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Ein überraschender Wahlkampf beginnt
Als der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu Anfang Dezember 2014 völlig überraschend als Folge des Scheiterns seiner Koalitionsregierung noch vor der Halbzeit der Wahlperiode vorgezogene Neuwahlen für das Frühjahr 2015 ankündigt, scheint ein langweiliger Wahlkampf bevorzustehen. Unmittelbar nach dem Bruch der alten Koalition lautet die Frage nicht, wer nach den Neuwahlen die Regierung bilden kann, sondern lediglich wen Netanjahu in sein nächstes Kabinett berufen wird. Zu Beginn des Wahlkampfes scheint kaum ein Zweifel daran zu bestehen, dass Netanjahu auch künftig an der Spitze der Regierung stehen wird. Mit neun Amtsjahren ist er bereits der Regierungschef mit der zweitlängsten Amtszeit in der israelischen Geschichte. Falls er 2015 erneut die Wahlen gewinnt, dann hat er sicher alle Chancen, den Rekord von Staatsgründer Ben-Gurion einzustellen: der erste Regierungschef Israels hatte insgesamt dreizehn Jahre lang die Amtsgeschäfte geführt.
Gleich zu Beginn des Wahlkampfes in der ersten Dezemberhälfte kommt der erste große Paukenschlag: der nach Auffassung nahezu aller Beobachter bis dahin als chancenlos geltende Oppositionsführer Isaac Herzog von der Labour Party schließt ein Wahlbündnis mit der gerade im Streit mit Netanjahu aus der Regierung ausgeschiedenen ehemaligen Justizministerin Tzipi Livni mit ihrer Partei Hatnua. Das als Zionist Union (ZU) kandidierende Bündnis kündigt an, dass sich im Falle eines Wahlsieges Herzog und Livni im Amt des Premierministers abwechseln werden: Herzog werde die ersten beiden Jahre, Livni dann in der zweiten Hälfte der Wahlperiode die Regierungsgeschäfte führen. Trotz oder zunächst vielleicht wegen dieses angekündigten Rotationsmodells gelingt es dem neuen Bündnis vom ersten Tag an, in den Meinungsumfragen dem Likud auf Augenhöhe zu begegnen. Beide Lager bringen die entscheidende Frage des Wahlkampfes mit nahezu identischen Slogans auf den Punkt:
„Er (Netanjahu) oder Sie (Herzog/Livni)?“
Um das sich über nahezu drei Monate hinziehende Kopf-an-Kopf-Rennen für sich zu entscheiden, setzt Netanjahu vor allem auf die Strahlkraft seiner Rede vor dem amerikanischen Kongress zu den Atomverhandlungen zwischen den USA und dem Iran. Bereits im Vorfeld der Rede kommt es Anfang März zu erheblichen diplomatischen Verstimmungen zwischen dem Weißen Haus und dem israelischen Premierminister. Wenige Tage nach dem vielbeachteten und sehr kontrovers diskutierten Auftritt Netanjahus in Washington zeigen die heimischen Umfragen allerdings an, dass die Rede keineswegs zu einem Stimmungswechsel zugunsten des Likud beigetragen hat. Ganz im Gegenteil ergeben die letzten am Freitag vor der Wahl veröffentlichten Umfragen übereinstimmend einen Vorsprung der oppositionellen Zionist Union vor dem Likud von drei bis vier Mandaten in der Knesset. Damit scheint die Chance zu einem Wechsel an der Regierungsspitze zum Greifen nahe.
Ein dramatisches Wahlkampffinale
Das Wochenende vor der Wahl ist von einer nahezu panischen Reaktion der Likud-Wahlkämpfer geprägt: Netanjahu verkündet lauthals, dass die Anhänger der kleineren Koalitionsparteien aus dem nationalen und religiösen Lager unbedingt dieses Mal dem Likud die Stimme geben sollen, da nur so sicher gestellt werden könne, dass Netanjahu auch weiterhin die Regierungsgeschäfte führen und ein Machtwechsel zu Herzog und Livni verhindert werden könne. Am Montag vor der Wahl vermelden denn auch die Wahlkämpfer des rechten Likud-Koalitionspartners Jewish Home von Naftali Bennett, dass eine massive Abwanderung ihrer Wählerbasis zum Likud absehbar sei. Mit Verweis auf die wegen der Rechtslage zwar nicht mehr veröffentlichten, wohl aber intern verbreiteten Ergebnisse der letzten Umfragen gehen am Vorabend der Wahl die meisten Beobachter davon aus, dass es dem Likud mittlerweile gelungen sein könnte, den zum Ende der vorigen Woche von den Demoskopen verkündeten Rückstand von drei bis vier Mandaten nahezu vollständig auszugleichen. Um einer drohenden medialen Dominanz der Likud-Kampagne zu begegnen, wagt die Opposition sozusagen in allerletzter Minute noch einen wirklichen Paukenschlag: Kurz vor den Abendnachrichten des Vorwahltages verkündet Tzipi Livni, dass sie auf das angekündigte Rotationsmodell mit Isaac Herzog verzichten und ihrem Partner im Falle des Wahlsieges das Amt des Premierministers allein überlassen wolle. Dieser Coup soll der Zionist Union den entscheidenden Schub für den Wahlsieg bringen, haben doch zahlreiche Umfragen gezeigt, dass Herzog als wesentlich populärer git als Livni.
