschaft und Wohnviertel an. Die Ukraine hat dadurch seit 2022 70 % ihrer Kapazitäten zur Stromerzeugung verloren. Auch die Zivilbevölkerung wird weiterhin gezielt angegriffen.
- Russland kann seine Produktionsziele bei Langstreckendrohnen zwar noch nicht erfüllen. Die Lage bleibt aber angesichts hoch konzentrierter und sich ständig ändernder Angriffswellen sehr ernst.
- Russland setzte im November 5.444 Langstrecken-Drohnen (+3 % im Vergleich zum Vormonat), 108 Marschflugkörper (–33 %) und 106 ballistische Raketen (–2 %) gegen zivile Ziele ein. Die Zahl der eingesetzten Drohnen hat sich in den vergangenen drei Monaten wenig verändert, die Zahl eingesetzter Raketen bleibt vor allem im Vergleich zu den Vorjahren sehr hoch.
- Die Abfangrate bei Drohnen stieg auf 84 % (Oktober: 80 %, September: 87 %). Im November konnten 884 Drohnen nicht abgefangen werden (Vormonat: 1.077). Die Abfangrate bei ballistischen Raketen liegt bei etwa 30 % (Vormonat: 15 %), bei Marschflugkörpern liegt der Wert unverändert zwischen 70 und 85 %.
- Insgesamt wurden im November 996 Flugkörper nicht abgefangen (Vormonat: 1.213). Die Summe nicht abgefangener Sprengladung (payload), an der sich das Zerstörungspotential der Luftangriffe bemisst, ist zwar gesunken – bleibt aber auf dem zweithöchsten Wert im Verlauf dieses Jahres.
- Die ukrainischen Streitkräfte sind weiterhin auf Lieferungen von neuen EW- und Flugabwehrsystemen, sowie Munition angewiesen. Insbesondere die integrierte Luftverteidigung (IADS) muss weiter verbessert werden.
- Russische Shahed-Drohnen wurden so modifiziert, dass sie gezielt auch fliegende Flugabwehr-Einheiten der Ukraine mit Luft-Luft-Raketen angreifen können.
- Im November wurden neue Drohnenabwehrsysteme der Ukraine einsatzfähig. Die Serienproduktion der Abfangdrohne Octopus hat nach langer Verzögerung begonnen. Ein mehrschichtiges Schutzsystem aus FPV-Drohnen wurde aus Frankreich an die Ukraine geliefert. Die Abfangdrohne Sting wurde erfolgreich gegen Geran-3-Drohnen eingesetzt.
- Die Ukraine ist nach wie vor auf die Lieferung präziser Langstreckenwaffen aus dem Westen angewiesen (sog. DPS-Waffen, Deep Precision Strike weapons), da ihre eigenen Systeme bei Navigation und Zuladung noch nicht die notwendige Leistungsfähigkeit besitzen. Wenn sie mit diesen weitreichenden Waffen genügend Druck auf Russland ausüben kann, erhält die Ukraine eine bessere Verhandlungsbasis, um den Krieg zu beenden.
LAGE IM NOVEMBER. ANALYSE UND TRENDS
Im November hat sich die Situation im Luftkrieg in der Ukraine wenig verändert – trotz einer leicht positiven Tendenz zu mehr abgeschossenen Flugkörpern. Die russische Armee hat ukrainische Städte und zivile Ziele im November mit 5.444 Drohnen angegriffen (3 % mehr als im Vormonat; Höchstwert im Juli: fast 6.300). Das entspricht rund 180 Drohnen pro Nacht.
Russland kann seine Produktionsziele von Langstrecken-Drohnen bisher noch nicht erfüllen (↗ Monitor Vol. VIII), greift aber weiter erfolgreich zivile Infrastruktur an. Der Anteil an Drohnen-Attrappen (meistens vom Typ Gerbera) ist geringfügig auf 38 % gesunken. 62 % aller von Russland eingesetzten Langstrecken-Drohnen waren vom Typ Shahed 136/Geran-2.
