Die russische Bedrohung – eine polnische Vorahnung
In Bezug auf Russland wurde der polnischen Seite in der Vergangenheit wiederholt eine besonders starke Empfindlichkeit vorgeworfen. Tatsächlich hatte Polen aufgrund seiner historischen Erfahrungen stets ein extrem schwieriges Verhältnis zu Russland. In den Polnischen Teilungen fiel ein Großteil des Staatsgebietes der ehemaligen polnischen Adelsrepublik an das zaristische Russland. Die Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit am Ende des Ersten Weltkrieges musste insbesondere gegen Sowjetrussland erkämpft werden. Die Sowjetunion, die Polen im Zweiten Weltkrieg unmittelbar nach dem deutschen Angriff zunächst in Absprache mit Deutschland überfiel, um es dann wenig später von der deutschen Besatzung zu befreien, installierte mit der Volksrepublik Polen einen Satellitenstaat, der sich ganz der Politik des Kremls unterzuordnen hatte. Die historischen Beziehungen zu Russland (aus geopolitischer Sicht sind Russland und die Sowjetunion identisch) bringen damit ein schwieriges historisches Erbe mit sich, das als großer Ballast für die bilateralen Beziehungen beider Staaten gilt. Zumal es anders als im Falle Deutschlands zu keiner geschichtlichen Reflexion oder Aufarbeitung von Verbrechen von russischer Seite gekommen ist. Die Sorge vor einer Rückkehr des russischen Imperialismus, der sich gegen Polen, aber auch andere ost- und ostmitteleuropäische Staaten richten könnte, war stets vorhanden.
Als Russland 2008 im Kaukasuskrieg gegen Georgien militärisch vorging, war es der damalige polnische Staatspräsident Lech Kaczyński, der in der georgischen Hauptstadt Tifflis gemeinsam mit Staats- und Regierungschefs aus Estland, Lettland, Litauen und der Ukraine an einer sich gegen die russische Aggression richtenden Demonstration mit 150.000 Teilnehmern beteiligte. „Wir wissen sehr gut“, sagte das polnische Staatsoberhaupt damals, „dass heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten und dann vielleicht mein Land, Polen, an der Reihe sind“. So falsch das militärische Vorgehen Russlands in Georgien dem Westen auch erschien, stieß diese Formulierung auch in Deutschland damals auf keinen großen Widerhall. Polen neige aufgrund seiner historischen Erfahrungen zu einer Überreaktion in Bezug auf Russland, hieß es. In Polen hingegen herrschte eher die Meinung vor, dass man aufgrund dieser historischen Erfahrungen einen wesentlich realistischeren Blick auf den russischen Nachbarn habe. Am Ende behielt Polen recht und es war die deutsche Politik, die sich in Putin massiv getäuscht hatte. Es entstand hieraus jedoch keine wirkliche Schadenfreude, Recht behalten zu haben. Vielmehr dominierte die Kritik am Westen – insbesondere an Deutschland für die massive Fehleinschätzung, wozu der Kremlherrscher und seine Entourage fähig seien. Anders als in Berlin gab es somit in Warschau in der Frage der Bewertung der eigenen Russlandpolitik keine wirkliche Zeitwende.
