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Zoubeir Souissi, Reuters

International Reports

Nach der Krise ist vor der Krise

by Janosch Lipowsky

In Tunesien fehlt nach wie vor ein gesellschaftlicher ­Konsens über das Gemeinwesen in der Demokratie

In Tunesien jagt seit zehn Jahren eine Krise die andere. Immer mehr Tunesier verbinden diese Abwärtsspirale mit der parlamentarischen Demokratie. Die Verschlechterung ihrer Situation liegt allerdings vor allem am fehlenden gesellschaftlichen Konsens über das Gemeinwesen und an der ungeklärten Frage, was es bedeutet, auch als Gesellschaft politische Verantwortung zu übernehmen. Eine verstärkte Dezentralisierung könnte helfen, diesen für die Demokratie essenziellen Wert zu schaffen.

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Vor einem Jahrzehnt wertete die Ratingagentur Moody’s den Kauf von tunesischen Langzeit-Staatsanleihen noch als sicheres Investment; im Februar 2021 stufte die Agentur Tunesiens Kreditwürdigkeit zum wiederholten Male herab und ordnete die Anleihen des Staates in die Kategorie „hochspekulative Investments“ ein – mit negativem Ausblick. Deshalb kann sich Tunesien nur noch zu horrenden Zinsen auf dem internationalen Kapitalmarkt mit Geld versorgen. Als Begründung für ihre Einschätzung nannte Moody’s den schrumpfenden Handlungsspielraum der Regierung zur Umsetzung von Reformen aufgrund des wachsenden sozialen Drucks.

Tatsächlich sehen die Perspektiven für die politische und sozioökonomische Stabilität Tunesiens düster aus – und das liegt nicht nur an der Coronakrise: Die sozioökonomischen Indikatoren und die Lage der Staatsfinanzen haben sich seit zehn Jahren kontinuierlich verschlechtert. Der Schuldenstand des Landes hat sich innerhalb eines Jahrzehnts fast verdoppelt und liegt nun bei circa 90 Prozent des BIP. Aktuell gibt Tunesien fast ein Fünftel des Staatshaushaltes zur Schuldentilgung aus – Tendenz steigend. Die Schulden der Staatsunternehmen sind dabei nicht eingerechnet.

 

Steigendes Defizit als Folge sozialer Unruhen

Diese Schieflage der Finanzen wurde vor allem durch ständige Forderungen verschiedener Gesellschaftsgruppen heraufbeschworen. Regelmäßig ist es der mächtige Gewerkschaftsbund UGTT, der für die Angestellten der staatlichen Institutionen und Firmen Gehaltserhöhungen erstreikt, mal sind es Abgeordnete, die mitten in der Coronakrise ein Gesetz zur Einstellung von 10.000 Langzeitarbeitslosen in den öffentlichen Dienst durch das Parlament bringen, dann wieder arbeitslose Doktoranden, die durch einen Hungerstreik ihre Aufnahme in den Staatsdienst erreichen. Zugenommen haben in den vergangenen Jahren auch gewalttätige Proteste von lokalen Bevölkerungsgruppen, die Arbeitsplätze und Investitionen in ihren Regionen fordern – so wie zum Beispiel im Herbst 2020 in der südlichen Region El-Kamour, wo monatelang gewinnbringende Ölförderfirmen lahmgelegt wurden.

Indem die Landbevölkerung Straßen blockiert oder Unternehmen besetzt, bewegt sie Politiker zu teuren Zugeständnissen und bringt den Staat gleichzeitig um wichtige Einnahmen. So ist die Öl- und Gasförderung seit 2011 wegen sozialer Revolten um etwa die Hälfte zurückgegangen, was nicht nur zu sinkenden Einnahmen des Staates führte, sondern auch zu Energieimporten zwang, die wiederum das Handelsdefizit vergrößerten. Besonders schlimm war die Entwicklung im Phosphatsektor: War Tunesien 2010 weltweit noch fünftgrößter Exporteur des Rohstoffes, musste das Land 2020 zum ersten Mal in seiner Geschichte Phosphat importieren, weil die Produktion des staatlichen Phosphatunternehmens permanent gestört wird.