Grafik 1, Abfangrate russischer Flugkörper pro Monat
Die täglichen Intervalle und die Intensität der Angriffswellen haben sich seit dem Sommer kaum verändert. In sieben Nächten wurden im November mehr als 400 Drohnenangriffe gezählt, in der Nacht des 29. November gab es 596 Drohnenangriffe. Bis auf eine kurze Phase im August rund um das Alaska-Treffen zwischen Donald Trump und Wladimir Putin (↗ Monitor Vol. VIII) ist kein eindeutiger Zusammenhang zwischen politischen Ereignissen und der Intensität der Angriffe zu erkennen.
ABFANGRATEN LEICHT VERBESSERT
Die Zahl nicht abgefangener Flugkörper sank im November gegenüber dem Vormonat, obwohl mehr russische Drohnen eingesetzt wurden, weil die Flugabwehr erfolgreicher operierte. Im November konnten 884 Drohnen nicht abgefangen werden (Oktober: 1.077). Die Abfangrate bei Drohnen stieg damit leicht auf 84 % (Oktober: 80 %, September: 87 %).
Marschflugkörper wurden im Vergleich zum Vormonat deutlich weniger gezählt: 108 (–33 %). Ballistische Raketen wurden 106 Mal eingesetzt (–2 %); im Vergleich zu den letzten Jahren immer noch ein sehr hoher Wert (2024 und 2025 waren es im Jahresschnitt monatlich ca. 60 Raketen). Die Abfangrate bei ballistischen Raketen (Iskander-M und Kinzhal) hat sich im November auf etwa 30 % verbessert (Vormonat: 15 %). Bei Marschflugkörpern blieb die Abfangrate unverändert, je nach Typ zwischen 70 und 85 %. Insgesamt wurden im November inklusive Drohnen 996 Flugkörper nicht abgefangen (Vormonat: 1.213).
Das tatsächliche Zerstörungspotential der Angriffe wird in der Summe nicht abgefangener Sprengladung ersichtlich, also in der Menge der Zuladung (payload) sämtlicher Flugkörper. Diese Zahl lag im November bei 69.540 kg; 25 % weniger als im Oktober (93.700 kg). Auf ballistische Raketen entfielen dabei 31.880 kg (–23 % im Vergleich zum Vormonat), auf Marschflugkörper 10.420 kg (–49 %) und auf Drohnen vom Typ Geran-2 27.240 kg (–15 %). Trotz der Zunahme der Drohnenangriffe und der nahezu gleichbleibenden Zahl ballistischer Raketen hat die ins Ziel geführte Sprengladung – und damit das Zerstörungspotential – deutlich abgenommen, weil sich die Abfangquoten der ukrainischen Flugabwehr verbessert haben. Es bleibt jedoch der zweithöchste Wert im Jahresverlauf (Höchstwert Oktober: 93.730kg).
Menge nicht abgefangener Sprengladung in kg Sprengstoff pro Monat
Russland wird weiter versuchen, die ukrainische Flugabwehr mit kombinierten Drohnen- und Raketenangriffen hoher Intensität zu überfordern. Shahed-Drohnen werden dabei auch zu Aufklärungsflügen genutzt, um Angriffe mit hochentwickelten Waffensystemen vorzubereiten, die eine deutlich stärkere Zerstörungskraft besitzen. Die Ukraine muss ihre integrierte Luftverteidigung (Integrated Air and Missile Defence, IADS) gegen Flugkörper und Drohnen in jeder Höhe, Geschwindigkeit und Flugbahn des Ziels weiter ausbauen (↗ RUSI, 27.11.2025). Integrierte Luftverteidigung (IADS) bezeichnet die Koordination und Integration aller luft- und bodengestützten Flugabwehr-Systeme, die an der Aufklärung und Kommunikation beteiligt sind. Die Einbindung sehr unterschiedlicher Systeme, die taktischen Entscheidungsprozesse und die Sicherstellung einer durchgehenden Radarabdeckung in komplexen Geländeformationen im Umfeld von Städten stellen dabei eine besondere Herausforderung dar. (↗ Tom Cooper, 30.11.2025).