Verteidigungspolitik
Eine Wende hingegen zeigt sich teilweise in der Verteidigungspolitik. Polen werde nicht zulassen, dass sich das ukrainische Szenario auf polnischem Boden wiederhole, betont der polnische Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak: „Wir werden es nicht zulassen, denn unsere Armee ist und wird noch größer sein, sie ist und wird noch stärker sein“. In den kommenden Monaten will Polen militärische Ausrüstung und Waffen für ungefähr 300 Mrd. Zloty (umgerechnet 65 Mrd. Euro) beschaffen. Die Ausgaben des polnischen Verteidigungshaushaltes sollen hierbei auf einen Rekordwert von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen. Gemessen am Prozentsatz des BIP an den Verteidigungsausgaben könnte Polen damit auf einen der ersten Plätze unter den NATO-Ländern aufsteigen. Der Haushalt des Verteidigungsministeriums wird sich im nächsten Jahr auf über 80 Mrd. Zloty (17 Mrd. Euro) belaufen. Im Jahr 2025 soll er 100 Mrd. Zloty (22 Mrd. Euro) erreichen. Laut Minister Błaszczak wird dies die Beschaffung neuer Ausrüstung und Waffen beschleunigen und eine schnellere Vergrößerung der Armee ermöglichen. In Folge wird auch das polnische Militär wesentlich stärker als in der Vergangenheit anwachsen. Obschon Polen seit 2010 keine Wehrpflichtigenarmee mehr besitzt, wird ein Berufsheer von 250.000 Soldaten sowie weiteren 50.000 Angehörigen der freiwilligen Truppen zur Territorialverteidigung (WOT) angestrebt. Und obschon diese Zahl höchstwahrscheinlich verfehlt wird, dürfte der Krieg die Bereitschaft zum Dienst an der Waffe in Polen erhöht haben. „Die beste und effektivste Antwort auf die russische Bedrohung“, so Minister Blaszczak, „ist die Stärkung der polnischen Streitkräfte“. Deshalb habe die Regierung beschlossen, eine Kampagne zur Förderung eines freiwilligen Grundwehrdienstes zu starten.“
Tatsächlich ist die Debatte in Polen in Bezug auf die Beziehungen zu den eigenen Streitkräften eine andere als in Deutschland. Während in Deutschland bezüglich des Ausbaus der Bundeswehr (sofern sie verwirklicht wird) von einer Zeitenwende gesprochen werden kann, war der in Deutschland vorhandene, oftmals naive Pazifismus in dieser Form in Polen so nie vorzufinden. Dies ist vor allem damit verbunden, dass Polen in Russland eine permanente und unmittelbare Bedrohung an seiner Grenze sieht, während Deutschland seit dem Zusammenbruch des Ostblockes permanent „von Freunden umzingelt“ war (Bundespräsident a.D. Johannes Rau). Weit weniger als Wende muss in der Aufrüstung der polnischen Armee eine Beschleunigung der bisherigen Politik gesehen werden. Gleichzeitig dient sie als ideales Feld für die polnische Regierung, um sich als Verteidiger der polnischen Sicherheit gegenüber dem Wähler zu profilieren. Es ist mittlerweile absehbar, dass die polnische Regierung versuchen wird, den forcierten Ausbau der polnischen Streitkräfte im Parlamentswahlkampf im kommenden Jahr auszunutzen. Schon im Zuge der Grenzproblematik mit Belarus („Flüchtlinge als Waffe“) wurde das Thema Grenzschutz innenpolitisch stark aufgeladen. Damit rückt auch der Verteidigungsminister Blaszczak in den Vordergrund, der sich für die höchsten Ämter im Staat ins Gespräch bringen könnte.
Enge Zusammenarbeit mit der Ukraine
Der russische Angriff auf die Ukraine wirkte für viele Polen wie ein Menetekel. Die Gefahr, das nächste Opfer des russischen Imperialismus zu werden, wird der polnischen Bevölkerung nun durch einen Konflikt unmittelbar vor ihrer eigenen Staatsgrenze vor Augen geführt. Dementsprechend groß ist zum einen die Empathie und Sympathie für die vom Krieg strapazierten Ukrainer. Ob nun in polnischen Großstädten oder auch kleineren Gemeinden – überall wird diese große Welle der Sympathie deutlich zum Ausdruck gebracht. Viele Häuser, Geschäfte, aber auch öffentliche Einrichtungen sind mit ukrainischen Fahnen geschmückt. Werbebanner machen den nach Polen geflüchteten Ukrainern klar: „Wir stehen an Eurer Seite“. Diese Solidarität hat nach mehreren Kriegsmonaten zwar leicht nachgelassen, jedoch begegnen 63 Prozent der Polen den Ukrainern gegenüber Mitte Mai 2022 weiterhin positiv; 12 Prozent zeigen eine negative Einstellung. 70 Prozent der Polen geben an, dass sie sich seit Kriegsausbruch in irgendeiner Form ehrenamtlich für ukrainische Flüchtlinge eingesetzt hätten. Somit findet der innenpolitische Kurs der PiS-Regierung einer Unterstützung der Schutzsuchenden aus dem östlichen Nachbarland weiterhin große Zustimmung.
