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Blockierte Transition mit Ankündigung

Tunesien sucht einen Weg aus der Krise

War es ein Verzweiflungsakt, wohl durchdachte Taktik oder allein der Wunsch, dem Land in seiner schwersten politischen Krise seit der Revolution einen Dienst zu erweisen und somit staatsmännisch die letzten Tage einer vielleicht zu Ende gehenden Ära begleitet zu haben? Niemand weiß derzeit genau, was Mustapha Ben Jaafar, den Präsidenten der Verfassungsgebenden Versammlung in Tunesien, abschließend bewogen hat, am 6. August 2013 die Arbeiten des Übergangsparlaments vorerst zu „suspendieren“, bis der Weg zu einem neuen „nationalen Dialog“ gefunden ist.

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In jedem Fall sorgte die Ankündigung im Rahmen einer Fernsehansprache an das tunesische Volk umgehend für Reaktionen der Koalitionspartner (vor allem der islamistischen Ennahda und des kleineren Partners CPR) wie der Opposition. Mit der nicht unumstrittenen Entscheidung Ben Jafaars ist der Prozess der politischen Transition vorerst gestoppt. Politische Entscheidungsträger, Gewerkschaften, Vertreter der Zivilgesellschaft sowie die internationale Gemeinschaft versuchen derzeit intensiv, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Eine Krise, die viele Ursachen hat und teilweise zurückreicht bis an die Anfänge der Umbrüche in dem Land, das vor gut zweieinhalb Jahren den Ausgangspunkt für die regionalen Umwälzungen bildete.

Die politische Spaltung ist in eine gesellschaftliche geworden

Ben Jaafars Entscheidung setzt den vorläufigen Schlusspunkt unter eine tief reichende, nicht nur politische Krise, auf die das Land mehr oder weniger deutlich erkennbar seit Monaten zusteuerte. Symbolträchtiger und politisch schwerwiegender Ausdruck für diese Krise stellt insbesondere der Rückzug von nahezu 70 Abgeordneten der Opposition aus der Verfassungsgebenden Versammlung dar, die ihre Mitarbeit in Reaktion auf das Attentat auf den linksgerichteten und regierungskritischen Abgeordneten Mohamed Brahmi vom 25. Juli 2013 eingestellt und damit allein bereits die Funktionsfähigkeit des Hohen Hauses erheblich eingeschränkt hatten. Unmittelbar nach dem Attentat erklärten erste Abgeordnete ihren Rückzug und riefen zu einem Sit-In, einer regelrechten Belagerung des Parlaments auf, der sich mehr und mehr Parlamentarier anschlossen. Ihre Forderungen: Bildung einer neuen Regierung der „Nationalen Rettung“, Auflösung des Parlaments und Verbot der sogenannten „Ligen zum Schutz der Revolution“, die vermehrt und gewalttätig gegen Vertreter der Opposition vorgegangen sind. Der Demonstration der Oppositionsabgeordneten, die einem breiten Bündnis unabhängiger Parlamentarier sowie vor allem Vertreter des „Front Populaire“ und des Bündnisses „Union pour la Tunisie“ angehören, gesellten sich seit nunmehr mehr als zehn Tagen abendlich jeweils Tausende Tunesier hinzu, die das Anliegen unterstützten und die Legitimität der Regierung verwirkt sehen. Die regierende islamistische Partei Ennahda mobilisierte ihre Anhänger aus Tunis und dem ganzen Land ebenfalls, so dass in den letzten Tagen des Ramadan allabendlich angesichts der Massen von Demonstrierenden allein bereits das Straßenbild die klare Lagerbildung erkennen ließ: Nur getrennt in einem Abstand von ca. 50 Metern und entsprechenden Stacheldrahtzäunen standen und stehen sich die Lager Pro- und Contra-Regierung unversöhnlich und teilweise unverhohlen feindlich gegenüber. Tunesien heute ist ein gespaltenes Land, dessen zunehmende politische Bi-Polarisierung droht, den Spaltpilz immer tiefer in Gesellschaft zu tragen. Um derartig eskalieren zu können und den aufgestauten Enttäuschungen Raum zu schaffen, brauchte es einiger Faktoren und Ursachen, die nicht allein endogenen Ursprungs sind und mit dem tunesischen Prozess zu tun haben, sondern auch von regionalen Faktoren beeinflusst sind. Und natürlich drängen sich umgehend Vergleiche mit Ägypten auf, Vergleiche, die anfänglich noch als akademische Übungen abgetan wurden, derzeit jedoch mehr und mehr an Evidenz erfahren. Jenseits der Ursachenanalyse lässt die Bestandsaufnahme ein ähnliches Bild erkennen – natürlich mit entscheidenden qualitativen Unterschieden – wie in Ägypten.