ANGRIFFE AUF INFRASTRUKTUR UND ZIVILBEVÖLKERUNG
Russland setzt seinen Luftkrieg gegen die Lebensgrundlagen der Zivilbevölkerung in der Ukraine unvermindert fort. Wie in den Wochen zuvor ist die Energie- und Wärmeversorgung gefährdet (↗ Monitor Vol. X). Gezielte Großangriffe im Südosten des Landes führten zu längeren Stromabschaltungen und Einschränkungen im Zugverkehr (↗ Suspilne, 8.11.2025). Seit 2022 hat die Ukraine etwa 70 % ihrer Kapazitäten zur Stromerzeugung verloren. Ersatzausrüstung für Reparaturen ist knapp. Den ukrainischen Energieunternehmen fehlen 30 % ihres Budgets. Die EU wird sechs Milliarden Euro zur Verfügung stellen, um beschädigte Energieanlagen besser zu schützen und zu reparieren (↗ Kyiv Independent, 18.11.2025).
Die russische Armee setzt auch ihre gezielten Angriffe auf Zivilisten fort, etwa auf einen Bus im Kreis Dniprowskyj (Gebiet Cherson) am 3. November, einen Minibus in Saporischschja am 5. November und einen Krankentransport in Cherson am 22. November. In Charkiw haben russische Angriffe seit 2022 12.500 Häuser zerstört oder beschädigt, 160.000 Menschen wurden dadurch obdachlos (↗ Suspilne, 20.11.2025). Besonders schwer wurde am 19. November die Stadt Ternopil getroffen: In einer einzigen Nacht wurden dort 31 Menschen getötet und 94 verletzt, 13 Personen gelten weiterhin als vermisst (↗ Suspilne, 21.11.2025).
Vor allem frontnahe Regionen stehen durch Angriffe mit Drohnen, Raketen und Gleitbomben weiter unter großem Druck. Im Vergleich zu den Vormonaten fällt auf, dass sich die Angriffe stärker auf einzelne Gebiete konzentrieren. Am stärksten traf es im November erneut die Regionen Charkiw, Dnipro, Odesa, Donezk und Tschernihiw.
Grafik Schadensberichte Oblaste
Hintergrund:
I. Technische Weiterentwicklungen der Ukrainischen Flugabwehr
Elektronische Kriegsführung gegen ballistische Raketen
Der Einsatz der Hyperschallwaffe Kh-47M2 Kinzhal (dt. Kinschal) und der Iskander-M-Rakete hat sich in den vergangenen Monaten annähernd verdoppelt. Gleichzeitig gingen die Abschussraten bei diesen Raketen im Sommer deutlich zurück.
Die ukrainische Armee stand vor mehreren Herausforderungen: eine veränderte Software, die eine steilere Flugbahn und möglicherweise auch schnellere Ausweichmanöver erlaubt, der Einsatz von Attrappen und eine höhere Konzentration von Raketen innerhalb einer Angriffswelle. Die Daten der einzelnen Angriffsnächte zeigen sehr große Unterschiede in den Abschussraten ballistischer Raketen. Sie liegen zwischen null und 100 % (↗ RUSI, 18.11.2025).
In den vergangenen Wochen haben sich die Abfangquoten jedoch insgesamt verbessert. Nach Auswertung aller Tagesberichte der ukrainischen Luftwaffe wurden in diesem Jahr bereits mindestens 135 ballistische Raketen abgewehrt.
