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Country Reports

Wehrpflicht für Ultrareligiöse

by Michael Mertes, Stefanie Friese

Eine weit reichende Grundsatzentscheidung des israelischen Gesetzgebers

Am 12. März 2014 beschloss die Knesset ein Gesetz, das eine historische Zäsur in der Geschichte des Staates Israels markieren könnte. Fortan sind auch die Haredim – Israels strengreligiöse Juden – verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. Diese Frage gehörte in letzter Zeit zu den wohl umstrittensten in Israels Innenpolitik.

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In Israel ist der Wehrdienst verpflichtend: für Frauen zwei, für Männer drei Jahre – und bis zum 45. Lebensjahr bis zu einem Monat Reservedienst jährlich. Von dieser Pflicht ausgenommen waren bisher die Haredim, die die konservativste Ausrichtung innerhalb des orthodoxen Judentums vertreten und damit eine rechtliche Sonderstellung in Israel einnehmen.

Die aus säkularer Perspektive geläufige Bezeichnung „ultraorthodox“ empfinden die Haredim selbst als abwertend. In ihrem Selbstverständnis sind sie strengreligiös. Ihre Sonderstellung in der israelischen Gesellschaft äußert sich unter anderem in einer strikten Geschlechtertrennung, einer vornehmlich religiösen Ausbildung an speziellen Schulen (Pl. Jeschiwot, Sg. Jeschiwa) und einer konsequenten Befolgung der halachischen und rabbinischen Torahauslegung. Ihr Anteil in der Bevölkerung beträgt ca. 10%, Tendenz steigend.

Allerdings bilden die Haredim keinen geschlossenen Block, sondern ein Mosaik aus verschiedenen Gruppen, die in der Regel einem Rabbiner als Autoritätsperson folgen. Ein relativ neues Phänomen sind die zionistischen Haredim („Haredi leumi“, National-ultraorthodoxe). Das Israel Democracy Institute, ein Partner der KAS Israel, erkundigt sich jährlich nach der religiösen Selbsteinschätzung jüdischer Befragter. Im Jahr 2012 führte es erstmals die Kategorie „Haredi-leumi“ ein mit der Begründung, dass sich dieses Bevölkerungssegment in vielen Ansichten deutlich von den übrigen Haredim unterscheide.

Es ist auch keineswegs so, dass in den Israelischen Streitkräften (IDF) überhaupt kein Haredi dient. Seit 2011 leisten jährlich rund 2.400 strengreligiöse Männer Wehr- oder Zivildienst – hauptsächlich, um ihre Familien besser versorgen zu können.

Die Befreiung der Haredim von der allgemeinen Wehrpflicht geht auf die Zeit kurz nach der Staatsgründung im Jahre 1948 zurück, in der sie noch eine eher marginale Rolle in der Gesellschaft spielten. Damals betrug die Zahl der strengreligiösen Juden, die keinen Militärdienst leisteten, ca. 400. Dies entsprach in etwa 0,07% der Gesamtbevölkerung. Doch seitdem ist die Gemeinschaft der Haredim stark gewachsen. Mit durchschnittlich 7,7 Kindern pro Haushalt sind die Haredim unter den israelischen Juden die Gruppe mit der weitaus höchsten Geburtenrate. Infolgedessen nimmt ihr gesellschaftlicher und politischer Einfluss stetig zu.

Bis 1998 hatte die Zahl der vom Wehrdienst befreiten Haredim auf 30.000 zugenommen. Nach langen Debatten verabschiedete die Knesset daraufhin im Jahr 2002 das nach dem ehemaligen Richter am Obersten Gerichtshof Tzvi Tal benannte „Tal Law“. Nach diesem Gesetz durften Jeschiwa-Studenten die Ableistung des Wehrdienstes auf unbestimmte Zeit aufschieben; erst wenn sie die Jeschiwa verließen, waren sie der Wehrpflicht unterworfen.

Im Februar 2012 erklärte der Oberste Gerichtshof das „Tal-Gesetz“ für unvereinbar mit Israels verfassungsrechtlichen Prinzipien. Ziel der Aufhebung des „Tal-Gesetzes“ war die gerechte Verteilung der Lasten der Landesverteidigung auf die ganze Gesellschaft gemäß dem Grundsatz, dass alle Bürgerrinnen und Bürger gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten haben. Heute sind es schon mehr als 60.000 strengreligiöse Juden, die keinen Wehrdienst leisten.

