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Country Reports

Ein Jahr Regierung Ricardo Lagos

Schicksal der politischen Reformen in Chile

Gut ein Jahr nach der Amtsübernahme durch Staatspräsident Lagos mit der Koalition der "Concertación" stellt sich die Frage nach dem bisher Erreichten, insbesondere vor dem Hintergrund der Ankündigungen seiner ersten Regierungserklärung vom 21. Mai 2000 (weniger vor dem Hintergrund der vollmundigen Wahlversprechungen) und der nachfolgenden Bilanz ein Jahr später. Von punktuellen Maßnahmen einmal abgesehen fiel es noch vor einigen Wochen schwer, konkrete Ergebnisse dieser Ankündigungen zu identifizieren.

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Gut ein Jahr nach der Amtsübernahme durch Staatspräsident Lagos mit der Koalition der "Concertación" stellt sich die Frage nach dem bisher Erreichten, insbesondere vor dem Hintergrund der Ankündigungen seiner ersten Regierungserklärung vom 21. Mai 2000 (weniger vor dem Hintergrund der vollmundigen Wahlversprechungen) und der nachfolgenden Bilanz ein Jahr später. Von punktuellen Maßnahmen einmal abgesehen fiel es noch vor einigen Wochen schwer, konkrete Ergebnisse dieser Ankündigungen zu identifizieren.


Politisch relevante Reformen (wie z.B. die Justizreform, in deren Rahmen in der Implementierungsphase erstmalig ein mündliches Verfahren in Chile stattfand) oder die sog. "Mesa de Diálogo", d.h. das Dialogforum Militärs-Menschrechtsanwälte, gehen eindeutig noch auf Initiativen der vorangegangenen Regierung unter Eduardo Frei und die Minister Soledad Alvear (Justiz) bzw. Edmundo Perez Yoma (Verteidigung) zurück, wenn auch insbesondere im Falle der "Mesa de Diálogo" dem aktuellen Verteidigungsminister Mario Fernandez ein wesentliches Verdienst bei der Weiterführung und dem erfolgreichen Abschluß der Initiative zukommt.

Die übrigen von Lagos offensiv angegangenen substantiellen Reformen in den Bereichen Arbeitsgesetzgebung (insbesondere Arbeitslosenversicherung), Meinungsfreiheit und Konjunkturbelebung schienen zunächst zu versanden bzw. in einem unendlichen Diskussionsprozess zwischen Exekutive und Legislative steckenzubleiben.

Um so bemerkenswerter die Durchbrüche, die in den letzten Wochen erzielt wurden:

Presserecht - Meinungsfreiheit

Noch Mitte März wurde Chile von Human Rights Watch in ihrem Jahresbericht als das Land innerhalb Lateinamerikas (mit Ausnahme Cubas) mit der schlechtesten Bilanz in Sachen Meinungsfreiheit eingestuft. Diese Stellungnahme wurde von Präsident Lagos "mit Bitterkeit" zur Kenntnis genommen, der gleichzeitig Human Rights Watch eine "außerordentliche Glaubwürdigkeit" einräumte und bemerkte, dass Chile in dieser Hinsicht "seine Hausaufgaben nicht gemacht habe" (Vgl.Artikel in El Mercurio vom 16.3.01.)

Gleichzeitig erläuterte der Geschäftsführer dieser Organisation, José Miguel Vivanco, dass diese negative Einstufung v.a. darauf basiere, dass der politischen Klasse in Chile Schutzklauseln zustehen, die noch aus der Zeit vor der Militärdiktatur stammen und dass es ein tiefes Misstrauen gegenüber einer offenen öffentlichen Debatte gebe. Er kritisierte ferner, dass dieses Misstrauen nicht nur bei den konservativen, sondern auch bei den progressiven politischen Strömungen vorhanden sei. Nach wie vor bestehe die Möglichkeit für hohe Beamte, Richter und Politiker, etwa mit Bezug auf die Gesetze der inneren Sicherheit gegen sie gerichtete Meinungsäußerungen verbieten zu lassen.

Es sei in diesem Zusammenhang an den Fall der Journalistin Angelica Matus erinnert, die mit ihrem "Libro Negro de la Justicia Chilena" vor zwei Jahren unlautere Praktiken in der chilenischen Justiz anprangerte, worauf einer der angegriffenen Richter (Servando Jordán) dieses Buch auf richterlichem Wege unter Berufung auf eben diese Gesetzeslage verbieten ließ und ein Strafverfahren gegen die Journalistin durchsetzte, die seitdem im Ausland leben muss.

