Country reports
Eine fragile Mehrheit im Parlament – kein autoritärer Obrigkeitsstaat
In den ersten fünf Monaten hat die konservative Minderheitsregierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) unter Premierminister Marcinkiewicz noch keine großen Schritte unternommen; aber sie hat sich gehalten, was lange unsicher war; sie hat den Haushalt für 2006 durchgebracht und versucht ihre fragile parlamentarische Basis einigermaßen zu stabilisieren. Damit befindet sich Polen weiter in einer Phase stabiler Instabilität.
Im Sejm, dem polnischen Parlament, wurde die Minderheitsregierung der PiS bisher von den beiden nationalistisch populistischen Parteien „Selbstverteidigung“ (Sam) und „Liga der polnischen Familien“ (LPR) sowie zum Teil von der bäuerlichen „Volkspartei“ (PSL) unterstützt. Die PiS allein verfügt im Sejm nur über 155 von insgesamt 460 Sitzen, Sam über 56, die LPR über 34 und PSL über 25 Sitze. Um also eine Mehrheit von mehr als 230 Stimmen im Sejm zu erhalten ohne eine Koalition mit der liberal-konservativen „Bürgerplattform“ (PO – 133 Sitze) einzugehen, braucht PiS auf jeden Fall die Stimmen der Sam sowie einer weiteren Partei (LPR oder PSL). Eine zwei Drittel Mehrheit (307 Stimmen), die Verfassungsänderungen ermöglichte, ist auf diese Weise unerreichbar. Sie wäre nur unter Einschluss der PO realisierbar. Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse sind Mutmaßungen, die PiS könne sich „des Parlaments entledigen“ um einen „katholisch geprägten Obrigkeitsstaat“ durchzusetzen (FAZ vom 21. Januar), abwegig. Eine Gefährdung des Parlamentarismus in Polen zu konstatieren, ist überzogen. Das Parlament spielt gerade in der jetzigen Konstellation eine entscheidende Rolle.
Das Scheitern der Großen Koalition und des „Stabilisierungspaktes“
Bei den Wahlen am 25. September 2005 haben sich vor allem die Verlierer der Transformation zu Wort gemeldet. Die linke Regierung wurde wie erwartet abgewählt. Überraschend war hingegen, dass PiS aus den Parlamentswahlen mit 27% als relativ stärkste Partei hervorging, vor der PO mit 24%, die vorher laut Umfragen fast durchweg vorne gesehen wurde. Die Entscheidung fiel zugunsten eines starken sozial-paternalistischen Staates, der Bekämpfung von Korruption und der Beseitigung des Postkommunismus.
Einen Monat später konnte sich auch der Präsidentschaftskandidat der PiS, Lech Kaczyński, nach den vorherigen Prognosen ebenfalls überraschend mit 54 zu 46% gegen den Parteiführer der PO, Donald Tusk, durchsetzen. Den Ausschlag gaben dabei die Wähler des linknationalen Populisten, Andrzej Lepper, die im zweiten Wahlgang zum PiS-Kandidaten überschwenkten. Der doppelte Wahlerfolg der PiS erschwerte die Verhandlungen zur Bildung einer Großen Koalition, wie sie vor der Wahl von beiden Parteien, PO und PiS angestrebt worden war. Als Wahlsieger wollte PiS sich nicht auf Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe verstehen; der frustrierte Verlierer PO wiederum vermochte sich nicht in die Rolle des Juniorpartners einzufinden. Dass die Koalitionsbildung angesichts größerer Divergenzen in wichtigen Politikbereichen, vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, nicht leicht werden würde, war schon vorher zu sehen. Letztendlich fehlte es aber wohl auf beiden Seiten an der notwendigen Kompromissfähigkeit.
PiS bildete daraufhin eine Minderheitsregierung unter dem bis dahin fast unbekannten Premierminister Marcinkiewicz, die jeweils zur Hälfte aus Parteipolitikern und parteilosen Fachleuten zusammengesetzt wurde. Durch die Einbeziehung von Personen aus dem Umfeld der PO versuchte PiS eine breitere Basis zu gewinnen und gleichzeitig die Position der PO zu schwächen. PiS-Chef Kaczyński geht es um die Bildung einer konservativen Volkspartei. Dieses Ziel erreicht er aber nur, wenn sich auch Konservative aus der PO diesem Projekt anschließen. Die PO, die dann nur mehr als liberale Partei fortbestehen würde, setzt gegen diesen Kurs der PiS inzwischen auf konsequente Opposition. Inhaltlich wird es dabei wesentlich darauf ankommen, dass es der PO gelingt, das ihr im Wahlkampf angehängte Image einer Partei unsolidarischer liberaler Experimente zu korrigieren und die Schwächen der PiS zu ihren Stärken zu machen. Dem Schattenkabinett, das im Januar vorgestellt wurde, steht Jan Rokita vor. Für die Außenpolitik steht Bronisław Komorowski, für Wirtschaft Adam Szejn-feld, für Finanzen Zbigniew Chlebowski und für Europa Anna Zielińska-Głebocka bereit. Der Parteivorsitzende Tusk, der im Mai zur Wiederwahl steht, ist nicht vertreten.
