Charakteristisch für die Christlich-Demokratische Union (CDU) ist ihre föderale Ausprägung mit einflussreichen Landesverbänden. Der Ursprung dieser Entwicklung liegt in ihrer Gründungsgeschichte. Es gab nicht ein zentrales Gründungsdatum der CDU, sondern im Laufe des Jahres 1945 schlossen sich an verschiedenen Orten des untergegangenen Deutschen Reiches Männer und Frauen zusammen, die ihr Land im Sinne einer demokratischen und wertegeleiteten Politik auf christlicher Grundlage wiederaufbauen wollten. Ihre Wertvorstellungen und politischen Ziele fassten sie in programmatische Aufrufe. Überregionale Bedeutung haben insbesondere der Gründungsaufruf der CDU in der früheren Reichshauptstadt Berlin (26. Juni 1945), die „Kölner Leitsätze“ rheinischer Christlicher Demokraten vom 1. Juli 1945 sowie die am 15. September 1945 beschlossenen „Frankfurter Leitsätze“ erlangt.
Föderalismus und staatliche Einheit nicht als Gegensätze
Bis zur Gründung der CDU als Bundespartei sollten freilich noch fünf weitere Jahre vergehen. Erst 1950, genauer gesagt am 20. Oktober des Jahres, wurde die CDU als Bundespartei gegründet und Konrad Adenauer zum ersten Bundesvorsitzenden gewählt – zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit einem Jahr Bundeskanzler. In den Jahren bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 spielte sich die Parteipolitik auf der Ebene der Besatzungszonen und der Länder ab, wobei in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die CDU-Vertreter schon seit Sommer 1945 zunehmenden Repressalien ausgesetzt waren und sich ihr weiterer Weg von dem in den drei westlichen Besatzungszonen deutlich unterschied.
Trotz oder gerade aufgrund des föderalen Gründungsprozesses an vielen verschiedenen Orten gab es bereits 1945 das Bestreben der CDU-Gründer, sich, obwohl ein intakter deutscher Nationalstaat damals nicht bestand, überregional zusammenzufinden und zu vernetzen. Diesem Zweck sollte ein erstes so genanntes „Reichstreffen“ Christlicher Demokraten aus allen vier Besatzungszonen dienen, das vom 14. bis 16. Dezember 1945 in Bad Godesberg in der Nähe von Bonn stattfand, bei dem die eigenständig agierende bayerische CSU jedoch nicht vertreten war. Die Angaben über die Teilnehmerzahl divergieren zwischen 130 und 250 Delegierten, wobei letztere Angabe laut Horstwalter Heitzer als „weit überzogen“ gilt.
Die Repräsentanten der CDU aus der SBZ unter ihrem Vorsitzenden Andreas Hermes wurden von der Sowjetischen Besatzung an der Teilnahme gehindert, ebenso durften Christliche Demokraten aus der Französischen Zone nicht teilnehmen. Im Ergebnis kamen fast nur CDU-Vertreter aus der Britischen und der Amerikanischen Zone in Bad Godesberg zusammen, so dass der Begriff „Reichstreffen“ eigentlich etwas hochgegriffen war. Politisch sollte mit dieser „nationalen“ Zusammenkunft auch das Ziel des staatlichen Fortbestehens Deutschlands zum Ausdruck gebracht werden. Die Gliederung von Partei und Staat sollten hingegen künftig föderal gestaltet sein. Das entsprach nicht nur den faktischen politischen Gegebenheiten, sondern nach der ideologischen und räumlichen Entgrenzung durch die Nationalsozialisten war die föderalistische Idee, die in Deutschland zudem eine lange Tradition besaß, nach Kriegsende durchaus populär.
„Neue Politik aus dem Geiste des Christentums und der Demokratie“
Ein wegweisender Beschluss des Bad Godesberger „Reichstreffens“ bestand darin, dem Berliner Vorbild folgend, einheitlich den Namen „Christlich-Demokratische Union“ anzunehmen. Einzig die abwesende CSU in Bayern blieb somit auch hinsichtlich des Namens bei ihrer Eigenständigkeit.
Darüber hinaus wurde eine gemeinsame Erklärung unter dem Titel „Neue Politik aus dem Geiste des Christentums und der Demokratie“, die aus mehreren programmatischen Entschließungen bestand, verabschiedet. An den Beginn wurde die Erinnerungskultur gesetzt. Die Schaffung eines Bewusstseins für die „geschichtlichen und seelischen Ursachen der Tragödie der letzten zwölf Jahre“ und eine „sittliche Läuterung“ wurden als wichtige Voraussetzungen für einen politischen Neuanfang genannt. Daraus folgte als ein weiterer Aspekt das bedingungslose Bekenntnis „zum Frieden und zum Recht“, also zur „Einordnung in den abendländischen Kulturkreis“ sowie zur Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten. Ein anderer Punkt enthielt die beiden bereits beschriebenen Ziele des Erhalts der Reichseinheit bei zugleich föderaler Staatsstruktur, gleichsam als „Schutzwehr der Freiheit gegen Auswüchse der Macht“, wie es in der Entschließung wörtlich hieß. Einigkeit bestand darüber, dass der zu erfolgende Neuaufbau „auf den Grundsätzen des Christentums“ beruhen müsse. In diesem Sinne wurden Frauen und Männer beider Konfessionen dazu aufgerufen, sich dem politischen Engagement anzuschließen.
