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Demokratie in kleinen Schritten – Ukrainische Machtkalküle behindern Entwicklung des Landes

von Nico Lange
Auch wenn ein Misstrauensvotum gegen Regierungschefin Tymoschenko im ukrainischen Parlament kürzlich scheiterte, ist die politische Lage in Kiew seit Monaten verfahren. Präsident Juschtschenkos Plan, die ungeliebte Premierministerin und ihr Kabinett schnell zu diskreditieren und per Verfassungsänderung mehr Befugnisse zu gewinnen, ist gescheitert. Auch Julija Tymoschenkos Kalkül, mit einem populistischen Start als Premierministerin und der Übernahme der Macht bei den Kommunalwahlen in Kiew eine Plattform für eine eigene Präsidentschaftskandidatur zu schaffen, ging nicht auf. Die politische Führung der Ukraine demonstriert seit Monaten ihre Unreife und trägt persönliche Konflikte zu Lasten der Entwicklung des Landes aus. Dennoch ist eine Vertiefung der ukrainischen Demokratie in kleinen Schritten erkennbar.

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DIE POLITISCHE LAGE IN KIEW IST VERFAHREN

Die letzte Sitzung der Werchowna Rada vor der Sommerpause am 11. Juli 2008 hatte es noch einmal in sich. Die oppositionelle Partei der Regionen brachte ein Misstrauensvotum gegen das Kabinett Tymoschenko zur Abstimmung, das jedoch mit 174 der nötigen 226 Stimmen scheiterte. Die jetzige Regierung der Ukraine konnte sich damit, trotz seit dem ersten Tag ihrer Amtsführung andauernder Querelen, noch einmal in die Sommerferien retten. Die dringend benötigten Änderungen zum Staatshaushalt, der von Beginn an eine zentrale Schwachstelle in Tymoschenkos Regierungsführung darstellte, fanden auf der Sitzung ebenfalls keine Mehrheit. Das unkonsolidierte Budget wird weiterhin ein potentieller Stolperstein für Premierministerin Tymoschenko bleiben.

Die Lage der Kiewer Regierungskoalition ist verfahren. Präsident und Ministerpräsidentin reden seit Monaten nicht mehr unter vier Augen miteinander, obwohl ihre Parteien die Koalitionspartner sind. Im persönlichen Verhältnis der beiden sind, wie auch in der Koalition, zahlreiche Bruchstellen deutlich spürbar. Juschtschenko und Tymoschenko streiten sich schon monatelang verbissen über die Besetzungen des Postens des Generalstaatsanwalts und die Leitung des für Privatisierungen zuständigen Staatlichen Vermögensfonds. Beide Seiten versuchten in den vergangenen Monaten sogar, jeweils eigene Verfassungskommissionen aufzustellen, um „ihre“ Verfassungsänderungen durchzubringen. Während Juschtschenko sich dabei mehrfach für eine Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten aussprach, verteidigte Tymoschenko den Parlamentarismus und ging sogar soweit, ein rein parlamentarisches System mit einer „Kanzlerin“ Tymoschenko an der Spitze vorzuschlagen.

Im Zuge des Konflikts formierte ein Teil der Juschtschenko nahestehenden Abgeordneten aus der Fraktion Nascha Ukraina - Selbstverteidigung des Volkes um Ihor Kril, Oksana Bilozir und Wiktor Topolow im März 2008 die neue Partei „Einheitliches Zentrum“. Die Abgeordneten Rybakow und But, denen ebenfalls enge Verbindungen zur Präsidialadministration nachgesagt werden, erklärten am 6. Juni ihren „individuellen Austritt“ aus der Regierungskoalition. Die Konsequenzen sind zwar rechtlich umstritten, diese Vorgänge machen aber deutlich, dass Tymoschenkos Regierung über keine reale Parlamentsmehrheit mehr verfügt.

Gegen Innenminister Luzenko ist auf Betreiben des Lagers des Präsidenten sogar ein Ermittlungsverfahren anhängig. Auch versucht Juschtschenko, seinem ursprünglich aus Georgien stammenden, ehemaligen engen Vertrauten und jetzigem Finanzier der Luzenko-Bewegung „Selbstverteidigung des Volkes“, David Schwanja, die ukrainische Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Weder Präsident noch Ministerpräsidentin haben in dem Machtkonflikt bisher jedoch tatsächlich entscheidende Vorteile erreichen können. Die ehemals „orangen“ Kräfte haben sich durch ihre persönlichen Machtspiele in den Augen vieler Wähler diskreditiert. Die inhaltlichen politischen Fragen blieben unterdessen, wie schon im Krisenjahr 2007, fast völlig auf der Strecke.