Unterdessen verfolgt die polnische Regierung aber nicht nur einen die Ukrainer unterstützenden Kurs in der polnischen Innenpolitik, sondern auch außenpolitisch gegenüber dem ukrainischen Staat. Anfang Juni unterzeichneten beide Staaten im Zuge gemeinsamer Regierungskonsultationen, an denen u.a. die Regierungschefs beider Länder teilnahmen, acht Memoranden über eine zukünftige Kooperation. Sie betreffen die Bereiche Energie, militärische Verteidigung, grenzüberschreitende und zollrechtliche Zusammenarbeit, Umweltpolitik, Regionalpolitik, Wiederaufbau der Ukraine und Zusammenarbeit in der Geschichtspolitik. Laut Premierminister Morawiecki ergänzten sich Polen und die Ukraine in hohem Maße und fänden sehr große Synergieeffekte. Aus der Sicht Warschaus (aber auch Kiews) handelt es sich hierbei jedoch nur um das Präludium einer viel weitergehenden Zusammenarbeit, die in einem größeren Vertragswerk münden soll. Und während die deutsch-polnischen Beziehungen mehr als 30 Jahre nach der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages weiterhin auf einen Folgevertrag ähnlich des deutsch-französischen Aachener Vertrags wartet, wird in den polnisch-ukrainischen Beziehungen eine Art Élysée-Vertrag angestrebt, der beide Staaten eng aneinanderbinden soll.
Alternative geopolitische Konzeptionen
Vereinzelt wird sogar die Möglichkeit einer polnisch-ukrainischen staatlichen Union angedacht. Zwar wurde eine solche Idee – trotz anderslautender Berichte – weder von Präsident Duda noch von seinem Amtskollegen Selenskyj artikuliert. Dennoch wurde sie in den letzten Wochen in gewissen politischen und wissenschaftlichen Kreisen wiederholt angedacht. Wenn auch eine politische Union zwischen Polen und der Ukrainer einstweilen eine bloße Idee bleiben wird, scheint eine enge politische Kooperation für die Zukunft mehr als absehbar. Ein dem Élysée-Vertrag ähnelndes Abkommen würde in jedem Fall zu einer Veränderung des Machtgleichgewichts in Ostmittel- und Osteuropa führen. Unlängst ließ der Chef der Kanzlei des Premierministers verlauten, dass die Idee einer Achse Warschau-Kiew die polnische Regierung schon seit langem begleite. Ein solches Arrangement würde andere Staaten dazu zwingen, Warschau und Kiew als ebenbürtig zu behandeln – vor allem in Moskau, aber auch in Berlin und Brüssel. Kritische Stimmen sind der Auffassung, dass Warschau versuche, Kiew gegen West und Ost auszuspielen. Eine polnisch-ukrainische Zusammenarbeit würde deutlich von Polen dominiert werden. Warschau würde damit den eigenen Einfluss in der Region und damit auch in Europa massiv erhöhen.
Unlängst hatte auch Boris Johnson ein neues politisches, wirtschaftliches und militärisches Bündnis vorgeschlagen, an dem sich neben Großbritannien, Polen, die Baltischen Staaten sowie – zu einem späteren Zeitpunkt – auch die Türkei beteiligen könnte. Auch Kiew könnte die Idee zukünftig aufgreifen, wenn auf dem nächsten bzw. den kommenden EU-Gipfeln die Ukraine nicht zum Beitrittskandidaten erklärt würde. Boris Johnson, der sich durch den Brexit aus dem europäischen Mainstream ausgegrenzt hat, möchte nun erneut eine größere Rolle in Europa spielen und sieht den Krieg in der Ukraine als Gelegenheit dazu.