Laut der ukrainischen Spezialeinheit „Night Watch“ wurden Kinzhal-Raketen wiederholt mit Hilfe von elektronischer Kriegsführung (Electronic Warfare, EW) zum Absturz gebracht (↗ 404media, 20.11.2025). Dabei wird das Navigationssystem der Kinzhal-Raketen gestört, das auf die Kommunikation mit dem russischen Satellitensystem GLONASS angewiesen ist (jamming).
Das ukrainische EW-System „Lima“ täuscht den angreifenden Raketen falsche Koordinaten vor (spoofing). Es ist in der Lage, das Navigationssystem der Raketen so zu überfordern, dass Sensoren in den angreifenden Flugobjekten abgeschaltet werden und es die Rakete zum Absturz bringt – bis zu 200 km vom angestrebten Ziel entfernt (↗ Forbes, 19.11.2025).
Die ukrainischen Streitkräfte benötigen weiterhin Lieferungen von EW-Systemen, Munition, allgemeine Flugabwehr- sowie spezielle Patriot-Systeme, um russische Luftangriffe abzuwehren (↗ Empfehlungen in Monitor Vol. X). Dass dies gelingen kann, zeigt die Auswertung der letzten großen Angriffsnacht am 29. November, in der die russische Armee insgesamt 632 Angriffe flog. Alle vier eingesetzten Iskander-M-Raketen wurden abgefangen (↗ KPSZSU, 29.11.2025).
Russische Bedrohung durch modifizierte Flugkörper
Die russischen Streitkräfte passen ihre Drohnen vom Typ Shahed fortlaufend an, um die ukrainische Drohnenabwehr zu durchbrechen. Entlang der Frontlinien wurden modifizierte Shahed-Drohnen beobachtet, die ukrainische zur Drohnenabwehr eingesetzte Flugzeuge und Hubschrauber angriffen. Zum ersten Mal wurde in diesem Zusammenhang in einer abgeschossenen Shahed-Drohne eine Luft-Luft-Rakete vom Typ R-60 gefunden (↗ Serhij Beskrestnow, 1.12.2025). Bei Drohnen vom Typ Geran-2 wurden Kommunikations- und Navigationssysteme so modifiziert, dass sie in Echtzeit gesteuert werden können – zum Teil über Funksignale, die sie aus den besetzten Gebieten der Ukraine empfangen.
Im November wurde an der Front eine im Iran hergestellte Mittelstrecken-Drohne vom Typ Shahed-107 beobachtet (↗ ISW, 29.11.2025). Dieses Modell verfügt über eine große Reichweite und Echtzeitaufklärungsfähigkeiten und kann damit präziser operieren (↗ Defence-network.com, 11.7.2025). Seit August 2025 haben russische Streitkräfte die Ukraine wiederholt mit bodengestützten Marschflugkörpern vom Typ 9M729 (Novator) angegriffen, die mit atomaren Gefechtsköpfen bestückt werden können – ein klarer Verstoß gegen die Vereinbarung über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) (↗ Reuters, 31.10.2025).
Einsatz neuer Anti-Drohnensysteme
Mitte November begann nach langer Verzögerung die Serienproduktion der ukrainischen Abfangdrohne Octopus (↗ Denys Schmyhal, 14.11.2025). Sie kann vor allem nachts und in unterschiedlichen Höhen eingesetzt werden und ist unempfindlich gegen elektronische Kriegsführung (EW). Auch die Startbedingungen sind einfacher als bei anderen Drohnensystemen.
Octopus geht auf eine britisch-ukrainische Initiative zurück und kann auch gegen russische Drohnen eingesetzt werden, die in besonders großer Höhe oder sehr tief fliegen. Die Abfangdrohne wurde 2024 entwickelt und stand bereits im Februar 2025 vor der Serienproduktion. Bürokratische und rechtliche Hürden verhinderten jedoch deren Beginn – mit verheerenden Folgen.