Nach langem Ringen und zum Teil äußerst kontroversen Debatten verabschiedete die Knesset am 12. März 2014 mit 67 von 120 Stimmen ein neues Gesetz, welches die schrittweise Einführung des Armeedienstes für Haredim vorsieht. Im Vorfeld hatten mehrere hunderttausend Haredim (die veröffentlichten Zahlen schwanken zwischen 300.000 und 500.000, also immerhin rund 4% bis 6% der israelischen Gesamtbevölkerung) am 2. März 2014 in Jerusalem gegen den bevorstehenden Beschluss protestiert.

Das Problem der Ungleichverteilung gesellschaftlicher Lasten

Hinter dem Gesetz zur Wehrpflicht steht innerhalb des Kabinetts Netanjahu maßgeblich Jair Lapid, Finanzminister und Vorsitzender der liberalen Partei Jesh Atid („Es gibt eine Zukunft“), die mit 19 Sitzen zweitstärkste Partei in der Knesset ist.

Die Ausweitung der allgemeinen Wehrpflicht auch auf strengreligiöse Juden war einer der zentralen Punkte im Parteiprogramm von Jesh Atid. Die Kernwählerschaft dieser neuen Partei rekrutiert sich aus Israelis, die im Sommer 2011 an den landesweiten „Sozialprotesten“ teilnahmen. Es handelte sich dabei vor allem um Angehörige der säkularen Mittelschicht, die gegen eine als ungerecht empfundene Lastenverteilung in der Gesellschaft aufbegehrte. Ein bedeutsamer Kritikpunkt war dabei die staatliche Subventionierung der Haredim und ihre Befreiung vom Wehrdienst auf Kosten der Mehrheit israelischer Juden.

Diese Frage erlangte seit dem Sommer 2011 eine herausragende symbolische Bedeutung. Sie wurde für viele Israelis regelrecht zum Prüfstein für die Fähigkeit des politischen Systems, den innenpolitischen Reformstau abzubauen. An ihr scheiterte im Sommer 2012 die kurzlebige „Regierung der nationalen Einheit“ mit der Kadima-Partei, die 2009-2012 die größte Oppositionsfraktion in der Knesset gestellt hatte.

Im Rahmen der vom Kabinett Netanjahu III verfolgten innenpolitischen Reformagenda wurde in dieser Woche auch ein zweites wichtiges Gesetz beschlossen: die Anhebung der Sperrklausel von 2% auf 3,25% (das entspricht ca. 120.000 Wählerstimmen). Dadurch wird kleineren Parteien künftig der Einzug in die Knesset erschwert.

Welche Änderungen bringt das neue Wehrdienstgesetz?

Das neue Gesetz sieht die Erfüllung von jährlich steigenden Quoten für strengreligiöse Männer in der Armee zunächst bis 2017 vor – 3.300 sollen es im Jahr 2015 sein, bis 2017 soll die Zahl auf 5.000 ansteigen. Wie die Haredi-Rekruten ausgewählt werden, ist nicht ganz klar.

Werden die Quoten erfüllt, wird dieses System nach 2017 weitergeführt. Werden sie verfehlt, soll nach 2017 eine allgemeine Wehrpflicht für Haredim ab dem 18. Lebensjahr gelten und durchgesetzt werden; Wehrdienstverweigerung wird dann mit einer Gefängnisstrafe geahndet.

Darüber hinaus gelten in der Anfangsphase folgende Sonderregelungen:

  • Alle Jeschiwa-Studenten, die bei Inkrafttreten des Gesetzes das 22. Lebensjahr vollendet haben – das betrifft ca. 30.000 Haredim – bleiben auch weiterhin von der Wehrpflicht befreit.
  • Alle übrigen Jeschiwa-Studenten, die bei Inkrafttreten des Gesetzes zwischen 18 und 22 Jahre alt sind, können den Wehrdienst bis zum 26. Lebensjahr aufschieben und dann eine vollständige Befreiung beantragen.
  • Wer die Jeschiwa vor Erreichen des 26. Lebensjahres verlässt, ist verpflichtet, Wehr- oder Zivildienst zu leisten.
  • Grundsätzlich von der Wehrpflicht ausgenommen bleiben zudem jährlich die 1.800 herausragendsten Jeschiwa-Studenten, die sich auch weiterhin voll auf das Torahstudium konzentrieren sollen. (Allerdings gibt es „keine praktikable und rechtsstaatsverträgliche Methode, die 1.800 Elite-Studenten auszuwählen, deren Wehrdienst aufgeschoben werden soll“ ).
Was spricht für eine Wehrpflicht?

Das Gleichheitsprinzip: In der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel von 1948 wird die soziale und politische Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger betont. Eine Ausnahme vom Wehrdienst widerspricht dem Gleichheitsprinzip.

Gesellschaftliche Lastenverteilung / Gesellschaftliche Integration: Die bisherige Sonderstellung der Haredim beim Wehrdienst ist Teil eines größeren Komplexes, der unter den Stichworten „gerechte Lastenverteilung“ und „Integration der Haredim in den Arbeitsmarkt“ diskutiert wird.