 

Mehr ist manchmal weniger – Tunesiens Perspektiven verschlechtern sich

Problematisch ist, dass die steigenden Ausgaben wegen des schwachen jährlichen Durchschnittswachstums von 1,8 Prozent (inflationsbereinigt) im Zeitraum zwischen 2010 und 2019 nicht durch steigende Einnahmen gedeckt werden konnten und die sozialen Forderungen und Unruhen die wirtschaftliche Stagnation noch verschärften. In Tunesien ist seit jeher der Staat der Lenker und Motor der Wirtschaft. Unter dem Druck der steigenden Gehaltsmasse – Tunesien hat einen der größten Staatssektoren weltweit, der mittlerweile fast die Hälfte des Staatshaushaltes ausmacht – ist dieser Motor jedoch ins Stocken geraten.

Das liegt vor allem daran, dass die steigenden Ausgaben für Gehälter öffentliche Investitionen verdrängen, sowie an den knapp 200 Staatsbetrieben, von denen die überwältigende Mehrheit tiefrote Zahlen schreibt. Von den zehn größten Unternehmen in Tunesien gehören sechs dem Staat. Alle sind defizitär. Die davon abhängigen Mittelstandsunternehmen sind deshalb in einer prekären Lage.

Auch die steigenden Ausgaben des Staates kommen immer weniger der Bevölkerung zugute. Ein symptomatisches Beispiel ist der Bildungsbereich: Obwohl Tunesien seit 2011 im internationalen Vergleich überdurchschnittlich viel in Bildung investiert, haben die Leistungen der Schüler dramatisch abgenommen. Schafften 2010 noch mehr als 70 Prozent der Anwärter das Abitur, waren es 2018 nur noch 40 Prozent. Trotz maroder Schulinfrastruktur wurde vor allem für die Neueinstellungen von zum Teil unqualifiziertem Personal Geld ausgegeben – was aber nicht verhindert, dass streikende Lehrkräfte den Schulbetrieb lahmlegen.

 

Kosten der Misswirtschaft belasten die Bürger

Wie die Misere in den Schulen haben auch die Ereignisse in El-Kamour vielen Tunesiern vor Augen geführt, wie aussichtslos die Strategie des Staates ist, sich sozialen Frieden zu erkaufen. Dort hat der Staat der Bevölkerung als Reaktion auf die Proteste die Schaffung von 1.000 Stellen in sogenannten öffentlichen Umwelt- und Begrünungsunternehmen zugesichert, die ihren Beitrag zur Volkswirtschaft bisher schuldig geblieben sind. Die Erfüllung der Forderung ist zudem kein Garant für Ruhe: Die mittlerweile mehr als 10.000 Mitarbeiter legen immer wieder die Arbeit nieder, um Lohnerhöhungen zu erreichen.

Viele Tunesier haben die Entwicklung ihres Landes lange als teilweise unvermeidbare Begleiterscheinung des politischen Transformationsprozesses betrachtet und mehr oder weniger hingenommen. Doch die Resignation nimmt zu – und die Menschen spüren die Folgen der Entwicklung mittlerweile im eigenen Geldbeutel: Aufgrund der schlechten Konjunktur, fehlender Reformen und ausbleibender Einnahmen wurde der wachsende Staatshaushalt zunehmend durch Steuern und Abgaben finanziert – die Kosten für die Misswirtschaft wurden direkt auf die Bürger abgewälzt. Das macht sich vor allem bei der Sparquote bemerkbar, die durch die Erosion der Kaufkraft seit 2010 von 21 auf sechs Prozent schrumpfte. Angesichts dieser Situation ist es wenig verwunderlich, dass eine Mehrheit der Tunesier der Meinung ist, der „Arabische Frühling“ sei gescheitert.

 

Enttäuschte Hoffnungen

Tatsächlich sollte man bei aller Euphorie, die der tunesische Demokratisierungsprozess und die transparenten Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen gerade auch im Westen ausgelöst haben, nicht übersehen, dass sich die Mehrheit der Tunesier von der Revolution 2011 vor allem eine Verbesserung ihrer sozioökonomischen Verhältnisse erhofft hatte. Viele Tunesier in Regionen im Landesinneren begehrten damals gegen das System auf, weil sie sich von ihm wirtschaftlich benachteiligt fühlten.