Mit Octopus verfügt die Ukraine nun über ein skalierbares Modell besserer Drohnenbekämpfung. Der Thinktank RUSI warnt allerdings vor zu hohen Erwartungen und davor, die neue Abfangdrohne als universale Lösung bei der Verteidigung der NATO-Ostflanke zu überschätzen (↗ RUSI 27.11.2025).
Neu eingesetzt werden soll auch ein mehrschichtiges Abwehrsystem des französischen Unternehmens Atreyd, bei dem ein ganzer Schwarm kostengünstiger FPV-Drohnen gegnerische Flugkörper „wie ein fliegendes Minenfeld“ abfängt. Mithilfe von künstlicher Intelligenz soll ein Pilot dabei 100 Drohnen gleichzeitig steuern können, unabhängig von GPS-Signalen. Das ausschließlich defensiv ausgerichtete System soll insbesondere Städte und Infrastruktur schützen und in Zukunft auch Gleitbomben abwehren (↗ Business Insider, 12.11.2025).
Ende November wurde zudem die ukrainische Abfangdrohne Sting erfolgreich gegen Geran-3-Drohnen eingesetzt (↗ Defence Blog, 30.11.2025). Geran-3-Drohnen können durch ihren Jetstream-Antrieb schneller fliegen und Luftabwehrsysteme leichter umgehen, wurden aber von Russland bisher kaum eingesetzt. Der ukrainische Drohnenhersteller Wild Hornets schätzt die Abfangrate seiner Sting beim Einsatz gegen herkömmliche Geran-2-Drohnen auf etwa 60 bis 90 %. Der Vorteil der Abfangdrohne Sting liegt auch in ihren geringen Produktionskosten von etwa 2.000 US-Dollar pro Stück (↗ Defence Express, 20.9.2025).
II. Deep Precision Strike Optionen der Ukraine. Eine Übersicht
Die Ukraine muss effektiver in die Lage versetzt werden, in Russland Infrastruktur, Militärflughäfen, Waffenproduktionsstandorte und Produktionsstätten von Zulieferfirmen anzugreifen. Nur so kann sie die Luftangriffe der russischen Armee quantitativ und logistisch beschränken. Dazu braucht die Ukraine wirkungsvolle und präzise Langstreckenwaffen (Deep Precision Strike weapons, DPS).
Die Produktion einheimischer Langstreckenraketen weiterzuentwickeln und zu skalieren, wird 2026 für die Ukraine oberste Priorität haben. Fabian Hoffmann, Experte für militärische Flugkörpertechnologie an der Universität Oslo, sieht in solchen Raketensystemen angesichts des „wachsenden Drucks der USA, eine für die Ukraine ungünstige Verhandlungslösung zu akzeptieren, eine der wenigen unabhängigen strategischen Einflussmöglichkeiten“, die der Ukraine bleiben (↗ Missile Matters, 30.11.2025).
Hoffmanns Analyse der letzten ukrainischen Luftangriffe auf Russland zeigt, dass dabei überwiegend Flugkörper mit einer geringen Sprengladung von weniger als 100 kg zum Einsatz kamen.
Ukrainische Hersteller haben inzwischen zwar eine breite Palette von Flugkörper-Systemen entwickelt. Doch die Ausstattung mit Sprengladungen von mehr als 100 Kilogramm bereite ihnen weiterhin Schwierigkeiten, so Hoffmann. Systeme wie Flamingo, Sapsan und Long Neptune versuchten dieses Problem zu lösen, seien aber „allesamt mit Unsicherheiten behaftet.“ Die Ukraine bleibt daher kurzfristig auf die Lieferung westlicher Langstreckenraketen-Systeme angewiesen.