Das zweite politische Attentat in fünf Monaten

Das Attentat an Mohamed Brahmi stellte nach der Ermordung an Choukri Belaid vom 6. Februar 2013 einen erneut schmerzhaften und tiefgehenden Einschnitt für die tunesische Gesellschaft und den politischen Transitionsprozess dar. Es war nicht der Grund für die politische Krise, die Tunesien derzeit durchlebt, sondern vielmehr der berühmte letzte Tropfen, dessen es bedurfte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Wie konnte es sein, dass mit Brahmi erneut ein Vertreter der Opposition und vor allem ein dezidiert Ennahda-kritischer Politiker zur Zielscheibe der Gewalt wurde, die das politische Klima in Tunesien seit Monaten anheizte? Diese und andere Frage stellten sich viele Tunesierinnen und Tunesier. Wenngleich Ennahda an einem solchen Attentat politisch am wenigsten Interesse haben dürfte, so machten sowohl die Familie des Opfers wie auch die Oppositionsparteien unisono die Regierungstroika und dabei vor allem Ennahda moralisch dafür verantwortlich. Die Suche und Identifikation der eigentlichen Täter, die nach Aussagen von Innenminister Ben Jeddou nahezu ausschließlich im salafistischen Lager zu suchen sind, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Daher setzt vermutlich die oftmals gestellte Frage danach, wer eigentlich von einem solchen Attentat profitiert, eine Rationalität voraus, die angesichts der terroristischen Realität nicht greift. Die gewaltbereiten Salafisten haben über ihre Netzwerke bereits mehrmals zu Morden aufgerufen, ihr Ziel ist es, Chaos zu hinterlassen, wo ihre Ordnung nicht installiert werden kann. Bereits das Attentat auf Belaid hatte Tuneisen im Februar in eine tiefe politische Krise gestürzt, die mit dem gescheiterten Versuch des damaligen Regierungschefs, Hamadi Jebali (Ennahda), mit Hilfe einer Technokraten-Regierung die zweite Phase der Transition erfolgreich zu beenden, und einer kleineren Kabinettsumbildung unter dem neuen Regierungschef und ehemaligen Innenminister, Ali Larayedh, keine wirkliche Lösung fand. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatten breite Teile der Opposition den Rücktritt der Regierung sowie die Auflösung der im Oktober 2011 gewählten Verfassungsgebenden Versammlung gefordert. Ihre Vorwürfe an die Regierungstroika waren damals wie heute, nicht genügend gegen die um sich greifende politische Gewalt zu unternehmen, den ursprünglich auf ein Jahr angelegten verfassungsgebenden Prozess bewusst in die Länge zu ziehen sowie – insbesondere an die Adresse der Ennahda gerichtet – den Übergangsprozess für sich nutzen, um entscheidende Stellen in Staat und Verwaltung mit Parteigängern zu besetzen. Die Kritik an der Regierung nährte sich zugleich aus dem Verdacht der Opposition heraus, für das neue demokratische Tunesien einen anderen, auch religiöseren Gesellschaftsentwurf zu entwickeln, als es der Diskurs der Ennahda nahelegte. Hinweise dafür sahen die säkular-nationalen Oppositionsanhänger und Vertreter der Zivilgesellschaft insbesondere durch die unterschiedlichen Entwürfe des Verfassungsentwurfes gegeben, dessen Präambel im Juli im Parlament diskutiert wurde. Wenngleich Experten immer wieder erklärten, der aktuelle Entwurf sei immerhin der beste, den die Verfassungsgebende Versammlung bislang erarbeitet habe, entdeckten Parlamentarier und Beobachter immer wieder auch aus ihrer Sicht eklatante Widersprüche. So enthält der Text in der Präambel beispielsweise den historisch begründeten Kompromiss, dass Tunesien eine Republik sei, deren Religion der Islam sei. Artikel 141 des Verfassungsentwurfs legt jedoch fest, dass der Islam Staatsreligion sei und verweist auf einen Ewigkeitsparagraphen, demzufolge eine entsprechende Verfassungsänderung nicht möglich sei. Die jüngsten Ereignisse fallen demnach in eine entscheidende Periode politischer Weichenstellung, deren Fortgang zumindest mit Fragezeichen zu versehen ist.