Die aggressive Politik der Russischen Föderation, die (in Polen bereits vor dem 24. Februar 2022 bekannt) auch nicht vor militärischen Operationen und Angriffskriegen zurückschreckt, steigert die fortdauernde Sorge der Polen als Opfer russischen Imperialismus erneut auf ihre Souveränität oder auch gar ihre Unabhängigkeit verzichten zu müssen. Es ist somit oberste polnische Staatsräson Souveränität und Unabhängigkeit zu erhalten. Traditionell kann Polen dies – auch bei Zunahme des polnischen Einflusses in Mittel-Ost-Europa – nicht allein. Warschau braucht hierzu Partner – innerhalb wie außerhalb der EU- und NATO-Strukturen. Gerade in Bezug auf Russland zeigte sich, dass einige Formate hierbei wenig zielführend sind. So scheitert die Visegrad-Gruppe derzeit insbesondere an der schwierigen Positionierung Budapests gegenüber dem Kreml. Auch die bilateralen Beziehungen Polens gegenüber Ungarn, das sich in der Vergangenheit als treuer Verbündeter Polens vor allem in Brüssel zeigte, sind durch die mangelnde Distanzierung Viktor Orbans gegenüber Russland belastet und damit in den Hintergrund getreten. In Bezug auf das Weimarer Dreieck gab es zu Kriegsbeginn den kurzen Versuch eines Wiederaufblühens des Formates. Erstmals seit vielen Jahren war es wieder zu einem Treffen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs Polens, Deutschlands und Frankreichs gekommen. Wer die Hoffnung hatte, dieses Momentum könne genutzt werden, wurde enttäuscht. Die Wiederbelebung scheiterte einstweilen.
Und auch die Europäische Union tat sich in den letzten Monaten schwer, eine gemeinsame Sprache in Bezug auf Russland zu sprechen. In der Ablehnung des russischen Angriffskrieges zeigten sich die europäischen Partner einig. In Detailfragen hingegen, insbesondere dem Beschluss von Sanktionen gegenüber Russland, zeigten sich teilweise sehr unterschiedliche Interessen und Schwerpunkte. Polen versuchte beispielsweise durch die Kiew-Reise des Premierministers und des PiS-Parteichefs im März die Initiative aufzunehmen. Jedoch wurde die von Kaczyński vorgeschlagene Friedensmission im Westen nicht aufgegriffen bzw. sogar abgelehnt. Obschon der Krieg in der Ukraine eine Verbesserung der angeschlagenen Beziehungen zwischen der EU und Polen zur Folge hatte, wird das europäische Projekt primär nicht als Sicherheitsgarant wahrgenommen.
Aus polnischer Sicht kann sich weiterhin nur auf ein Format verlassen werden: den Nordatlantik-Pakt. Erst vor wenigen Tagen äußerte sich PiS-Parteichef Kaczyński, dass Polen auf die NATO vertrauen kann. Da das Bündnis weiterhin stark von den USA dominiert wird und unter Biden auch nicht mehr grundlegend in Frage gestellt wird, war es notwendig, die seit der Niederlage Trumps belasteten Beziehungen nach Washington deutlich zu verbessern. Die Frontstellung Polens in unmittelbarer Nähe zur Ukraine wurde zum Auslöser einer Verbesserung dieser Beziehungen. Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat sich die US-Militärpräsenz in Polen deutlich erhöht. Aus Erfahrung folgen den US-Streitkräften Investitionen der amerikanischen Wirtschaft. In Zukunft könnte Washington damit mehr Gewicht auf militärische und wirtschaftliche Interessen als auf Werte legen. Zwar bleiben die Themen Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit für die USA ein Thema in Polen, jedoch werden diese Fragen womöglich hinter die geopolitische Konstellation und ihre sicherheitspolitischen Erfordernisse zurücktreten.
Sowohl in den Plänen einer verstärkten polnisch-ukrainischen Zusammenarbeit (bis hin zu derzeit noch utopischen Plänen einer Union) als auch in den britischen Vorschlägen lässt sich eine geopolitische Zeitenwende erahnen. Es ist längst nicht ausgemacht, dass es zu einer solchen Wende kommen wird – dennoch hat der Krieg in der Ukraine die Sicherheitsarchitektur Europas erschüttert, wodurch eine Rückkehr zu einem Status quo ante unmöglich werden wird.
Deutschland – der unsichere Kantonist
Mit Blick auf Deutschland zeigen sich die Polen derzeit sehr skeptisch. Zum einen sind viele Polen – weit über das Regierungslager hinaus – in Sorge, die Beistandspflicht Deutschlands gegenüber Polen könnten im Ernstfall nicht wahrgenommen werden. Die Aussage des deutschen Bundeskanzlers, wonach Deutschland „jeden Zentimeter NATO-Territoriums verteidigen werde“ klingt für polnische Zuhörer gut, aber nicht unbedingt beruhigend oder gar glaubwürdig. Als zu eng wurde die Zusammenarbeit Russlands und Deutschlands in den vergangenen Jahren wahrgenommen. Hiermit verbunden ist eine zweite wichtige Kritik an Deutschland. So zeigt sich Warschau in Sorge, dass Berlin womöglich alsbald wieder zu einem „business as usual“ mit Russland zurückkehren könnte. Aus diesem Grund wird auch eine Verschrottung der Nordstream-Pipeline zur Debatte gestellt. Wäre sie doch ein deutliches Zeichen, dass es nach dem 24. Februar keine Rückkehr zu den früheren deutsch-russischen (Wirtschafts-)Beziehungen geben könne.