Fähigkeiten des Marschflugkörpers Flamingo
Der in der Ukraine entwickelte bodengestützte Marschflugkörper FP-5 Flamingo wurde dieses Jahr mehrfach getestet. Er verfügt über eine Reichweite von 3.000 km und kann Sprengladungen von mehr als 1.000 kg transportieren. Allerdings nutzt FP-5 Flamingo keine fortschrittlichen Navigationssysteme wie radarbasiertes TERCOM (Terrain Contour Matching) für den Gelände-Kontur-Abgleich oder DSMAC (Digital Scene Matching Area Correlator) – Systeme, die Kamerabilder mit gespeicherten Landschaftsprofilen abgleichen.
Stattdessen setzt FP-5 Flamingo auf Satellitennavigation und die Open-Source-Software Ardupilot (↗ IISS, 5.9.2025). Ardupilot beruht auf herkömmlicher Koppelnavigation (dead reckoning), die keine Satellitenkommunikation braucht, sondern Berechnung von Geschwindigkeit, Zeit und Flugrichtung zur Positionsbestimmung nutzt.
Die Software wurde auch bei der Operation Spiderweb im Juni eingesetzt (↗ golem.de, 3.6.2025), bei der die ukrainische Armee mehrere russische Flughäfen erfolgreich angriff. Allerdings starteten ihre Drohnen dabei aus nächster Nähe. Über längere Strecken ist die Navigation über dead reckoning fehleranfällig. Nutzt der FP-5 Flamingo wiederum Satellitenkommunikation zur Navigation, kann diese leicht elektronisch gestört werden.
Auch moderne Steuerungssysteme für den präzisen Endanflug auf ein Ziel fehlen dem Flamingo. Das immense Gewicht des Flugkörpers behindert außerdem schnelle Ausweichmanöver. Der FP-5 Flamingo wurde nur wenige Male eingesetzt (↗ Militarnyi, 31.10.2025) und ist daher in der Grafik oben nicht verzeichnet.
Weitere ukrainische Eigenproduktionen
Die Ukraine hat darüber hinaus weitere Angriffssysteme entwickelt. Am vielversprechendsten ist dabei der Long Neptune (R-360L Neptun), eine Langstreckenvariante des Seezielflugkörpers Neptun. Er wurde für Landangriffe optimiert und verfügt über eine Reichweite von 1.000 km. Fachleute vermuten, dass dieser Flugkörper mit einem TERCOM-Navigationssystem ausgestattet ist; möglicherweise sogar mit einem angepassten Suchkopf, der bei Bodenangriffen eine besonders präzise Zielansteuerung ermöglicht (↗ Missile Matters, 30.11.2025).
Über eine weitere ukrainische Entwicklungslinie bei Raketensystemen, die ballistische Kurzstreckenrakete Sapsan, ist bisher wenig bekannt. Sie verfügt vermutlich über eine Reichweite von weniger als 500 km und einen Steuerungskopf mit einem modernen Trägheitsnavigationssystem (Inertial Navigation System, INS).
Optionen kleinerer Modelle
Darüber hinaus gibt es eine Reihe mittelschwerer Raketen ukrainischer Produktion, die eine Sprengladung zwischen 100 und 200 kg transportieren können. Die Modelle Bulged Neptune, Bars oder Palianytsia etwa haben eine Reichweite von 400 bis 700 km. Der in spanischen und holländischen Fabriken produzierte Marschflugkörper Ruta verfügt über modernere INS-Suchköpfe (↗ Indodefensa, 1.11.2025) und soll im kommenden Jahr mit KI der US-amerikanischen Firma Shield AI ausgestattet werden. Ruta kann allerdings nur bis zu 150 kg Sprenglast zuladen, der ukrainische Mini-Marschflugkörper Pekklo sogar nur 70 kg.
Die Zuladung bleibt auch bei Langstrecken-Drohnen ukrainischer Produktion ein limitierender Faktor, Ziele mit größerer Effektivität zu treffen. Hoffmann weist darauf hin, dass viele der in der Ukraine entwickelten Drohnen zwar je nach Typ eine Reichweite von 200 bis 2.000 km haben und viele von ihnen mit INS- und GNSS-Navigation ausgestattet sind, aber nur 25 bis 75 kg Sprengstoff laden können.