JUSCHTSCHENKOS UND BALOHAS „MASTERPLAN“ IST GESCHEITERT

Der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko hatte, nachdem er im letzten Jahr aus seiner vielfach kritisierten Lethargie erwacht war und das Parlament auflöste, zunächst einen klar umrissenen Plan. Im Zentrum der machtpolitischen Überlegungen standen nach vorgezogenen Parlamentswahlen im September 2007 Verfassungsänderungen in Richtung eines wieder stärker präsidentiellen politischen Systems und eine große Koalition der Juschtschenko-treuen Parteien mit zumindest Teilen der Partei der Regionen. Nachdem das Wahlergebnis jedoch dem Präsidenten und seinem „Mann fürs Grobe“, dem Leiter der Präsidialverwaltung Wiktor Baloha, einen Strich durch die Rechnung machte, kam schließlich doch die Regierung Tymoschenko und die Koalition der ehemals „orangen“ Parteien um Nascha Ukraina und den Block Julija Tymoschenko zustande.

Der neue Plan von Baloha und Juschtschenko sah nun vor, die ungeliebte Premierministerin und mögliche Konkurrentin bei den nächsten Präsidentschaftswahlen Julija Tymoschenko zu diskreditieren und schnell zum Rücktritt zu zwingen, um doch noch eine andere politische Konfiguration zustande zu bringen. Seit dem Amtsamtritt Tymoschenkos überschreitet Juschtschenko in Permanenz seine Kompetenzen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Regierung nicht aus dem Präsidialamt oder über den vom Präsidenten gesteuerten Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat Anweisungen, Rügen und Zurechtweisungen erhält. Baloha kommentiert jede Entscheidung der Regierung, jede Aussage der Regierungschefin, jedes Treffen mit ausländischen Gästen und lässt kein gutes Haar an der Ministerpräsidentin, die eigentlich ja der Koalitionspartner ist und in deren Kabinett die Hälfte der Minister dem bisher präsidententreuen Block angehören.

Zeitgleich unternahm Präsident Juschtschenko mit der von ihm per Erlass im Dezember 2007 einberufenen Verfassungskommission den Versuch, eine auf ihn zugeschnittene Verfassung am Parlament vorbei per Referendum zur Abstimmung zu bringen. Drahtzieher Baloha schuf mit den aus Nascha Ukraina abtrünnigen Abgeordneten, die schon bei den Koalitionsverhandlungen immer wieder als Blockade gegen Tymoschenko eingesetzt worden waren die neue Partei „Einheitliches Zentrum“. Diese sollte nach Vorstellungen von Baloha als Plattform für die Präsidentschaftswahlen und möglicherweise sogar als neue Partei der Macht ausgebaut werden.

Dieser Plan ist jedoch klar gescheitert. Ministerpräsidentin Tymoschenko hält trotzig weiter die Stellung, obwohl sie das Land aufgrund der Einhegung durch den Präsidenten im Grunde kaum regieren kann. So darf sie beispielsweise aufgrund eines aktuellen Erlasses von Juschtschenko nicht einmal mehr die Gouverneure der ukrainischen Oblaste zur Kabinettssitzung einladen.

Juschtschenkos unverhohlene Instrumentalisierung der Verfassungskommission hat zur deutlichen Abkehr vieler zivilgesellschaftlicher Sympathisanten von ihm geführt. Die Kommission wurde mittlerweile kommentarlos eingestellt. Einige der ehemaligen Unterstützer Juschtschenkos in Politik und Zivilgesellschaft machen sich darüber hinaus Sorgen über das autoritäre Hineinzwingen von Gouverneuren und Staatsbediensteten in die neue Partei „Einheitliches Zentrum“ und die erwähnten Vorgänge um Schwanja, die beunruhigende Parallelen zur Kutschma-Zeit aufweisen. Das Parteiprojekt „Einheitliches Zentrum“ wirkt auf die ukrainischen Wähler abschreckend wie ein Rückfall in vergangen geglaubte Tage. Auch die durch Baloha vollmundig angekündigte „Vereinigung der Eliten“ durch den Übertritt wichtiger Figuren aus der Partei der Regionen in das „Einheitliche Zentrum“ ist nicht eingetreten.