Die Art der Veränderung wurde aber allein den Eliten überlassen. Der Demokratisierungsprozess war weniger das Ergebnis eines tunesischen Konsenses über die politische Systemfrage, sondern wurde deshalb mehrheitlich akzeptiert, weil er für sehr unterschiedliche politische Vorstellungen die größte Projektionsfläche bot und niemanden ausschloss. So fühlten sich in ihm sowohl solche Tunesier repräsentiert, die sich ganz allgemein mehr politische Freiheiten wünschten, als auch die Anhänger des bis dahin unterdrückten politischen Islam, die durch die Demokratie vor allem die Möglichkeit sahen, selbst endlich am politischen System teilhaben und es nach ihrer religiösen Vorstellung prägen zu können. Durch die Demokratie konnten sich alle Bürger am politischen Prozess beteiligen und damit im Prinzip über die Verteilung der staatlichen Ressourcen mitentscheiden.

 

Wer übernimmt im demokratischen Staat die Verantwortung?

Die Vorstellung, dass jeder einzelne Bürger Verantwortung für das Gemeinwesen trägt, war vielen Tunesiern allerdings fremd. Denn im autoritären Regime von Ben Ali war es der paternalistische Staat, der das Gemeinwohl definierte. Dieser duldete keinen Widerspruch – weder gegen seine Interpretation des Begriffs noch gegen die daraus resultierenden Entscheidungen – und nahm den Bürgern so die Verantwortung ab. Vor diesem Hintergrund war es für viele Tunesier – verständlicherweise – schwer, im Eifer des Umbruchs und nach Jahren der Unterdrückung das Spannungsverhältnis zwischen Einzelinteressen und Gemeinwohl in den Blick zu nehmen. Die vergangenen zehn Jahre haben in Tunesien deutlich gezeigt, dass für eine funktionierende Demokratie Wahlen und eine demokratische Verfassung alleine nicht ausreichen.

Diese Defizite wirken bis heute nach. Auf die Kraft einer rechtsstaatlichen Demokratie zu vertrauen sowie die Probleme der Menschen durch geordnete Verfahren zu erkennen und so anzugehen, dass ein positives Gesamtergebnis erzielt wird, ist für die Mehrheit der politischen Akteure in Tunesien, für die Verwaltung und die Bürger ein noch sehr abstraktes und mühseliges, weil langwieriges Unterfangen. Viel einfacher erscheint es, die Möglichkeiten des Systemwechsels zu nutzen, um kurzfristig bessergestellt zu werden. Nach Jahren der subjektiven und tatsächlichen Benachteiligung fühlen sich viele zu einer Art Selbstbedienung legitimiert. Damit übersehen sie aber, dass sie damit dem Gemeinwesen – und damit sich selbst – schaden. Denn jedes Mal, wenn es protestierenden Interessengruppen gelingt, ihre Forderungen durchzusetzen, finden sich Nachahmer.

 

Vor der Zerreißprobe

Auf diese Weise ist der Teufelskreis entstanden, in dem sich Tunesien heute befindet. Er stellt das Land vor eine Zerreißprobe. Denn unabhängig von der Frage, ob die einzelnen Forderungen legitim sind oder nicht, kann das Gemeinwesen diesen langfristig nur in dem Maße nachkommen, wie es die Ressourcen erlauben. Da das nationale Einkommen seit Jahren stagniert und der Staatshaushalt defizitär ist, stellt sich die Frage, wer die Lasten trägt.

Das Ergebnis ist ein Nullsummenspiel, in dem die einen als Gewinner dastehen und die anderen als Verlierer. Wie die Verteilung erfolgt, zeigt sich besonders an der Einkommensentwicklung bei den Angestellten des öffentlichen und des privaten Sektors: Während die erste Gruppe zwischen 2010 und 2017 von einem Anstieg ihrer Reallöhne um circa 30 Prozent profitierte und dadurch ihre Kaufkraft verbessern konnte, lag das Plus bei den Angestellten im nicht landwirtschaftlichen Privatsektor bei etwa drei Prozent. Angestellte im landwirtschaftlichen Sektor mussten sogar einen Kaufkraftverlust hinnehmen.