Die Gesetzeslage und auch das gesellschaftliche Verhalten in Chile rechtfertigen demnach die harsche Kritik von Human Rights Watch und sind der Hintergrund der seit Jahren andauernden Debatte über eine Neufassung des chilenischen Pressegesetzes (Ley de Prensa), das schon unter Patricio Aylwin modifiziert werden sollte. Dieser hatte 1993 einen ersten Entwurf an den Kongress weitergeleitet, wo er jedoch - auch unter Frei - nicht konsensfähig war.

Erst unter Lagos wurde diese Initiative wieder aufgenommen und letztlich von beiden Kammern verabschiedet. Damit kann dieses Gesetz, zusammen mit dem Gesetz zur Abschaffung der Todesstrafe vor wenigen Wochen, das zweifelhafte Privileg der längsten parlamentarischen Verhandlung für sich in Anspruch nehmen.

Die wesentlichen Änderungen gegenüber der alten Rechtslage sind:

  • Abschaffung des Sonderprivilegs für hohe Beamte und Autoritäten, besondere juristische Verfahren wegen Beleidigung u.ä. gegen Journalisten zu beantragen; es bleibt ihnen jedoch wie jedem Bürger vorbehalten, dies auf dem normalen Rechtsweg zu tun
  • die Richter können keine Informationssperre bei laufenden Prozessen verhängen
  • kein Journalist kann mehr durch ein Militärgericht belangt werden
  • die Medien unterliegen ab sofort dem Antimonopolgesetz
  • der Schutz der Informationsquelle des Journalisten wird eingeführt
  • das Recht der Journalisten auf Schutz ihrer Artikel vor Modifizierungen durch die Redakteure wird eingeführt
  • die Staatsorgane und die staatlichen Unternehmen können für die Pressearbeit nur registrierte Journalisten unter Vertrag nehmen.


In der parlamentarischen Debatte war von Seiten der Regierung und der Regierungspartien insbesondere die Besitzkonzentration der Medien in Chile kritisiert worden (von daher die Bedeutung der Einbeziehung in die Antimonopolgesetze). Ein Einzelaspekt, nämlich die angestrebte Pflicht der Medien ihre Auflagenzahlen zu veröffentlichen (kurioserweise eines der großen Geheimnisse auf dem chilenischen Medienmarkt !) fand allerdings keine Mehrheit im Senat (unter Hinweis auf die Verfassungsmäßigkeit) und muss nun vor dem Verfassungsgericht nachbehandelt werden.

Die gesellschaftspolitische Relevanz dieser Reform kann - bei aller Kritik an Einzelheiten des Gesetzes - nicht hoch genug eingestuft werden. Angesichts der oben aufgelisteten Änderungen wird deutlich, wie eingeschränkt die Presse- und Meinungsfreiheit in Chile in der Tat bisher war. Dies, gepaart mit der enormen Besitzkonzentration v.a. bei den Printmedien, und den daraus resultierenden Einschränkungen und z.T. deutlichen Manipulationen bei Nachrichten sowie den Auswirkungen auf die Wettbewerbssituation in der Politik bei der Meinungsvielfalt waren und sind Elemente, die Schatten auf die Demokratiequalität in Chile werfen.

Mit dieser Gesetzesänderung ist jedoch ohne Zweifel ein großer Schritt in die richtige Richtung gelungen und Lagos kann dies zu Recht als einer der wichtigen Fortschritte in seiner Bilanz am 21. Mai verkünden.

Arbeitsgesetzgebung

Im Kontext der Modifizierung der gültigen Arbeitsgesetzgebung sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Es geht dabei zum einen um einen Gesamtentwurf unter dem Titel "Reforma Laboral", zum anderen um das spezifische Thema der Arbeitslosenversicherung (ein zentrales Anliegen von Lagos sowohl im Wahlkampf wie auch in der Regierungserklärung 2000), sowie um die konjunkturelle Diskussion über den Mindestlohn.

- Reforma Laboral

Ohne an dieser Stelle auf alle Einzelheiten des Reformpaketes eingehen zu können, beinhaltet die Reform als Eckpunkte die Aspekte der gewerkschaftlichen Organisation und Lohnverhandlungen auf Betriebsebene sowie die Frage der Flexibilisierung der Arbeitszeiten und der Arbeitsplatzgarantien.