Hochspannung in der Wahlnacht: „Exit Polls“ sagen übereinstimmend ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus
Der Wahlabend beginnt bei den drei großen israelischen Fernsehanstalten traditionellerweise mit der Präsentation der Prognosen der Wahlforscher. Die Ergebnisse dieser sogenannten „Exit Polls“ (Wahltagsbefragungen) basieren auf Interviews mit zehntausenden Wählern in repräsentativ ausgewählten Wahllokalen. Vor dem Hintergrund des nach dem dramatischen Wahlkampfendspurt allgemein erwarteten Kopf-an-Kopf-Rennens der beiden großen politischen Kräfte erscheint das von allen drei großen Fernsehsendern nahezu übereinstimmend vermeldete voraussichtliche Wahlergebnis nicht besonders überraschend:
- Sowohl der Likud als auch die Zionist Union liegen mit jeweils 27 Mandaten bei zwei der drei TV-Sender absolut gleich auf. Ein Fernsehkanal vermeldet einen knappen Vorsprung für den Likud von einem Mandat (Channel 2: Likud 28; ZU 27).
- Weder die national-religiösen Parteien noch das weite Spektrum der linken Parteien erreichen alleine die für die Regierungsbildung erforderliche Mehrheit von 61 Mandaten.
- Als „Zünglein an der Waage“ erweist sich mit zehn Mandaten die neue Partei Kulanu des ehemaligen Likud-Ministers Moshe Kahlon, der sich im Wahlkampf sowohl eine Koalition mit Netanjahu als auch eine mögliche Regierungsbeteiligung bei Herzog offengehalten hat.
Der Morgen danach: Plötzlich ist alles ganz anders
Bereits gegen 3.23 Uhr meldet Haaretz, dass nach Auszählung von 60 % der Stimmen der Likud einen Vorsprung von gut viereinhalb Prozentpunkten vor der Zionist Union erreicht habe. Kurz nach 6 Uhr am Mittwoch ergibt sich dann bei einem Auszählungsstand von 99 % der abgegebenen Stimmen, dass der Likud nicht 27 Sitze in der neuen Knesset erhalten wird, sondern voraussichtlich 30. Auf die oppositionelle Zionist Union entfallen dagegen nur 24 Mandate. Somit wurde aus dem von den Wahlforschern verkündeten Gleichstand der beiden führenden Parteien ein klarer Wahlerfolg für den Likud. Zwei Stunden später gibt Isaac Herzog bekannt, dass er Benjamin Netanjahu zum Wahlsieg gratuliert habe. Wenige Stunden später erklärt er dann weiterhin, dass auf Grund des eindeutigen Wahlergebnisses der Auftrag für die ZU klar in der Führung der Opposition liege. Niemand denkt angesichts des eindeutigen Vorsprungs für den Likud mehr an eine „Regierung der nationalen Einheit“. Auch für Moshe Kahlon bringt der Morgen somit eine unerwartete Wendung: nun ist er nicht mehr der „Königsmacher“, sondern der Juniorpartner des Wahlsiegers Netanjahu. Ihm bleibt nur das Vertrauen darauf, dass Netanjahu sein kurz vor der Wahl öffentlich gegebenes Versprechen einhält, und er Kahlon tatsächlich zum Finanzminister beruft. Unter Einschluss der Partei Kulanu verfügt das national-religiöse Lager über 67 Mandate und somit über eine ausreichende Regierungsmehrheit.