Sicherheit als Priorität

Im Kontext dieser politischen Fragen wurde vor allem die Sicherheitslage zu einer der größten Herausforderungen für die Regierung wie die Gesellschaft im Allgemeinen. Nach einer zuletzt durchgeführten Umfrage erklärten 65 Prozent der Tunesier, dass sie die terroristische Bedrohung für ein erhöhtes Risiko halten. Spätestens seit den Übergriffen gewaltbereiter salafistischer Gruppen auf die US-amerikanische Botschaft sowie die amerikanische Schule in Tunis vom September letzten Jahres, den vermehrten Angriffen auf Oppositionelle und Gewerkschaftler sowie den Kämpfen, die sich die tunesischen Sicherheitskräfte mit den terroristischen Gruppierungen unterschiedlicher Herkunft am höchsten Berg Tunesiens, dem Jebel Chaambi, seit mehreren Monaten bereits liefern, ist die Sicherheitsfrage zum Politikum und Teil der politischen Auseinandersetzung geworden. Diese Entwicklungen sind nicht monokausal oder gar ursächlich miteinander verknüpft, da sie letztlich auf unterschiedliche, teilweise externe Faktoren zurückzuführen sind. Seit der Krise in Mali haben zunehmend terroristische Gruppierungen von der Durchlässigkeit der algerisch-tunesischen Grenze profitiert, um sich in der unzugänglichen Bergregion niederzulassen. Zugleich sollen Anhänger des von dem radikalen Prediger Abu Ayadh 2011 gegründeten Al Qaida-Ablegers Ansar Al Scharia (Anhänger des islamischen Rechts) die Region ebenfalls als Rückzugs- und Trainingsraum nutzen. Der zudem von Libyen ausgehende und nahezu unkontrollierbare Waffenhandel sichert den Nachschub für diese Gruppierungen, derer die Regierung bislang nicht habhaft werden konnte. Umso schockierter war das Land, als nur vier Tage nach der Ermordung Mohamed Brahmis acht tunesische Soldaten in der Nähe des Berges tot aufgefunden wurden, offensichtlich Opfer von Terroristen und kaltblütig ermordet. Tunesische Nationalgarde wie Armee setzten zu einer Großoffensive an, die über Tage hin andauerte und bis heute nicht den gewünschten Erfolg brachte. Die Regierung steht damit auch mit Blick auf die Sicherheitsfrage erheblich unter Druck, wie die in relativ kurzer Zeit erfolgten zahlreichen Verhaftungen verdächtiger salafistischer Gewalttäter nahelegen. Die Geschwindigkeit, mit der die Regierung und der Sicherheitsapparat dabei in den letzten Tagen agierten, löste bei vielen Tunesiern die Frage danach aus, warum dies erst jetzt geschehe und weshalb man – so wird unterstellt – derart lax mit diesen Gruppierungen umgegangen sei, bevor der Staat sich entschloss, sein Gewaltmonopol endlich durchzusetzen. Die öffentliche Wahrnehmung ist auch hier bei der Suche nach den Verantwortlichen eindeutig: 74 Prozent weisen der Ennahda aufgrund ihrer nicht als eindeutig und standhaft genug empfundenen Haltung gegenüber den Salafisten die Verantwortung für diese Situation zu; 50 Prozent sehen die Regierung als Ganzes wegen ihrer Nachlässigkeit in der Pflicht.