Interessanterweise gehen bei der Diskussion dieser Reform die Positionen auch innerhalb der Regierungskoalition auseinander. Insbesondere bei den Christdemokraten haben sich die Positionen dahingehend verhärtet, dass der Arbeitnehmerflügel der Partei (angeführt von den Senatoren Mariano di Giogio und José Ruiz-Esquide, den Abgeordneten Seguel und Rozas sowie des Parteivorsitzenden Hormazábal) für das ursprüngliche, in der Regierung Frei eingereichte Projekt votiert, das die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Organisation auf Betriebsebene stärkt, Tarifverhandlungen auf Branchenebene vorsieht und der Flexibilisierung der Arbeitszeiten insofern Grenzen setzt, als die Begrenzung der Gesamtarbeitszeit eindeutig festgeschrieben wird.

Demgegenüber favorisieren Vertreter liberalerer bzw. unternehmerfreundlicherer Positionen in der DC, angeführt von den Senatoren Foxley, Boeninger und Valdes u.a. das aktuelle Reformprojekt der Regierung, welches die oben genannten Positionen aufweicht und den Unternehmern breitere Spielräume gibt. Dies erfolgt insbesondere unter Hinweis auf die Arbeitsmarktsituation und die allgemein schwache Konjunktur und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer breiteren Flexibilität am Arbeitsmarkt, um wieder neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Kurioserweise halten sich die Parteien des Präsidenten selbst (PS und PPD) auffällig zurück, die auf Grund ihrer programmatischen Positionen und auch ihrer eigenen Geschichte einen weitaus aktiveren Part in dieser Debatte einnehmen sollten.

Es darf vermutet werden, dass dies in erster Linie aus parteipolitischer Disziplin und Rücksicht auf den Staatspräsident erfolgt, der dieses Reformprojekt gerne auch vor dem 21. Mai verabschiedet sehen will. Ob dies gelingt, darf allerdings bei der derzeitigen Sachlage bezweifelt werden.

Die Debatte bei den Christdemokraten ist hingegen verständlich. Sie entspricht unterschiedlichen Positionen innerhalb der Partei, die traditionell immer bestanden haben. Wenig überzeugend ist allerdings die Art und Weise, w i e diese Debatte erfolgt, da die Christdemokraten so als innerlich zerstritten in der Öffentlichkeit dargestellt werden, was dem Erscheinungsbild kaum zugute kommt.

- Arbeitslosenversicherung

Nach intensiver Debatte, auch geprägt durch die aktuelle Konjunkturschwäche (und den entsprechenden Argumenten von Unternehmern und rechten Oppositionsparteien hinsichtlich der Benachteiligung der Wettbewerbsfähigkeit chilenischer Unternehmen bei Einführung dieser Versicherung) wurde am 18. April der Gesetzesentwurf zur Einführung einer Arbeitslosenversicherung definitiv verabschiedet, so dass nun der Inkraftsetzung durch den Staatspräsidenten und den Arbeitsminister nach der formalen Prüfung durch das Oberste Verfassungsgericht nichts mehr im Wege steht.

In der Praxis wird allerdings diese Versicherung erst ab Mai 2003 wirksam, da der entsprechende Fonds erst durch die Beiträge angespart werden muss. Die Beiträge belaufen sich auf 3% des monatlichen Einkommens, von denen 0,6% auf den Arbeitnehmer und 2,4% auf den Arbeitgeber entfallen. Von diesen 2,4% gehen 1,6% auf das individuelle Konto des Arbeitnehmers und 0,8% in einen Solidarfonds, der zusätzlich durch einen staatlichen Zuschuss von 10 Mio. US Dollar jährlich gespeist wird (dieser Betrag entspricht der aktuellen jährlichen staatlichen Subvention der Arbeitslosigkeit).

Nutznießer (automatisch und obligatorisch) dieser Versicherung sind die Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach Inkrafttreten dieses Gesetzes beginnt und die mindestens 12 Monate in die Versicherung eingezahlt haben. Für die bestehenden Arbeitsverhältnisse ist der Beitritt zur Versicherung freiwillig. Die Auszahlung erfolgt bis zu 5 Monaten nach Ende des Arbeitsverhältnisses auf der Basis von 50% des Durchschnittslohnes der letzten 12 Monate.