Ein gesonderter Beschluss zur Wirtschafts- und Sozialpolitik propagierte einen „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“, bekannte sich aber zugleich zum Privateigentum. Aufgrund der teils engen Verbundenheit zwischen Repräsentanten der deutschen Wirtschaft und der NS-Führung sowie der großen Bedeutung der Kriegsindustrie im Zweiten Weltkrieg galt das kapitalistische Wirtschaftssystem in Teilen der deutschen Bevölkerung als diskreditiert. Entsprechend wurden Forderungen nach Verstaatlichungen wichtiger Wirtschaftszweige und nach weitreichender Mitbestimmung durch die Arbeitnehmer erhoben.
Mit ähnlicher inhaltlicher Stoßrichtung hielt die Darmstädter Delegierte Maria Sevenich, „die auf ihrem irrlichternden Weg von den Kommunisten zu den Sozialdemokraten“ (Hans-Peter Schwarz) zwischenzeitlich bei der CDU beheimatet war, in Bad Godesberg einen Vortrag über „Christlichen und Marxistischen Sozialismus“, für den sie „frenetischen Beifall“ (Leo Schwering) erhielt. Daran zeigt sich, dass die programmatische Entwicklung der Partei erst am Anfang stand und noch im Fluss war. Gerade das Ringen um die Ausrichtung der Wirtschaftsordnung hat die frühen Jahre der CDU programmatisch geprägt, mit dem „Ahlener Programm“ 1947 und den „Düsseldorfer Leitsätzen“ 1949 als Leitplanken.
Eine zusätzliche kurze Entschließung befürwortete das Modell der Bekenntnisschule. Es war in der Partei aber keinesfalls Konsens, sondern spiegelte die Mehrheit der in Bad Godesberg anwesenden CDU-Vertreter aus dem Rheinland und aus Westfalen wider. Demgegenüber hatte der Vorsitzende der CDU in der SBZ, Andreas Hermes, dessen Rede aufgrund seiner durch die sowjetische Militärverwaltung verhinderten Ausreise verlesen wurde, umgekehrt die Gemeinschaftsschule befürwortet.
Konrad Adenauers reservierte Haltung
Wie die Meinungsunterschiede in der Schulfrage beispielhaft bereits andeuten, zeichnete sich hinter den Kulissen des Godesberger „Reichstreffens“ ein Machtkampf zwischen Berliner und Rheinischen Christlichen Demokraten ab. Erstere sahen bei sich einen historischen Führungsanspruch, der bis zu einem gewissen Grad zumindest respektiert wurde. So war ihr Vorsitzender Andreas Hermes eine treibende Kraft bei der Anbahnung des „Reichstreffens“ in Bad Godesberg gewesen, er sollte ursprünglich die Versammlung leiten und die zentrale Rede zur politischen Lage halten. Doch aufgrund seiner Abwesenheit und in Folge seiner von der sowjetischen Besatzung erzwungenen Absetzung als Co-Vorsitzender der CDU in der SBZ nur wenige Tage später konnte die Berliner CDU diesen Führungsanspruch nicht aufrechterhalten. „In Godesberg spürte die Versammlung“, in den Worten des Kölner Delegierten Leo Schwering, „den Eiseshauch der UdSSR. Andreas Hermes war das Symbol einer anscheinend unentrinnbaren Tragik der Ostzone und ein Menetekel für alle Teilnehmer.“
Ebenfalls anwesend bei dem „Reichstreffen“ war Konrad Adenauer. Er trat jedoch nicht öffentlich in Erscheinung. Auch er befand sich politisch in einer schwierigen Situation. Am 6. Oktober 1945 hatte die britische Militärverwaltung den selbstbewusst agierenden Kölner Oberbürgermeister seines Amtes enthoben und ihm eine politische Betätigung zunächst untersagt. Pünktlich zum Bad Godesberger Treffen war das Betätigungsverbot jedoch aufgehoben worden, wie er nun allein durch seine physische Anwesenheit die übrigen Teilnehmer wissen ließ. In der Zustimmung zum Begriff „Union“ statt „Partei“ bei der Namensnennung sah Adenauer ein unnötiges Zugeständnis und eine Bestätigung des Berliner Führungsanspruchs. Darüber hinaus befürchtete er eine Unterwanderung der dortigen CDU durch die Sowjetunion, wie er es bereits in einem Schreiben vom 1. September 1945 formuliert hatte: „Man kann nicht wissen, welche Wege die Christlich-Demokratische Union unter dem Drucke der Russen einmal einschlagen wird.“ Aus der Perspektive Adenauers gab es, gemäß der Einschätzung seines Biografen Hans-Peter Schwarz, aber auch einen positiven Aspekt des „Reichstreffens“: „niemandem aus der rheinischen CDU ist es [dort] gelungen, sich nachhaltig zu profilieren.“
Hatte Adenauer nach seiner Absetzung als Kölner Oberbürgermeister noch als Auslaufmodell gegolten und war er in Bad Godesberg reiner Statist gewesen, so wurde er bereits im Januar 1946 zum vorläufigen und im März 1946 zum ordentlichen Vorsitzenden der CDU in der Britischen Zone gewählt. Im Februar 1946 setzte er sich darüber hinaus in einer Kampfabstimmung gegen den amtierenden Vorsitzenden des CDU-Landesverbandes Rheinland, den bereits erwähnten Leo Schwering, durch. Dieser war immerhin einer der Hauptorganisatoren der Bad Godesberger Tagung gewesen und hatte dort das Eröffnungsreferat gehalten.