Die Kritik an Deutschland ist groß. „Wir beobachten in den westlichen Ländern zunehmend die Überzeugung, dass der Frieden auf Kosten der Ukraine angestrebt werden müsse. Dies sind inakzeptable Thesen. Jeden Tag werden wir mit der Entlarvung der deutschen Bereitschaft konfrontiert, der Ukraine tatsächlich zu helfen. Das ist äußerst frustrierend für Kiew, aber auch für Polen“, verlautbarte unlängst der stellv. Außenminister Szynkowski vel Sęk. Vielfach wird hierbei die von Bundeskanzler Scholz verkündete Zeitenwende bundesrepublikanischer Außen- und Sicherheitspolitik in Frage gestellt. Kritische Stimmen sind der Auffassung, dass es in Berlin keine wirkliche Veränderung der Politik gegenüber Moskau gegeben habe. Vereinzelte kleinere Korrekturen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesregierung über die nächste Etappe ihrer Außenpolitik sowie eine Neugestaltung der Beziehungen zu Russland nachdenke.
Eine solche Kritik an Deutschland aus den Reihen des Regierungslagers könnte schnell als üblicher antideutscher Reflex der polnischen Rechten abgetan werden. Aber dem ist nicht so – geht die Kritik am westlichen Nachbarn doch weit über rechte und konservative Zirkel in Polen hinaus. So zeigen sich auch gemäßigte Kräfte der politischen Szene in Polen enttäuscht über die deutsche Politik und gehen auf Distanz zum Nachbarn im Westen. Deutschland müsse endlich einen Beitrag dazu leisten, Russland zu schwächen. So äußerte sich kürzlich auch Donald Tusk zur Bundespolitik: „Deutschland muss heute fest hinter der Ukraine stehen, wenn wir glauben sollen, dass es aus seiner eigenen Geschichte gelernt hat“. Gerade traditionell proeuropäische Parteien wie die von Tusk geführte Bürgerplattform stehen (analog zur PiS und ihren Kontakten zu Orban) in der Kritik für ihre Zusammenarbeit mit Deutschland. Auch in den Reihen der Opposition gibt es mittlerweile Stimmen, die vor „Deutschlandverstehern“ in den eigenen Reihen warnen. Der orientierte Blick auf Berlin in Polen nimmt ab. Passend hierzu äußerte Donald Tusk die Meinung, dass sich der geopolitische Schwerpunkt in der EU durch die Folgen des Ukraine-Konflikts von Berlin nach Paris verlagern werde. Frankreich sei derzeit dabei, Deutschland in seiner politischen Führungsrolle abzulösen. Sollte die Distanz der polnischen Regierung, aber auch der sich derzeit noch in der Opposition befindlichen Parteien anhalten bzw. zunehmen, könnte sich auch eine Zeitenwende andeuten. Zu einem Großteil ist dies abhängig von der Frage, wie glaubhaft Berlin auf Distanz zu Moskau gehen wird und in dieser Distanz verharren wird. In Polen weiß man, dass es in Berlin nur zu einem Umdenken in den Beziehungen zu Russland käme, wenn sich die deutsche Regierung in der Defensive befände und die deutschen politischen Eliten das Gefühl hätten, dass sie in Europa allein dastünden, wenn sie weiterhin an alten Dogmen festhielten.
Deutschland wird vor dem Hintergrund des Krieges generell als zurückhaltend und untätig dargestellt. Wiederholt gab es Stimmen, dass alle bisherigen Sanktionen Deutschlands von seinen Partnern in der EU oder der NATO aufgezwungen worden wären. Deutschland zeige kein Leadership – Berlin reagiere, aber agiere nicht. Die bisherige Politik Deutschlands gegenüber Russland wird als „falsch“ eingeschätzt. Alle deutschen Bundesregierungen seit der Wiedervereinigung trügen die Schuld daran. Deutschland habe noch einen sehr langen Weg vor sich, um seine Außenpolitik zu überarbeiten, aber es sei gut, dass dieser Wandel begonnen hätte. Die von Scholz unmittelbar nach Kriegsbeginn angekündigte große Wende Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik wurde zwar durchgehend als positiv wahrgenommen, vielfach wird in Polen jedoch die Kritik geäußert, dass diesen noblen Worten, keine Taten folgten.