Angesichts dieser Entwicklung stellen sich mehr und mehr Tunesier die Frage, weshalb sie zu den Verlierern der Revolution gehören, während andere trotz finanzieller Schieflage des Staats zumindest auf den ersten Blick ihre Situation verbessern konnten. Da in Tunesien der Zugang zu politischer Macht traditionell über den wirtschaftlichen Erfolg entscheidet, hat das Nullsummenspiel die politische Ebene entlang dreier Narrative polarisiert.

 

Polarisierung zwischen Gewinnern und Verlierern der Revolution

Das erste Narrativ wird von den Anhängern der islamistischen Ennahda und des politischen Islam besetzt. 2011 haben sie Zugang zum politischen System erhalten – auf legale Art und Weise und durchaus erfolgreich. Aufgrund einer ausgeprägten Parteistruktur, eines starken Wählermobilisierungsapparates sowie einer Strategie der Kooptation von politischen Gegnern war die Partei, direkt oder indirekt, konstant an allen Regierungen seit 2011 beteiligt. Damit hat sich die Stellung von Ennahda – während des autoritären Regimes von Ben Ali rigoros verfolgt – durch die Demokratie deutlich verbessert. Gleichzeitig weiß die Partei aber auch, dass die Lage alles andere als unumkehrbar ist. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Ennahda, trotz der weiterhin islamistischen Agenda, im öffentlichen Diskurs die Errungenschaften der Demokratie und der Revolution am vehementesten verteidigt und die Lösung von Konflikten im „nationalen Dialog“ und „Konsens“ fordert.

Weite Teile der städtischen Mittelklasse und die Oberschicht, die seit der Unabhängigkeit des Landes mehrheitlich den säkularen und prowestlichen Kurs der autoritären Regime von Bourguiba und Ben Ali unterstützen, hängen einem zweiten Narrativ an: Spätestens seit den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung 2011 und der damit verbundenen Erfahrung, dass Ennahda als stärkste Kraft Einfluss auf für die Mehrheit der Tunesier fundamentale Errungenschaften wie die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau hatte und zukünftige demokratische Institutionen und Verfahren womöglich umgestalten könnte, sehen viele dieser Gruppe die Demokratie als Einfallstor der Islamisten in das politische System an. Seitdem unterstützen sie vor allem solche Parteien, die auf Konfrontationskurs mit dem politischen Islam gehen und ihn am liebsten wieder ausschließen würden. Aktuell steht die PDL und ihre Vorsitzende, die ehemalige Ben-Ali-Vertraute Abir Moussi, in der Gunst weiter Teile dieses Lagers.

Die Vertreter des dritten Narrativs sind weit heterogener als die beiden zuvor genannten Gruppen und stellen das Verhältnis von Religion und Staat weniger in den Fokus. In diesem Lager versammeln sich alle diejenigen, die die Revolution als ihr Verdienst sehen und sich seit zehn Jahren betrogen fühlen. Es sind vor allem die ewigen Verlierer Tunesiens: Jugendliche, arbeitslose Akademiker und Menschen aus den Regionen des Landesinneren, die endlich eine Zukunftsperspektive erhalten möchten. Diese Gruppen, die das Gros der Bevölkerung ausmachen, fühlen sich wohl am ehesten vom parteilosen Staatspräsidenten Kais Saied repräsentiert, der mit der Devise „das Volk will“ 2019 die Wahlen gewonnen hat. Dessen Narrativ, wonach die korrupten politischen und wirtschaftlichen Eliten für die Situation in Tunesien verantwortlich sind, reflektiert das eigene Denken dieser Menschen. Viele von ihnen unterstützen daher Saieds radikales Projekt einer lokalen und direkten Demokratie, durch das die Parteien marginalisiert werden würden.