Eine weitere Option sind umgebaute Zweisitzer-Flugzeuge, die autonom ohne Piloten gesteuert werden. Hier liegt die maximale Zuladung bei 100 kg, um eine Strecke von 1.000 km zurücklegen zu können. Die flugzeugähnliche Drohne UJ-22, die im April 2023 bis nach Moskau flog, ist sogar nur für eine Zuladung von 20 kg ausgelegt.
Westliche Raketentypen weiterhin benötigt
Um größere Effekte zu erzielen, bleibt die Ukraine daher von westlichen Lieferungen abhängig. Im Mai 2023 setzte die ukrainische Armee zum ersten Mal britische Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow ein. Ab Juli 2023 erhielt die Ukraine auch französische und später italienische Marschflugkörper vom Typ SCALP-EG, die mit dem Modell aus Großbritannien nahezu identisch sind. Aufgrund ihres Mehrzwecksprengkopfs können sie auch „harte Ziele“ erfolgreich angreifen. Ihr Lenksystem ist robust und kombiniert INS/GNSS und TERCOM für die Mittelkurslenkung mit einem abbildenden Infrarotsuchkopf für die Endphasenlenkung. Hoffmann vermutet, dass Frankreich, Italien und Großbritannien die Reichweite dieser Marschflugkörper nicht beschränkt haben und sie bei etwa 560 Kilometern liegt.
Ab Oktober 2023 lieferte die USA der ukrainischen Armee Kurzstreckenraketen der ATACMS-Reihe, die entweder mit Trägheitsnavigation (INS) oder integriertem Satellitenempfänger (GNSS) gesteuert werden. Die USA lieferte Modelle mit einer Reichweite von 185 und bis zu 300 km. Hoffmann geht davon aus, dass die Ukraine Ende 2025 keine nennenswerten Bestände an ATACMS, Storm Shadow- und SCALP-EG –Flugkörpern mehr hat (↗ Missile Matters, 30.11.2025).
Keine deutsche Regierung konnte sich bisher dazu entschließen, Marschflugkörper vom Typ Taurus (Target Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System) an die Ukraine zu liefern. Bei einer namentlichen Abstimmung im Bundestag auf Antrag der Unionsfraktion im März 2024 (↗ Bundestag, 14.3.2024) gab es keine Mehrheit für den Antrag. Auch in den Äußerungen der aktuellen Bundesregierung (↗ Tagesspiegel, 21.5.2025) ist nicht erkennbar, dass in absehbarer Zeit Taurus-Marschflugkörper geliefert, oder ukrainische Soldaten an diesem System ausgebildet werden (↗ Welt, 30.11.2025).
Das serienmäßig hergestellte Taurus-Modell KEPD-350 mit einer Reichweite von rund 500 km und MEPHISTO-Tandem Gefechtskopf ist besonders gut geeignet, um stark geschützte Ziele zu zerstören. Vor allem aufgrund seiner Navigation hat der Marschflugkörper Vorteile, die der Ukraine derzeit mit ihren eigenen Modellen nicht zur Verfügung stehen. Der Taurus KEPD-350 verfügt sowohl über einen gegen Störversuche abgeschirmten GPS-Empfänger als auch über drei weitere von einander unabhängige Navigationssysteme, die die autonome Steuerung über lange Strecken ohne Satellitenkommunikation erlauben: ein Trägheitsnavigationssystem (INS), Geländereferenznavigation (Terrain Reference Navigation, TRN) und ein bildverarbeitendes Navigationssystem (Image Based Navigation, IBN).