Im Zusammenhang mit den Haushaltsberatungen Anfang des Jahres führte PiS Verhandlungen mit allen Parteien außer der postkommunistischen SLD. Nachdem eine Koalition mit der PO für die PiS „aus objektiven Gründen“ ausschied, strebte sie schließlich einen „Stabilisierungspakt“ mit Sam und LPR an. Das Stabilitätstrio verbindet die Gegnerschaft zur post-kommunistischen III. Republik wie zum Liberalismus und das Bekenntnis zu einer nationalen Solidarität. Als Druckmittel beim Zustandekommen des Paktes diente PiS die Drohung mit Neuwahlen, bei denen die Sam wohl geschwächt würde, LPR und PSL wahrscheinlich gar nicht mehr in den Sejm gekommen würden. Der am 2. Februar unterzeichnete Stabilisierungspakt zwischen PiS, Sam und LPR verpflichtete die Partner für zunächst ein Jahr zur Unterstützung der Regierung. Bereits knapp zwei Wochen später wurde jedoch eine zusätzliche Vereinbarung zum Stabilitätspakt notwendig, die bestimmt, dass auch Änderungsanträge zu Gesetzen vorher abzustimmen sind und keine Gesetzesanträge anderer Parteien unterstützt werden dürfen. Erst nach diesem Annex verkündete der Staatspräsident in einer Fernsehansprache, dass es keine Neuwahlen geben werde. Dass damit eine stabile Mehrheit gesichert ist, glaubten nur wenige. Weiterer Streit und Krisengespräche folgten. Am 21. März erklärte schließlich LPR-Chef Giertych das Ende des „Stabilisierungspaktes“, worauf PiS nun die Selbstauflösung des Sejm und Neuwahlen anstrebt. Dazu ist allerdings zunächst eine zwei Drittel Mehrheit oder im Weiteren eine absolute Mehrheit notwendig, die PiS nicht erhalten wird. Außer der SLD sprachen sich alle Parteien gegen Neuwahlen in diesem Frühjahr aus. Die PO ist allerdings unter der Voraussetzung einer Wahlrechtsänderung bereit über Neuwahlen im Herbst zu verhandeln. Sie möchte durch die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes eine klare Regierungsmehrheit erreichen. Nach derzeitigem Verhältniswahlrecht würden Neuwahlen die Schwierigkeiten bei der Bildung stabiler Mehrheiten nicht beheben: Nach Umfragen, die nur grobe Tendenzen anzeigen können, käme PiS auf 33 bis 40%, die PO auf 29 bis 35%; Sam und SLD könnten mit 7 bis 10% rechnen. Nicht mehr im Sejm vertreten wären die LPR und PSL. Wieder währe man auf eine Koalition angewiesen. Zudem lehnten im März 57% der Wähler einen erneuten Urnengang ab; nur 28% sind dafür. 45% befürworten ein Bündnis zwischen PiS und PO; nur 24% wollen die Koalition zwischen PiS und den kleinen Parteien.
So ist davon auszugehen, dass die PiS mindestens bis zu den Kommunalwahlen im Herbst weiter lavieren wird, jetzt wahrscheinlich in einer Koalition mit Sam und mit Unterstützung der PSL. Wenn auch dieses politische Experiment scheitert, entscheiden sich die Politiker von PiS und PO vielleicht doch noch für die Große Koalition oder es kommt tatsächlich zu Neuwahlen. Die PiS müsste dann darauf hoffen, mit einem noch nicht verbrauchten Amtsbonus eine absolute Mehrheit zu gewinnen, was voraussetzt, dass die kleineren Rechtsparteien mehr oder weniger in ihr aufgingen. Auf der anderen Seite stünde die PO als Alternative bereit, wenn sie geschlossen bleibt und sich als Opposition profiliert. Wahrscheinlich bliebe aber zumindest die Sam im Sejm vertreten und damit das alte Dilemma der Bildung einer stabilen Mehrheit erhalten, es sei denn, man einigte sich mit Zwei-Drittel-Mehrheit auf eine Wahlrechtsänderung, woran die kleineren Parteien wenig Interesse haben dürften.
Neue Akzente in der Außenpolitik
Es ist davon auszugehen, dass die Hauptlinien der Außenpolitik von den Brüdern Kaczyński vorgegeben werden. Zum Teil sind pragmatisch bedingte divergierende Zwischentöne vom Premierminister und dem parteilosen Außenminister, Stefan Meller, zu vernehmen, der zwar außenpolitischer Experte ist, aber in diesem Machtdreieck die schwächste Stellung hat. Die Kaczyńskis haben sich vorgenommen, die Interessen Polens klarer und entschiedener als bisher auf der internationalen Bühne zur Geltung zu bringen. So wird die Außenpolitik in einer Mischung aus internationaler Unerfahrenheit, deutlichem nationalem Selbstbewusstsein, und einem untergründigen Anspruchsdenken intoniert, dass sich aus dem Selbstverständnis als Opfer des europäischen Imperialismus, Nationalismus und Kommunismus sieht, der vor allem von Deutschland und Russland ausging.