Das Debakel der Wahlforscher und seine möglichen Erklärungen
Das Wahlergebnis weist mit einem Vorsprung für den Likud vor der Zionist Union von fast fünf Prozentpunkten einen klaren Sieger aus. Bei einem solchen Ergebnis kann keineswegs mehr von einem Kopf-an-Kopf-Rennen gesprochen werden. Die Ergebnisse der „Exit Polls“ geraten vor diesem Hintergrund zu einem Debakel für die israelischen Wahlforscher. Ein Ergebnis von 30 Mandaten für den Likud wurde bei keiner einzigen Umfrage während des gesamten Wahlkampfes seit Anfang Dezember von den Demoskopen vorausgesagt. Damit stellt sich die kritische Frage an die israelische Wahlforschung:
- Was sind die Gründe für die erheblichen Abweichungen der am Wahlabend veröffentlichten Ergebnisse der „Exit Polls“ vom tatsächlichen Wahlergebnis?
- Für den „Exit Poll“ waren 60 Wahllokale mit rund 25000 Wahlberechtigten ausgewählt worden. Dabei habe insbesondere in Likud-Hochburgen eine ungewöhnlich hohe Zahl von Befragten die Auskunft verweigert. Fuchs beziffert die Verweigerungsquote auf 30 %. Dabei dürfte es sich weit überdurchschnittlich um Likud-Wähler gehandelt haben.
- Zusätzlich sei der Stimmenanteil für den Likud im Verlauf des Wahltags immer größer geworden. Da in die unmittelbar zum Wahlschluss veröffentlichten Prognosen aber nur solche Interviews eingegangen sind, die bis etwa 90 Minuten vor Schließung der Wahllokale abgeschlossen waren, konnte ein möglicher überdurchschnittlicher Aufwuchs an Wählerstimmen für den Likud in den letzten beiden Stunden nicht mehr erfasst werden.
Eine sehr viel weitergreifende Erklärung für die Fehlprognosen seiner Kollegen bringt der Leiter des Geocartography-Instituts, Avi Degani, vor. Er hält ein wichtiges Element der von den konkurrierenden Instituten angewandten Methodik grundsätzlich für fehlerbehaftet, da die Auswahl der von ihnen befragten Personen zu stark internet-basiert sei. Dies führe zu einer systematischen Verzerrung zur politischen Mitte hin, da insbesondere ein Teil der Likud-Anhängerschaft auf diese Weise nicht ausreichend erfasst werden könne. Deshalb habe Geocartography auch während des gesamten Wahlkampfes zu keinem Zeitpunkt ein Kopf-an-Kopf-Rennen oder gar einen Vorsprung für die Zionist Union ermittelt. Für Degani sei immer klar gewesen, dass der Likud eindeutig in Führung liege.6 Immerhin weist die letzte von Geocartography vor der Wahl veröffentlichte Umfrage vom 8. März – im Gegensatz zu allen anderen Umfragen – für den Likud einen Vorsprung von 5 Mandaten vor der ZU aus (Likud: 26 Mandate; ZU: 21 Mandate). Berücksichtigt man, dass der massive Zustrom für den Likud aus dem Lager seines Koalitionspartners Jewish Home erst im Zeitraum nach der Veröffentlichung dieser Umfrage stattgefunden hat, dann liegt das Institut Geocartography in der Tat sehr nahe am tatsächlichen Wahlergebnis vom 17. März 2015. Sollte sich die Argumentation von Degani als stichhaltig erweisen, dann wären wohl nicht nur die Ergebnisse der „Exit Polls“ verzerrt, sondern die während des gesamten Wahlkampfes gemessenen Umfragewerte hätten den Likud systematisch unterschätzt. Mit anderen Worten: Das Kopf-an-Kopf-Rennen hätte es entgegen den veröffentlichten Umfrageergebnissen in der Realität gar nicht gegeben!
Ob die Hypothese von Degani zutrifft oder ob es andere Ursachen für das Debakel der Wahlforscher am Abend der zwanzigsten Knesset-Wahl in Israel gibt, kann nur eine ausführliche Auswertung und Aufarbeitung der Abweichungen der Ergebnisse der „Exit Polls“ von den tatsächlichen Wahlergebnissen liefern. Die israelischen Wahlforscher stehen in den nächsten Monaten vor einer großen Herausforderung, wenn sie einen dauerhaften Imageschaden vermeiden und verloren gegangenes Vertrauen der Auftraggeber und der Öffentlichkeit wieder herstellen wollen.