Bei den Arbeitnehmern, bei denen die individuelle angesparten Beiträge diese Summe nicht erreichen, greift der oben erwähnte Solidarfonds, der einen Mindestbetrag (im ersten Monat der Arbeitslosigkeit) von 65.000. chil. Pesos und einen Höchstbetrag von 125.000 chil. Pesos vorsieht (aktueller Wechselkurs vom 25.4. 1 Us Dollar = 601 chil. Pesos).

Im konkreten Fall stellt dies für die Arbeitnehmer eine spürbare Verbesserung dar gegenüber der aktuellen Situation (Auszahlung einer Abfindung, basierend auf einem Monatslohn pro Vertragsjahr, verbunden mit einigen Einschränkungen und Höchstsätzen), wie einzelne Beispielrechnungen verdeutlichen.

Präsident Lagos kann hiermit ein weiteres konkretes Ergebnis vermelden, was zweifellos einen wichtigen Meilenstein für mehr soziale Gerechtigkeit in Chile darstellt.

- Mindestlohn

Im Vorfeld des 1. Mai hat eine Debatte um die Anpassung des Mindestlohnes in Chile begonnen. Gegenwärtig liegt dieser bei 100.000 chil. Pesos pro Monat bei volljährigen Arbeitnehmern bis 65 Jahren (unter 18 Jahre und über 65 Jahre bei 77.404, Hausangestellte 75.000).

Bisher herrscht auf Seiten der Regierung noch hermetisches Schweigen vor der Dreierrunde zwischen Gewerkschaftsdachverband CUT, Arbeitgebern und Regierung.

Nach den Lohnanpassungen für die öffentlichen Angestellten um 4,3% (analog zur Inflationsrate des Vorjahres) wird davon ausgegangen, dass dies zumindest eine Basis für die Verhandlungen sein wird, auch wenn die CUT bereits verlauten ließ, dass sie mit einer Forderung von +10% antreten wird, da der simple Inflationsausgleich nicht den realen Kaufkraftverlust abdecken würde.

Auf Grund der Haushaltsbeschränkungen wäre es jedoch auch nicht verwunderlich, wenn die Regierung und auch die Unternehmer auf einer Nullrunde bestehen würden, was dann wiederum Mobilisierungen der Arbeitnehmer am 1. Mai nach sich ziehen würde.

Die Verhandlungen über den Mindestlohn betreffen Schätzungen des Arbeitsministeriums zur Folge gut 400.000 Arbeitnehmer in Chile.

Ausstehende Reformen

Neben diesen konkreten Reformen hat die Regierung Verhandlungen mit den Parteien und den Parlamentariern begonnen, die auch die sog. "harten" Reformen im politischen Bereich betreffen:

  • Amtsperiode des Präsidenten (Verkürzung auf 4 Jahre, ggf. ohne Wiederwahl)
  • Wahltermine (Zusammenlegung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen)
  • Abschaffung der designierten Senatoren
  • Änderung des Wahlsystems (vom binominalen zum Verhältniswahlrecht)
  • Verhältnis zu den Streitkräften (u.a. Wiederherstellung der Befugnis des Staatspräsidenten, die Oberkommandierenden der Streitkräfte abzusetzen, Abschaffung der Exklusivität d er Streitkräfte bei der Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung, etc.)


Diese Themen werden realistischerweise erst nach den Parlamentswahlen im Dezember in Angriff genommen werden, um sie nicht mit den akuten Wahlkampfthemen zu vermischen.

Zeitlich näher könnte da schon die angestrebte Reform des Gesundheitswesen stehen, bei der sich die Diskussion um eine sinnvolle und wirkungsvolle Kombination der privaten Versicherungen (ISAPRES) mit der staatlichen Krankenversicherung (FONASA) dreht. Knackpunkt ist hierbei in erster Linie die Aufteilung der gesetzlich vorgeschriebenen Abzüge vom Gehalt, die bisher rein individuell ausgerichtet sind und keine nennenswerte Solidarkomponente beinhalten.

Auch hier sind wieder zwischen Regierung und Opposition, aber auch innerhalb der Concertación heftige Debatten zu erwarten.

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Andreas Michael Klein

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Director Regional Programme Political Dialogue Asia

andreas.klein@kas.de +65 6603 6162

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