Juschtschenkos eigene Partei, die Volksunion Nascha Ukraina, stürzte vor dem Hintergrund der Aktionen des Präsidenten bei den Wahlen zum Kiewer Stadtrat im Mai gnadenlos ab und ist mit 1,99 Prozent der Stimmen nicht einmal mehr im Stadtparlament vertreten. Präsidialamtschef Wiktor Baloha avancierte unterdessen für ukrainische Bürger und Politiker zum Buhmann Nummer eins. Wegen seiner mutmaßlichen kriminellen Vergangenheit, seiner ständigen Anmaßungen und Intrigen zählt er zu den unbeliebtesten Personen in der Ukraine überhaupt. Die öffentliche Zustimmung zu Präsident Juschtschenko ist mit etwa 6 Prozent aktuell sogar niedriger als die zu seinem Vorgänger Kutschma am Ende seiner Amtszeit. Eine Wiederwahl Juschtschenkos scheint vor diesem Hintergrund derzeit klar ausgeschlossen.

AUCH TYMOSCHENKOS KALKÜL GEHT NICHT AUF

Auch Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko hatte bei ihrer Amtsübernahme einen Plan, um die politische Macht ganz für sich zu gewinnen. Mit der schnell veranlassten, populistischen Auszahlung alter Sparguthaben aus der Sowjetzeit konnte sie zunächst auch nach der erfolgreichen Wahlkampagne weitere Punkte sammeln. Sie hatte vor, diese Auszahlungen wie auch ihren unkonsolidierten Staatshaushalt durch Privatisierungen von Staatsunternehmen zu finanzieren. Mit der Erzwingung vorgezogener Kommunalwahlen in Kiew wollte sie außerdem den verhassten Bürgermeister Tschernowetzki aus dem Weg räumen und gleichzeitig eine wichtige Plattform für die Präsidentschafskampagne erobern.

Mittlerweile musste Tymoschenko die Auszahlungen der alten Sparguthaben einstellen. Zu groß sind die Probleme mit dem Haushalt, zu stark ist die Wirkung der Auszahlungen auf die ohnehin schon hohe Inflation. Aus der Finanzierung der Ausgaben durch Privatisierungen ist nichts geworden. Präsident Juschtschenko hat alle Anstrengungen in diese Richtung bisher erfolgreich blockiert. Die spürbare allgemeine Preissteigerung wird zudem von den Bürgern vielfach der Regierungschefin zugeschrieben, die dadurch deutlich an öffentlicher Zustimmung verliert.

Als Tymoschenko im März 2008 auf juristisch fragwürdige Weise durch einen Beschluss des nationalen Parlaments die vorgezogenen Kommunalwahlen in Kiew herbeiführte, war noch mit einem klaren Sieg zu rechnen. Bei den Wahlen am 26. Mai zeigte sich jedoch, dass Tymoschenko sich zu stark exponiert hatte. Aufgrund der Machtspiele und der Uneinigkeit in den ehemals „orangen“ Kräften musste sie eine bittere Niederlage hinnehmen. Der von ihr gegen den eigenen Willen als Bürgermeisterkandidat ins Rennen geschickte enge Vertraute und Vizepremierminister Oleksandr Turtschynow wurde durch die klare Niederlage als Politiker erheblich beschädigt. Der Block Tymoschenko hat die eigene Stimmenzahl in Kiew im Vergleich zur Parlamentswahl im letzten September fast halbiert. Die zu Jahresbeginn noch deutlich spürbare Tymoschenko-Euphorie kühlte sich deutlich ab.

MACHTKONFLIKTE BELASTEN ENTWICKLUNG DER UKRAINE WEITER ERHEBLICH

Seit der Orangen Revolution zum Jahresende 2004 haben die politischen Eliten der Ukraine große Probleme, sich unter den Bedingungen des Pluralismus zurechtzufinden und versuchen permanent, den Machtzugang zu monopolisieren. Seit dem Amtsantritt der Regierung Tymoschenko im Dezember 2007 bleiben die politischen Hauptakteure der Ukraine aufeinander fixiert und verlieren dabei die gesellschaftlichen und politischen Probleme des Landes häufig aus den Augen. Das Handeln Juschtschenkos, Tymoschenkos, Janukowytschs und der anderen Spitzenpolitiker ist vor allem darauf angelegt, dem Gegner politischen Schaden zuzufügen. Posititiv definiertes und programmatisch orientiertes Agieren ist in der ukrainischen Politik noch immer kaum erkennbar. Gesetzgebung hat in der sechsten Legislaturperiode bis auf Personalentscheidungen und kleinere Ratifizierungen bisher faktisch nicht stattgefunden. Politische und gesellschaftliche Reformen im Sinne einer Annäherung an EU-Standards sind vom Gesetzgeber kaum thematisiert worden.