Regierung mit dem Rücken zur Wand

Ungünstiger hätten folglich die Entwicklungen der letzten Wochen und Monate für die Regierungskoalition unter Ali Larayedh nicht verlaufen können. Dass die Opposition, diesmal geeint durch den gemeinsam ausgemachten politischen Gegner, das erneute Attentat sowie die Ermordung der tunesischen Soldaten zum Anlass nehmen würde, gegen die Regierung mobil zu machen, lag auf der Hand. Umso erstaunlicher bewerteten viele Beobachter die als völlig apathisch und weitgehend von der Realität losgelöst wahrgenommenen Stellungnahmen Larayedhs, die auf beide Ereignisse folgten. Der selbstverständlichen Verurteilung der Taten folgte die Absage an politische Konsequenzen mit Blick auf die Regierung auf dem Fuße. Stattdessen rief er die Nation auf, in diesen schweren Stunden zusammenzustehen und durch Einigkeit die entscheidende Phase der Transition zu bestehen. Larayedh verteidigte die Legitimität der Regierung sowie der Verfassungsgebenden Versammlung und rief dazu auf, den laufenden Verfassungsgebungsprozess nicht durch Forderungen nach Auflösung des Parlaments zu torpedieren. Eine Auflösung des Parlaments widerspräche dem Wahlwillen des Volkes und würde das Land in eine verfassungsrechtliche Leere stürzen, deren Konsequenzen kaum absehbar seien, argumentierte der Premier, mit Blick auf den letzten Punkt nicht zu Unrecht. Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi äußerte sich seitdem ebenfalls immer wieder und erklärte die Dialogbereitschaft seiner Partei auch mit Blick auf eine erweiterte Regierungsrieg, bezeichnete die Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung jedoch als „rote Linie“, die es nicht zu überschreiten gelte, so Ghannouchi. Zugleich wolle man an Larayedh als Regierungschef festhalten. Dabei dürfte auch Ennahda klar sein, dass eine reine „Einladung“ an andere politische Kräfte, einer erweiterten Regierungskoalition beizutreten, ein nicht wirklich attraktives sowie der Situation angemessenes Angebot sein kann. Ennahda insistiert derweil auf der Beibehaltung einer politischen Regierung mit Parteivertretern, die als Regierung der Nationalen Einheit figurieren kann. Derweil droht Ungemach auch aus der eigenen Koalition heraus: Die Partei Mustapha Ben Jaafars, Ettakatol, hatte bereits vor dessen Ankündigung, die Arbeiten der Verfassungsgebenden Versammlung zu suspendieren, angekündigt, für eine Regierung der Nationalen Einheit oder Rettung eintreten zu wollen und hatte für den Fall der Weigerung der Partei Ghannouchis offen mit Koalitionsbruch gedroht.

Für Ennahda entbehrt die gesamte Situation nicht einer gewissen Tragik: Hatte man Ende Juni den Gang der Ereignisse in Ägypten beobachtend bereits intensive Solidaritätsadressen an den abgesetzten ägyptischen Präsidenten Mursi und die Muslimbrüder in Kairo gesandt, so scheint sich der Versuch, dadurch einem ähnlichen Schicksal wie am Nil zu entziehen, nunmehr gegen die Ennahda zu wenden. Der Schulterschluss mit Mursi erweist sich letztlich als falsche Taktik. Beobachter in Tunesien behaupten gar, dass das Thema „Legitimität“ mit Blick auf die Regierung erst dadurch wieder zum Thema wurde und dankbar von der Opposition aufgegriffen wurde. Wenngleich sich politische Entscheidungsträger und Analysten einig sind, dass das ägyptische Szenario in seiner Dimension bereits auf Grundlage der anders gearteten Rolle der Armee auf Tunesien kaum übertragbar, geschweige denn wiederholbar ist, dreht sich der politische Diskurs genau um diese thematische Achse: Legitimität und / oder Legalität der Regierung. Zugleich wird der Protest der Straße, auch derjenigen, die keine primär parteipolitische Motivation zeigen, vermutlich eher zu- als abnehmen. Am Wochenende verkündeten fünf Vertreter der tunesischen Tamarod-Bewegung (Revolution), aus Solidarität mit Abgeordneten des Sit-In im Bardo in den Hungerstreik zu treten.