Die Erwerbstätigenquote bei den Haredim liegt deutlich unter dem Durchschnitt. Überdurchschnittlich hoch ist demgegenüber die Zahl jener Strengreligiösen, die von staatlicher Subvention leben. Da der Anteil der Haredim in der Bevölkerung stetig zunimmt, steigt auch die finanzielle Belastung für den Staat. Während relativ viele Haredim keine Steuern zahlen, nehmen sie uneingeschränkt am politischen Leben teil und sind in religiösen Parteien in der Knesset vertreten. Das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten ist unausgewogen und wirkt insgesamt wie eine Privilegierung gegenüber den anderen Teilen der Bevölkerung.

Die Integration der Haredim in die israelische Armee bedarf einer großflächigen Umstrukturierung, die nur unter größerem finanziellen und administrativen Aufwand umsetzbar ist. Allerdings existieren bereits IDF-Einheiten für strengreligiöse jüdische Männer; darauf könnte man aufbauen.

Ziel des neuen Gesetzes ist ebenfalls die spätere Integration strengreligiöser Juden in den Arbeitsmarkt durch spezielle Programme, an denen Haredim während des Wehrdienstes teilnehmen können (u.a. Erhalt eines säkularen Schulabschlusses); so soll ihre Abhängigkeit von staatlichen Subventionen nach Ende des Armeedienstes verringert werden.

Und was dagegen?

Die strengreligiöse Gemeinschaft in Israel fühlt sich durch die neue Rechtslage diskriminiert, denn aus Sicht vieler Haredim ist der Dienst in der israelischen Armee auf soziokultureller, religiöser und politischer Ebene mit Problemen für ihre besondere Lebensweise verbunden. Zudem sind sie davon überzeugt, dass das Torah-Studium den Charakter einer „spirituellen Landesverteidigung“ hat.

Darüber hinaus fremdeln die meisten Haredim nach wie vor mit dem Zionismus. Aus ihrer Perspektive ist der säkulare, nicht vom Messias gegründete Staat Israel ohne heilsgeschichtliche Bedeutung; das unterscheidet sie von den Nationalreligiösen, die den Staat Israel als Stufe auf dem Weg der Erlösung betrachten.

Strengreligiöse Regeln und ein von überdurchschnittlich vielen Tabus geprägtes Verhältnis zu Sexualität bestimmten den Alltag der Haredim. So ist das von den Haredim angestrebte Ideal des frommen Gelehrten unvereinbar mit dem Idealbild des israelischen Soldaten. Gemischte Einheiten, wie sie für die israelische Armee typisch sind, wären undenkbar. Das Torah-Studium – das identitätsstiftende Merkmal der Haredim – könnte bei gleichzeitigem Armeedienst nicht weitergeführt werden. Zudem sind Einsätze auch am Shabbat möglich. Beides bedeutet einen erheblichen Eingriff in ihr religiöses Leben.

Besonders umstritten bleibt die geplante strafrechtliche Ahndung der Wehrdienstverweigerung durch Haredim. Sie bewirkt „mit maximalem Aufwand einen minimalen Effekt“: Wegen der besonderen Bedeutung einzelner Rabbiner in den verschiedenen Haredi-Gruppen wäre es sinnvoller, diese Autoritätspersonen für einen allmählichen Mentalitätswandel in ihrer Anhängerschaft bezüglich des Wehrdienstes zu gewinnen. Ein jüdischer Staat könne, so wird eingewandt, „nicht den Lebensstil von Jeschiwa-Studenten kriminalisieren, deren einziger Wunsch es ist, die Torah zu studieren“. Dies bedeute, „eine ganze Minderheitsgruppe nur wegen ihrer religiösen Anschauungen zu Gesetzesbrechern zu stempeln“.

Fazit

Das neue Gesetz zur Wehrpflicht für Haredim hat Zäsurcharakter – und der Streit um dieses Gesetz das Potenzial, die jüdische Mehrheit innerhalb der israelischen Bevölkerung weiter zu spalten. Von der Intention des Gesetzgebers her hat der verpflichtende Wehrdienst inklusiven Charakter und das Ziel, die Haredim stärker in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Ob diese Erwartung sich erfüllt, wird vor allem davon abhängen, ob es in den kommenden Jahren bis 2017 zu einem Dialog kommt, der auf Überzeugung setzt statt auf Sanktionen.

Lesen Sie den gesamten Länderbericht mit Fußnoten und Tabelle im oben stehenden pdf.

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Contact

Dr. Alexander Brakel

Alexander.Brakel@kas.de

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