 

Endemische Instabilität

Bei allen Unterschieden haben diese drei Narrative einen gemeinsamen Nenner: Sie entfalten ihre Kraft weniger durch eine konkrete politische Zukunftsperspektive für das Land als vielmehr durch Ressentiments gegenüber den politischen Gegnern. Weil aber bisher keines der Narrative die politische Oberhand gewinnen konnte, hat sich die tunesische Demokratie festgefahren – die sich bekämpfenden Blöcke möchten keine Zugeständnisse machen, die womöglich dem Gegner einen Vorteil verschaffen könnten. Dadurch kommt es im besten Fall in der Politik zu Minimalkompromissen wie der Verfassung von 2014.

Diese ist ein politischer Mittelweg zwischen dem von säkularen Kräften favorisierten präsidialen und dem von den Islamisten bevorzugten parlamentarischen System. In der Praxis ist es unwahrscheinlich, dass ein Block alle Macht auf sich vereinen kann. Gleichzeitig entstehen immer wieder Pattsituationen, die zu institutionellen Blockaden und einer endemischen politischen Instabilität führen. Das zeigt sich besonders an den permanenten Reibungen innerhalb der janusköpfigen Exekutive: Zwar sieht die Verfassung eine Aufteilung der Kompetenzen zwischen Staatspräsident und Regierungschef vor, eine Kooperation beider Institutionen blieb aber wegen der volatilen politischen Verhältnisse die Ausnahme.

Auf der einen Seite steht der Anspruch des direkt gewählten Staatspräsidenten, die politische Ausrichtung des Landes mitzugestalten, auf der anderen der Regierungschef, dem das Parlament jederzeit das Vertrauen entziehen kann, wenn dieser seinen Wünschen nicht nachkommt. Weil der Staatspräsident sich aber als Garant der Verfassung sieht, mischt er sich regelmäßig ein, indem er sich zum Beispiel weigert, Gesetze oder die Ernennungsurkunden von Ministern zu unterzeichnen. Ob dies legitim ist, daran bestehen unter Verfassungsrechtlern erhebliche Zweifel. Einen Ausweg aus den Blockaden gibt es bisher jedoch nicht.

Wegen dieser Verfassungskonflikte regen besonders die westlichen Partner Tunesiens das Land immer wieder an, endlich das vorgesehene Verfassungsgericht einzurichten. Nur dieses wäre in der Lage, Rechtsklarheit zu schaffen. Allerdings präferieren die politischen Blöcke wegen der Polarisierung eben genau diese Rechtsunklarheit: Keiner der Blöcke möchte riskieren, durch ein allen übergeordnetes Verfassungsgericht politisch in die Schranken gewiesen zu werden, denn das könnte den anderen Blöcken einen Vorteil in der Auseinandersetzung um die politische Vorherrschaft verschaffen.

 

Allgemeines Misstrauen, interne Zerwürfnisse

Aber selbst die Einrichtung des Verfassungsgerichtes wäre nicht die Lösung dieser Probleme. Es ist unwahrscheinlich, dass es in der aktuellen Konstellation überhaupt handlungsfähig wäre. Denn die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaates steht nicht nur in direkter Relation zu der Bereitschaft der Akteure, sich ihm zu unterwerfen, sondern ist auch abhängig von der Fähigkeit des Staates, die Rechtsprechung im Zweifel gegen Widerstand durchzusetzen. Beides setzt ein Vertrauen der Akteure in die Neutralität der Staatsorgane und deren Ausrichtung auf das Gemeinwohl voraus.

Doch gerade dieses für die rechtsstaatliche Demokratie essenzielle Vertrauen hat sich aufgrund der Polarisierung in Tunesien nicht entwickelt. Vielmehr herrschen ein allgemeines Misstrauen und die permanente Angst vor der Instrumentalisierung der Justiz und der Verwaltung. Letztere wird von den politischen Akteuren nicht mehr als Instrument zur Umsetzung des von ihnen definierten Gemeinwohls wahrgenommen, sondern als Vehikel genutzt, um Einzelinteressen zu befriedigen und den eigenen Platz im System unabhängig von der politischen Konjunktur zu sichern. Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, dass Parteien ihre Anhänger als Gegenleistung für politische Unterstützung in den Staatsdienst aufnehmen oder befördern lassen – meistens richten sich diese Vorwürfe gegen Ennahda. Das nährt in säkularen Kreisen die Befürchtung, dass die Islamisten so allmählich die Kontrolle über einzelne Staatsorgane gewinnen und diese Macht zum gegebenen Zeitpunkt ausspielen könnten.