Ein Kompromiss wird für Ennahda umso schwieriger, als sich die Partei in der Vergangenheit – ähnlich wie die Muslimbrüder in Ägypten und in Libyen – mit dem Dialog schwer tat. Mit der größten Oppositionspartei, Nidaa Tounes, sprach man bis vor kurzem überhaupt nicht, weil man in ihr - übertrieben gesagt - die Reinkarnation der alten Staatspartei RCD erblickte. Erst das Attentat auf Choukri Belaid brachte hier notgedrungen Bewegung ins Spiel, wenn auch halbherzig.

Opposition einig gegen Ennahda und doch auf der Suche nach einem Projekt

Die Opposition zeigt derweil demonstrativ ungewöhnliche Einigkeit. Die Vertreter linker, liberaler sowie zentristischer Traditionen verbindet eine überzeugte Gegnerschaft zur Ennahda, deren Diskurs i n ihren Augen unglaubwürdig ist. Dem Verweis der Regierung auf ihre „Legitimität durch die Urne“ vom 23. Oktober 2011 hält die Opposition entgegen, dass diese aufgrund des Wahldekrets, das als Zeitfenster für die Abfassung der Verfassung exakt ein Jahr vorsah, im Oktober 2012 ausgelaufen sei. Die juristische Legitimität habe die Regierung demnach allein dadurch bereits eingebüßt; die politische und moralische Legitimität habe sie durch falsches Handeln verloren. Die Opposition, die sich bereits in einer „Front der nationalen Rettung“ zusammengeschlossen hat, kündigte weitere Maßnahmen und Schritte an, die zur Erfüllung der Forderungen beitragen sollen. Nach den traditionellen Feiertagen zum Ende des Ramadan soll der Druck der Straße mobilisiert und erhöht werden. Die Hoffnung der Regierung, dass sich in der Zwischenzeit die Dinge wieder beruhigen würden, scheint sich daher nicht zu bestätigen. Die Sit-Ins am Bardo gingen auch über die Feiertage weiter, am 13. August 2013, diesem für Tunesien historischen Tag, ist eine weitere Großdemonstration insbesondere jenen gewidmet, die von Beginn an mit Argwohn dem „Projekt Ennahda“ gegenüberstanden: den Frauen. Am 13. August 1956 verkündete der damalige Herrscher von Tunesien, Moncef Bey, das nicht nur für die arabisch-muslimische Welt revolutionäre neue Personenstandsrecht, mit dem unter anderen die Gleichheit von Mann und Frau hergestellt und die Polygamie abgeschafft wurde. Urheber dieser bahnbrechenden Änderungen, die heute nicht wenige Frauen in Gefahr sehen, war der damalige Premierminister sowie spätere Staatsgründer und Präsident Habib Bourguiba.

Trotz der teilweise beeindruckenden Unterstützung, die die Opposition derzeit erfährt, muss jedoch auch sie sich der Gefahr bewusst sein, die diese kritischen Stunden und Tage, denen Tunesien entgegengeht, in sich bergen. Die Erfüllung der Maximalforderungen, Auflösung der Regierung und Bestellung einer Regierung der nationalen Rettung sowie Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung, scheint derzeit weder möglich noch mit Blick auf den Transitionsprozess ratsam. Die Gefahr, dass das Land weiter in eine Spirale der Gewalt abgleitet und ohne jegliche verfassungsrechtliche Institution dasteht, die annähernd Legitimität für sich in Anspruch nehmen kann, ist evident. Hinzu kommt ein weiteres Moment, das in derartigen Zeiten politischer Überhitzung schnell übersehen wird: Die Opposition nimmt zu Recht in Anspruch, die Regierung sowie die dominierende Ennahda zu kritisieren, jedoch wird eine allein daraus abgeleitete Anti-Kampagne und Negativ-Definition nicht ausreichen, um sich mittel- bis langfristig auch wirklich als politisch inhaltliche Alternative zu empfehlen. Opposition muss keine Regierungspolitik machen, aber gleichwohl mit konkreten Ideen aufzeigen, wie die Probleme gelöst werden können. Hier mangelt es noch an inhaltlicher und programmatischer Klarheit.