Die innenpolitischen Blockaden und die Fortsetzung der Dauerkrise der letzten Jahre belasten die außenpolitischen Ambitionen der Ukraine erheblich. Vor allem aufgrund der innenpolitischen Querelen steht man so bei den Vorbereitungen auf die Fußball-Europameisterschaft 2012 knapp vor dem Aus. In den Verhandlungen mit der EU um das erweiterte Abkommen geht es in den vielen Detailfragen der Freihandelszone nur mäßig voran. Vom EU-Ukraine-Gipfel im September hat die Ukraine aufgrund der innenpolitischen Lage sehr wahrscheinlich nur wenig zu erwarten und auch die Begründungen für die im April nicht erfolgte Aufnahme der Ukraine in den NATO-Mitgliedschaftsaktionsplan sind vor allem innenpolitisch ausgerichtet. Auch wenn im Lande immer wieder nach externen Gründen für die außenpolitischen Probleme gesucht wird, steht die Ukraine sich in all diesen Fragen derzeit klar selbst im Weg. Ohne echte Teamarbeit innerhalb der Koalition und zwischen Präsident und Ministerpräsidentin werden die stärkere Annäherung an die EU und die NATO weiter schwierig bleiben. In diesem Zusammenhang ist aber auch die Frage zu stellen, ob die aktuell formulierten externen Anreize im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik und der Kooperation mit der NATO oder auch innerhalb der neuen Initiative einer möglichen „Osteuropäischen Partnerschaft“ ein kooperatives Verhalten tatsächlich wirksam fördern können.

KLEINE SCHRITTE FÜR DIE UKRAINISCHE DEMOKRATIE

In der Gesamtschau hat sich die politische Lage in der Ukraine seit Jahresbeginn kaum verändert. Trotz veränderter Regierungskoalition wiederholen sich die lähmenden Blockaden der vergangenen Jahre. Einige Tendenzen sind dennoch auszumachen. Zwar thematisieren einige Politiker immer wieder erneute Neuwahlen als Ausweg aus der Krise, bisher sind aber keine ernstzunehmenden Aktivitäten in diese Richtung zu verzeichnen. Die großen Parteien haben aus unterschiedlichen Gründen derzeit kein Interesse an vorgezogenen Wahlen. Das zwingt sie jedoch dazu, innerhalb der bestehenden Konstellation nach Lösungen zu suchen. Die Verteufelung der politischen Gegner und die moralische Aufladung aller politischen Fragen haben in den vergangenen Monaten spürbar abgenommen. Es existieren funktionierende Kommunikationskanäle zwischen den politischen Kräften und Einigungen scheinen zwischen allen großen Parteien künftig möglich. Hinzu kommt, dass die Partei der Regionen, wie zuvor auch der Block Tymoschenko, die Erfahrung macht, dass man als Oppositionspartei durchaus eine signifikante politische Rolle spielen kann. Opposition wird nicht mehr automatisch mit Totalniederlage und Untergangsszenarien der eigenen Partei gleichgesetzt.

In der öffentlichen Meinung teilen die Ukrainer die Politiker deutlich weniger als zuvor in „gute“ und „böse“ ein. Vielmehr werden die Politiker zunehmend anhand ihrer Leistungen im Amt bewertet und bekommen, wie bei den Kiewer Kommunalwahlen demonstriert, für Fehlverhalten eine deutliche Quittung durch die Wähler. In der Konsequenz könnte das durchaus bedeuten, dass auch die sich für unersetzlich haltenden großen Parteiführer Juschtschenko, Tymoschenko und Janukowytsch bei den nächsten Wahlen Schwierigkeiten bekommen könnten.

Die Ausgangsbedingungen für die Konsolidierung der Demokratie in der Ukraine sind bekanntermaßen sehr schwierig. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus positiv zu bewerten, dass keine der politischen Kräfte der Ukraine derzeit die Machtausübung monopolisieren kann und der so erzwungene Pluralismus bestehen bleibt. Dadurch wird eine positive Demokratieentwicklung ermöglicht, auch wenn die Lernprozesse innerhalb der jetzigen politischen Eliten langsam verlaufen und diese immer wieder in autoritäre Denk- und Handlungsmuster zurückfallen.

Vor dem Hintergrund des hohen Niveaus der Presse- und Meinungsfreiheit in der Ukraine und der starken zivilgesellschaftlichen Aktivität bleibt zu hoffen, dass öffentlicher und gesellschaftlicher Druck die politischen Akteure schließlich stärker zu verantwortlichem Handeln bringen wird. Auch wenn die Situation für viele Ukrainer u nd Beobachter zuweilen frustrierend und chaotisch anmutet – demokratische Kräfte in anderen Staaten der GUS-Region wären vielfach froh darüber, die „ukrainischen Probleme“ zu haben.

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22. Juli 2008
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