Die weitere Entwicklung nach Godesberg
Zur überregionalen innerparteilichen Koordinierung wurde in Bad Godesberg die Einrichtung eines Zwischenzonenrates mit Sitz in Frankfurt am Main beschlossen. Gleichwohl blieben die Auswirkungen des „Reichstreffens“ vom Dezember 1945 aufgrund der fortbestehenden und sich eher noch vergrößernden Divergenzen zwischen den Vertretern der CDU in den verschiedenen Besatzungszonen begrenzt. Zu einem ursprünglich angestrebten nationalen Parteitag kam es in der Folgezeit nicht, und auch die Gründung der CDU als Bundespartei zog sich wie erwähnt noch bis 1950 hin.
Das notwendige Mindestmaß an überregionaler innerparteilicher Koordination und Absprache leistete in der Zwischenzeit die „Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU“, die aus dem Zwischenzonenrat hervorging und deren Sekretariat sich ebenfalls in Frankfurt am Main befand. Als Gremien existierten der Vorstand mit neun Personen – darunter Konrad Adenauer und der nun wichtigste Berliner Vertreter Jakob Kaiser – und eine Versammlung von 21 Delegierten. Die Kontakte zur Ost-CDU wurden 1948 abgebrochen. Eine wichtige Rolle spielte das Sekretariat bei der Organisation des Bundestagswahlkampfs 1949. Die Arbeitsgemeinschaft existierte bis zur Gründung der CDU auf Bundesebene. Ihre Sitzungsprotokolle liegen als Edition vor und vermitteln einen anschaulichen Eindruck von der Frühgeschichte der Unionsparteien.
Die Bewertung des „Reichstreffens“ in Bad Godesberg vom Dezember 1945 fällt recht unterschiedlich aus. Für einige der Gründerväter der CDU stellte diese erste überregionale Zusammenkunft aus der Perspektive des Jahres 1945 heraus einen Meilenstein und die „stärkste bisherige Leistung“ (Leo Schwering) der noch jungen Partei dar. Von der einheitlichen Namensnennung einmal abgesehen, war es für die weitere Entwicklung der Partei gleichwohl rückblickend nicht von zentraler Bedeutung. Bad Godesberg bildete den eher symbolischen Auftakt für den überregionalen Zusammenschluss der Christlichen Demokraten in Deutschland, aus dem schließlich die erfolgreiche Volks- und Regierungspartei der folgenden Jahrzehnte hervorging.
Quellen
- Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): „Ein freies Volk soll wiedererstehen…“. Dokumente zur Gründung der CDU. Bornheim o. J.
- Sevenich, Maria: Unser Gesicht. Abhandlung über christlichen und marxistischen Sozialismus. Vortrag auf dem Reichstreffen der Christlich-Demokratischen Union in Bad Godesberg. Darmstadt 1946.
- Zimmermann, Karl: Erste Reichstagung der Christlich Demokratischen Union in Godesberg am 14., 15. und 16. Dezember 1945. Köln 1946.
- Kaff, Brigitte (Bearb.): Die Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der CDU Deutschlands und der Konferenz der Landesvorsitzenden. Düsseldorf 1991 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 17).
Literatur
- Schwering, Leo: Frühgeschichte der Christlich-Demokratischen Union. Recklinghausen 1963.
- Becker, Winfried: CDU und CSU 1945-1950. Vorläufer, Gründung und regionale Entwicklung bis zum Entstehen der Bundespartei. Mainz 1987.
- Borchard, Michael: Stationen der programmatischen Entwicklung der CDU. In: Lammert, Norbert (Hg.): Handbuch zur Geschichte der CDU. Grundlagen, Entwicklungen, Positionen. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Darmstadt 2023, S. 79–107.
- Heitzer, Horstwalter: Die CDU in der britischen Zone. Gründung, Organisation, Programm und Politik. Düsseldorf 1988 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 12).
- Kaff, Brigitte: Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU. In: Becker, Winfried/Buchstab, Günter/Morsey Rudolf u.a. (Hg.): Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland. Paderborn u.a. 2002, S. 425f.
- Kleinmann, Hans-Otto: Geschichte der CDU 1945-1982. Stuttgart 1993.
- Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Bd. 1: Der Aufstieg 1876–1952, München 1994.