Unabhängig von der Frage, ob diese Anschuldigungen stimmen, leidet die Handlungsfähigkeit des Staates an diesen internen Zerwürfnissen und der fehlenden Überzeugung von seiner Neutralität. Ohne letztere hat der Staat kein klares Mandat, um die geltenden Gesetze im Namen des Gemeinwesens durchzusetzen. So schafft er es nicht, sich gegen rechtswidrige Protestaktionen, wie die Unternehmensbesetzungen in El-Kamour, zu wehren. Und viele hohe Beamte in Staatsunternehmen und Institutionen schrecken vor wichtigen und unpopulären Entscheidungen zurück, weil sie fürchten, aus politischen Gründen persönlich in die Verantwortung genommen zu werden.

 

Lage spitzt sich weiter zu

In einem Land, in dem traditionell die Stärke des Systems an der Fähigkeit des Staates gemessen wird, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, bereitet die aktuelle Lähmung vielen zunehmend Sorgen. Es besteht das Risiko, dass vor allem diejenigen, die sich als Verlierer der Revolution sehen, ihre Lage als direkte Konsequenz des Demokratisierungsprozesses wahrnehmen und damit den Glauben an die Demokratie verlieren. In Meinungsumfragen erklärt sich schon jetzt eine Mehrheit der Tunesier bereit, mehr „Effektivität im politischen Handeln“ gegen „weniger demokratische Prinzipien“ einzutauschen.

Wie lange sich Tunesien den politischen Status quo vor diesem Hintergrund noch leisten kann, ist fraglich, denn von Jahr zu Jahr spitzt sich die Lage durch die Polarisierung weiter zu. Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass es dem Land im Laufe der vergangenen zehn Jahre immer wieder gelungen ist, in schwierigen Situationen Druck aus dem Kessel zu lassen. So zum Beispiel, als es dem „Quartett“ – bestehend aus dem Gewerkschaftsbund UGTT, dem Arbeitgeberdachverband UTICA, der tunesischen Menschenrechtsliga und der tunesischen Anwaltskammer – 2014 gelang, durch Vermittlung den Verfassungsgebungsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen und so eine Gewalteskalation zu verhindern. Bezeichnenderweise waren es aber vor allem Akteure aus der Zivilgesellschaft und nicht die Parteien, welche die Initiative übernahmen. Es waren auch keine geordneten Verfahren, die einen Ausweg aus der Krise ermöglichten.

Sieben Jahre später wird selbst für solche Minimalkompromisse der Spielraum kleiner. Denn immer mehr Tunesier sehen, dass das Vorhaben, die Herausforderungen des Landes durch die Suche nach einem permanenten nationalen Konsens apolitisch lösen zu wollen, aussichtslos ist. Auch ihnen wird zunehmend klar, dass es sich bei den großen Fragen des Landes – wie der Rolle des Staates in der Wirtschaft – um eminent politische Entscheidungen handelt, die nur durch unpopuläre Reformen angegangen werden können. Damit steigt auch das Bewusstsein dafür, dass es auch Verlierer wird geben müssen.

Zu denen möchte jedoch niemand zählen, was die Bereitschaft zur Konfrontation verstärkt. Darauf deuten repräsentative Meinungsumfragen hin, in denen 70 Prozent der Befragten angeben, eher eine bipolare statt der aktuellen Mehrparteiendemokratie zu bevorzugen. Das zeigt aber auch der Zuspruch für Populisten und Hardliner. Dieser gilt zum einen der in aktuellen Meinungsumfragen führenden PDL, die offen für die Einstufung der Ennahda-nahen Muslimbruderschaft als Terrororganisation plädiert, und zum anderen radikalreligiösen Parteien im Parlament, denen der Kurs von Ennahda zu konsensorientiert ist. Nicht zuletzt heizt auch Staatpräsident Kais Saied seit seiner Wahl 2019 seine Anhänger immer wieder an, indem er von im Schatten agierenden Gegnern des Staates und des Volkes spricht, ohne dabei je konkret zu werden.