Zeitenwenden und Persistenz
Der Krieg im Nachbarland hat in Polen für eine Reihe von politischen Veränderungen, aber auch Bestätigungen des politischen Handels geführt:
Bestätigung erfuhr Warschau insbesondere in seiner Haltung gegenüber Russland. Wurde Polen in der Vergangenheit vielmals eine russophobe Grundhaltung nachgesagt, stellte sich die polnische Einschätzung der Politik des Kremls als die wesentlich realistischere Perspektive dar. Im Gegensatz zur naiven Politik vieler westlicher und auch deutscher Politiker gegenüber Wladimir Putin, hatte Warschau wie auch andere ostmitteleuropäische Staaten ein feineres Gespür dafür, welche Gefahr vom russischen Imperialismus ausgehe.
Anders als in Deutschland kann hierbei somit nicht von einer Zeitenwende gesprochen werden.
Im Hinblick auf die Verteidigungspolitik kommt es zu einer Intensivierung der Rüstungspolitik, die die polnische Armee massiv ausbauen werden wird. Im Effekt steigt hierdurch nicht nur die Verteidigungsfähigkeit Polens, sondern womöglich auch der Einfluss Polens innerhalb des NATO-Bündnisses. Anders als in Deutschland kann auch hier von keiner Wende gesprochen werden. Der in Polen als naiv wahrgenommene deutsche Pazifismus ist in der polnischen Gesellschaft nicht vorhanden. Zu sehr ist die polnische Politik und Gesellschaft um den Erhalt der eigenen Souveränität und Unabhängigkeit bedacht.
Eine Zeitenwende deutet sich hingegen insbesondere in der Politik gegenüber der Ukraine an. Trotz historischer Schwierigkeiten dominiert eine Solidarität, aber auch die Sympathie gegenüber den östlichen Nachbarn. Fundament dieser ist die Sorge, Polen könnte das nächste Opfer des Kremls werden. In Folge intensiviert sich die Zusammenarbeit zwischen dem ukrainischen Staat und der Republik. Diese wird unterschiedliche Formen annehmen können, wobei derzeit eine Zusammenarbeit ähnlich des deutsch-französischen
Élysée-Vertrages angestrebt werden. Polen würde in Kooperation mit der Ukraine (und damit auch als Fürsprecher einer EU-Mitgliedschaft) deutlich an Einfluss in Europa gewinnen.
Die Beziehungen Polens gegenüber Deutschland gestalten sich unterdessen als schwierig. So ist die polnische Seite insbesondere über die zurückhaltende Position der Bundesregierung enttäuscht, die sich nach Meinung Warschaus nicht entschieden genug gegen Russland stellt. Anders als sonst findet sich diese Kritik nicht allein in den Reihen des polnischen Regierungslagers, sondern trifft ebenfalls auf Fürsprecher in den Reihen der Opposition. Es wird vereinzelt in Frage gestellt, dass Polen sich auf Deutschland als Verbündeten verlassen könne. Auch wird befürchtet das Deutschland alsbald zu einem „business as usual“ mit Russland zurückkehren könne. Größere Sicherheitsgarantien sieht Warschau allein in der NATO sowie insbesondere in der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten.
Die größte Zeitenwende, die derzeit noch nicht vollzogen ist, sich jedoch am Horizont andeutet, könnte ein geopolitischer Wendepunkt sein. Womöglich könnte der Krieg in der Ukraine zu einer tektonischen Plattenverschiebung in der geopolitischen Konstellation (mindestens) des europäischen Kontinents führen, dessen Ausmaß bis dato noch nicht abzusehen ist. Inwiefern ein solches Erdbeben auch die deutsch-polnischen Beziehungen erschüttern dürfte, wird maßgeblich davon abhängig sein, inwiefern die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen in Bezug auf die Russische Föderation gemeinsame Interessen verfolgen.