Der EU-Verfassungsvertrag und eine durch ihn angestrebte Vertiefung der politischen Union werden eindeutig abgelehnt. Einen neuen Vertrag mit „generellen Ordnungsregeln“ will man verhandeln. Im Rahmen eines solidarischen Europas wird jedoch sehr wohl eine vertiefte Zusammenarbeit in verschiedenen konkreten Politikfeldern angestrebt, wie z.B. in der EU-Ostpolitik, bei der Energiesicherung, bei der inneren und äußeren Sicherheitspolitik oder bei der Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse. Dabei wird ein Ansatz variabler Koalitionen innerhalb der Union verfolgt und eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der G 6 vorgezogen gegenüber dem „Weimarer Dreieck“. Während bei der Vertiefung der EU gebremst wird, soll die Erweiterung um die Ukraine und Türkei sowie weitere Staaten forciert werden, auch wenn das für Polen materielle Einbußen zur Folge hätte.
Deutschland, dass beim Besuchsprogramm des neuen Präsidenten Kaczyński erst an sechster Stelle stand – ein deutliches Zeichen, wird sehr wachsam und äußerst misstrauisch betrachtet, insbesondere was das deutsch-russische Verhältnis angeht, das „Benehmen“ innerhalb der EU (Dominanzstreben, deutsch-französisches Direktorium, Übergehen der kleineren Länder) und den Umgang mit Geschichte. Die russisch-deutsche Gaspipeline durch die Ostsee wird als „im krassen Widerspruch zu polnischen Interessen“ stehend genauso entschieden abgelehnt wie ein „sichtbares Zeichen an das Unrecht von Vertreibungen“, wie es im Koalitionsvertrag von Union und SPD vorgesehen ist. Beim Besuch Präsident Kaczyńskis in Berlin ist atmosphärisch eine Grundlage für weitere Gespräche geschaffen worden. Kaczyński setzte vorsichtig neue Akzente mit seinem Bekenntnis zum „Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ und zur Möglichkeit eines polnischen Abzweiges von der russisch-deutschen Gaspipeline. Eine Würdigung des bisherigen Prozesses der Annäherung zwischen Deutschland und Polen blieb jedoch aus. Perspektiven zukünftiger partnerschaftlicher Kooperation wurden nicht eröffnet. Um die Fremdheit und Distanz zu überwinden, bedarf es weiterer Kontakte und vor allem gemeinsamer Initiativen.
Wie geht es politisch weiter in Polen?
Das Land hat mit erheblichen strukturellen Schwierigkeiten zu kämpfen: Nach einer Studie der EU-Kommission gehört es als 21. von 33 Ländern zu den am wenigsten innovativen Staaten in Europa. Auch in der Produktivität rangiert Polen mit 19,9 US-Dollar pro Arbeitsstunde (Deutschland 47,6 US-Dollar) hinter den meisten EU-Ländern. Verkehrswege und Infrastruktur müssen entwickelt, der Korruption Einhalt geboten werden. Bei der Wohlstandsentwicklung liegt Polen mit 51,3% des EU-Durchschnitts auf dem vorletzten Platz in der EU vor Litauen. Die Arbeitslosigkeit beträgt rund 18%. Die Geburtenrate ist von 2 Kindern pro Frau 1990 auf 1,2 Kinder 2003 rapide gesunken, was zu demographischen Verwerfungen führen wird.
Polen befindet sich zudem auch in einer kritischen politischen Situation. Gerade einmal 40% der Wahlberechtigten haben sich an den Parlamentswahlen beteiligt. Politische Resignation greift um sich. Nach der frustrierenden Erfahrung eines doppelten Scheiterns zunächst des „Wahlbündnisses Solidarność“ Ende der 90er Jahre und dann des Linksbündnisses in den vergangenen Jahren verband sich mit dem von den Oppositionsparteien – auch von der PO - gemeinsam propagierten Slogan von der „IV Republik“ (die erste endete mit den polnischen Teilungen, die zweite 1939, die dritte begann 1989) die Erwartung, einer grundlegenden Staatsreform der III. Republik sowie eines Bruches mit dem Postkommunismus und seinen korrupten Seilschaften. Wird diese Erwartung, die sich vor allem auf die Wahlsieger PiS und PO richtet, erneut enttäuscht, ist ein weiterer Rückzug der Wähler und eine Delegitimierung und Degradierung der Demokratie zu befürchten. Es scheint nicht so, dass sich PiS und PO dieser prekären Situation und ihrer Verantwortung ausreichend bewusst sind. Wollen sie eine Staatskrise vermeiden, sind sie zum Erfolg verdammt.
(Stark gekürzte Fassung einer ausführlichen Analyse, die im April in den Auslandsinformationen der Konrad-Adenauer-Stiftung erscheinen soll)