Die Ukraine braucht präzise Langstreckenwaffen (Deep Precision Strike-Flugkörper) aus westlichen Ländern. Ohne neue DPS-Waffen droht eine Fähigkeitslücke, die der Ukraine in ihrer derzeitigen prekären militärischen Lage zusätzlich strategische Nachteile bereitet. Verfügt die Ukraine hingegen über ausreichende Mittel, um anhaltenden und wirksamen Druck auf Russland auszuüben, stärkt dies ihre Verhandlungsposition und erhöht die Chance, den Krieg mit einem dauerhaften Frieden zu beenden.
Methode
Die Datenbank wird regelmäßig mit den Tagesberichten des Institute for the Study of War (ISW) in Washington abgeglichen. (↗ ISW) Die erfassten Abschüsse stammen aus Berichten der ukrainischen Luftwaffe (↗ KPSZSU), für die Erwähnung regionaler Ziele und Schäden werden - wenn vorliegend - die Angaben ziviler und militärischer Verwaltungen herangezogen und durch zusätzliche OSINT-Quellen abgeglichen und gelten als weitgehend plausibel.
Die genaue Quantifizierung von Luftangriffsschäden ist im Kriegsfall problematisch. Zu genaue Angaben würden der russischen Kriegsführung bei der Bewertung und Planung neuer Angriffe in die Hände spielen. Deswegen unterliegt die Berichterstattung Einschränkungen. (↗ Expro, 2.1.2025)
Diese Datenauswertung konzentriert sich deswegen auf die Analyse der Angriffe und ihre Dynamik und weniger auf die Auswertung der Schäden.
Mit Datenpunkten über 39 Monate und über 70.000 ausgewerteten Angriffen lassen sich robuste Trends aufzeigen.
Die monatlichen Zahlen der Flugkörper sind Näherungswerte, da Unregelmäßigkeiten im ukrainischen Zähl- und Meldesystem festgestellt wurden. Abweichungen zu anderen OSINT-Zählungen liegen bei etwa 10 % und darunter, oft unter 3 %.
Ein Vergleich mit der Flugkörperauswertung des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington über einen Zeitraum von über zwei Jahren ergibt eine Abweichung von lediglich 1,6 %. (↗ CSIS)
Bei Angriffen, die keine eindeutige Quantifizierung zulassen, wurden die niedrigeren naheliegenden Werte skaliert. Die Abschussraten bei hoher Intensität können aufgrund von ausgebliebenen Meldungen höher ausfallen als angegeben, es wird von einer Abweichung von unter 5 % ausgegangen.
Über den Autor
Marcus Welsch ist selbstständiger Analyst, Dokumentarfilmer und Publizist. Welsch beschäftigt sich mit OSINT-Journalismus und Datenanalysen seit 2014, besonders zum russischen Krieg gegen die Ukraine, zu militärischen und außenpolitischen Themen, sowie zum deutschen Diskurs darüber.
In Kooperation mit den Kyjiwer Gesprächen führt Marcus Welsch seit 2023 Recherchen und Podiumsdiskussionen zur westlichen Sanktionspolitik durch.
Seit 2015 betreibt er die Daten- und Analyse-Plattform ↗ Perspectus Analytics.
Über die Kyjiwer Gespräche
Die Kyjiwer Gespräche sind eine unabhängige zivilgesellschaftliche Plattform zur Förderung des Dialogs zwischen der Ukraine und Deutschland.
Gegründet 2005 als ein internationales Konferenzformat zu gesellschaftlichen und politischen Themen, unterstützen sie seit 2014 zivilgesellschaftliche Initiativen zur Stärkung lokaler Demokratie in der Ukraine.
Seit der russischen Vollinvasion 2022 liegt der Schwerpunkt auf gesellschaftlicher Resilienz, sozialem Zusammenhalt sowie sicherheitspolitischen Themen wie der militärischen Unterstützung für die Ukraine und der westlichen Sanktionspolitik.
Die Kyjiwer Gespräche sind ein Programm des Europäischen Austausch gGmbH.
KONTAKT
Kyjiwer Gespräche
c/o Europäischer Austausch gGmbH
Erkelenzdamm 59, 10999 Berlin
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