 

Demokratie ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung

Wie angespannt die Lage ist, zeigen die Demonstrationen und politischen Kundgebungen, die seit Anfang des Jahres regelmäßig Tausende Menschen auf die Straße bringen. Zu Ausschreitungen kam es bisher nur gelegentlich. Gefährlich ist aber, dass politische Akteure weiter Öl ins Feuer gießen: Im Januar kündigten hochrangige Ennahda-Parteimitglieder im Fernsehen unverhohlen an, die „Kinder Ennahdas“ stünden bereit, um Sicherheitskräfte im Kampf gegen Plünderer und Randalierer zu unterstützen.

Ob die Lage eskalieren wird, darüber lässt sich nur spekulieren. Sicher ist, dass die Demokratie aktuell mehr spaltet, als dass sie die Gesellschaft zusammenhält. Das macht sie aber nicht zur Ursache des Problems; vielmehr haben gerade die Spannungen der letzten zehn Jahre deutlich gemacht, dass nur die pluralistische Demokratie Tunesien langfristig Stabilität bescheren kann – wenn sie am Gemeinwesen ausgerichtet wird.

Damit die Demokratie zum Erfolg wird, muss sie als Gemeinschaftsprojekt verstanden werden. Dazu reicht es jedoch nicht aus, nur die Wirtschaft anzukurbeln und das Wirtschaftsmodell zu modernisieren. Die Tunesier müssen zudem konkret erleben, dass Demokratie in der Lage ist, Missstände zu erkennen und durch konkrete und wirtschaftlich nachhaltige Lösungsansätze so zu beheben, dass das Gemeinwesen davon profitiert. Dafür wiederum braucht es eine kooperative Grundeinstellung und die Bereitschaft, auch die politische Opposition an der Debatte um die Auslegung des Begriffes des Gemeinwohls zu beteiligen.

 

Dezentralisierung als Chance

Einen Ansatz, wie die Voraussetzungen einer funktionierenden Demokratie geschaffen werden können, könnte die Demokratie selber liefern, nämlich durch die Stärkung der bisher nur halbherzig umgesetzten Reform der Dezentralisierung. Auf dem Papier sieht sie bis 2030 schrittweise ein Mehr an finanzieller und operativer Autonomie der Regionen und Kommunen vor. De facto ist die Dezentralisierung bis heute aber vor allem eine weitere Quelle der Frustration für Bürger und Gemeinderäte.

Erstere hatten sich von ihr ein verbessertes Angebot und einen besseren Zugang zu öffentlichen Gütern, besonders in den Regionen im Landesinneren, versprochen. Letztere hatten auf mehr Unterstützung des Staates gehofft, um die Probleme der Bürger tatsächlich dezentral angehen zu können. In der Praxis wurden alle enttäuscht, weil der lokalen Ebene vom Staat zugesagte Mittel fehlen und Beamte der Zentralverwaltung den Akteuren die Unterstützung verweigern.

Tatsächlich stockt die Reform nicht wegen einer fehlenden Umsetzung der politischen Dezentralisierung – die Auswahl der Gemeinderäte durch transparente Wahlen und die Verankerung von lokaler Demokratie sind durchaus ein Erfolg. Das Problem ist die fehlende Dezentralisierung der staatlichen Strukturen, auf deren Hilfe die Kommunen bei ihrer Umstrukturierung angewiesen sind. Es fehlt den Ablegern der staatlichen Verwaltung und den öffentlichen Unternehmen in vielen Bereichen – wie der Wasser- und Elektrizitätsversorgung, dem Bildungs- und Gesundheitswesen oder den Verwaltungsgerichten – bis heute in weiten Teilen des Landes nicht nur an finanziellen Mitteln, sondern auch an technischem Know-how und an Personal. Viele qualifizierte Beamte möchten nicht in die Regionen versetzt werden – wegen der wenig attraktiven Lebensbedingungen und der zum Teil aggressiven Forderungen der Lokalbevölkerung. Mit diesen müssen sich dann vor allem die Kommunen auseinandersetzen, gleichwohl sie wegen fehlender Entscheidungskompetenzen nicht auf sie eingehen können.

Trotz der bisherigen Ernüchterung könnte eine Neuausrichtung des Dezentralisierungsprozesses einen Beitrag zur Lösung der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Krise leisten. Denn wenn es gelingt, die Kommunen so zu unterstützen, dass sie in die Lage versetzt werden, die Anliegen der Bürger vor Ort zu erkennen und zu bewältigen, dann wird auch das Interesse der Bevölkerung wachsen, an der Gestaltung der Kommunalpolitik, deren Auswirkungen sie direkt spüren, teilzuhaben. Durch eine stärkere Partizipation an lokalen Entscheidungen können die Bürger wiederum für die Möglichkeiten und Grenzen der öffentlichen Hand sowie für die Verfahren demokratischer Willensbildungs-, Entscheidungs- und Interessenausgleichsprozesse sensibilisiert werden. Dadurch kann ein konkretes Gefühl für das Gemeinwesen und eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft auf lokaler Ebene gefördert werden. Im Erfolgsfall kann so eine Generation von Bürgern und Politikern heranwachsen, die Politik nach dem Subsidiaritätsprinzip interpretieren: Demnach ist die lokale Demokratie die politische Ebene, auf der alltägliche Angelegenheiten von den Betroffenen im direkten Umgang miteinander geregelt werden. Auf der nationalen Ebene wiederum werden in erster Linie Rahmenbedingungen für die Allgemeinheit geschaffen.

Das größte Hindernis für eine solche Entwicklung ist ein falsches Verständnis von Dezentralisierung: Viele Tunesier glauben, dass es sich um ein Nullsummenspiel handelt, bei dem die Stärkung der Kommunen auf die Schwächung des Staates hinauslaufen würde. Dabei könnte der Staat gestärkt aus dem Prozess der Dezentralisierung hervorgehen. Zum einen, weil er seine Legitimität und Akzeptanz bei der Bevölkerung erhöhen könnte, wenn nicht mehr alles zentral in der Hauptstadt entschieden würde. Zum anderen, weil er sich so wieder seinen Kernthemen widmen könnte: der nationalen Sicherheit, der Außenpolitik und nicht zuletzt der Regulierung der Wirtschaftsordnung.

Gerade auch an diesem letzten Punkt wird sich die Frage der tunesischen Demokratie entscheiden. Möchte der Staat weiterhin ein Verteiler von ökonomischen Renten sein und dadurch dem permanenten Druck von Gruppeninteressen ausgesetzt bleiben? Oder wird er sich als starker, regulierender Staat auf die Funktionsfähigkeit freier Märkte konzentrieren, um bessere Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und für die wachsende innovative Start-up-Szene zu schaffen und so endlich das Potenzial des Landes und der gebildeten Bevölkerung auszuschöpfen?

Natürlich müssten für eine wirkliche Dezentralisierung zusätzliche finanzielle Mittel mobilisiert werden. Aber diese müssten nicht zwangsweise das Staatsbudget belasten. Es gibt viele internationale Partner, die einen Großteil ihrer an Tunesien zugesagten Mittel aus Mangel an konkreten Projekten und fehlendem Willen der Verwaltung noch nicht freigegeben haben. Vor allem aber hat der Staat durchaus Mittel, die in der Dezentralisierung sicherlich besser eingesetzt wären als zum Beispiel für die Schaffung von Umwelt- und Begrünungsunternehmen.

Am Ende ist es eine Frage der Prioritätensetzung der Politik – solange diese dazu noch die Möglichkeit hat. Denn man darf nicht vergessen, dass der Erfolg der politischen Revolution in Tunesien nur dann nachhaltig sein kann, wenn das System auch die materielle Situation der Bevölkerung verbessert: Auch im Westen konnte sich die liberale Demokratie vor allem deshalb gegenüber den autoritären Modellen des Faschismus und des Kommunismus durchsetzen, weil der Beweis erbracht wurde, dass ein Mehr an Freiheit auch zu einem Mehr an Wohlstand führt.

 


 

Janosch Lipowsky ist als Politikberater in Tunesien tätig. Zuvor war er Trainee im dortigen Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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