Moderation ist gefragt – die Rolle der Gewerkschaft

In politischen Konfliktsituationen, in denen sich Maximalforderungen der jeweils anderen Seite gegenseitig ausschließen, ist Moderation im Interesse aller gefragt. Traditionell hatte diese Rolle in Tunesien der größte Gewerkschaftsverband des Landes, die UGTT (Union Générale Tunisienne de Travail) aufgrund der Breite ihrer gesellschaftlichen und parteiübergreifenden Repräsentativität übernommen. Nach dem Attentat auf Choukri Belaid reagierte der Generalsekretär der UGTT, Houcine Abassi, besonnen und lancierte, nachdem der Versuch einer Technokraten-Regierung unter Jebali gescheitert war, den Nationalen Dialog der als Chance für alle politischen Kräfte galt, insbesondere auch für Ennahda und die Koalition, sich kompromissbereit zu zeigen. Doch spätestens seit dem 29. Juli 2013 ist die UGTT nicht mehr nur Moderator, sondern selber auch politischer Akteur im Spiel, da sie selber – nach Abstimmung mit Arbeitgeberverbänden wie der Zivilgesellschaft – den Rücktritt der Regierung sowie die Einsetzung einer Regierung zur nationalen Rettung forderte. Allein mit Blick auf die Verfassungsgebende Versammlung hat sich die Gewerkschaft weniger dezidiert geäußert, da deren Auflösung selbst in den Reihen der UGTT nicht auf uneingeschränkte Unterstützung stieß.

Die eindeutige und bislang nicht verhandelbare Positionierung der UGTT ist es daher auch, die den qualitativen Unterschied zu den vorausgegangenen Krisen markiert. Abassi und die UGTT, die selber bereits Zielscheibe von Attacken der „Ligen zum Schutz der Revolution“ waren, scheinen diesmal entschlossen zu sein, nicht mehr nur eine kleine Regierungsumbildung als Placebo zu akzeptieren. „Die nächsten Tage werden schwierig. Die Tunesier sind mehr als jemals zuvor in zwei Lager gespalten“, so der Gewerkschaftsführer. Daher hat die Gewerkschaft in Koordination mit den Arbeitgeberverbänden und der Zivilgesellschaft einen mehrere Punkte umfassenden Plan erarbeitet, der derzeit hinter den Kulissen diskutiert und verhandelt wird. Neben der Schaffung einer Regierung zur Nationalen Rettung, allein aus Experten bestehend, die sich verpflichten, selber nicht bei den nächsten Wahlen anzutreten, soll eine Expertenkommission aus Verfassungsrechtlern bestimmt werden, die die Arbeiten am Verfassungsentwurf vollenden und zugleich ein neues Wahlgesetz erarbeiten. Beide Baustellen sollen innerhalb von 15 Tagen ab Installierung der Kommission geschlossen sein. Die Verfassungsgebende Versammlung soll demnach nicht aufgelöst werden, allerdings wird ihr Mandat darauf beschränkt, über die Verfassung und das neue Wahlgesetz abzustimmen. Neben einem neuen Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus plädiert die Gewerkschaft auch für die umgehende Auflösung der „Ligen zum Schutz der Revolution“ sowie die Verfolgung der Straftäter, die zu Gewalt aufgerufen und beigetragen haben. Die Entschlossenheit der Opposition sowie der Gewerkschaft und ihrer Verbündeten in Rechnung stellend, lesen sich diese Vorschläge als ein gangbarer Weg heraus aus der Krise. Nun ist es an der derzeit regierenden Troika, die aufgrund der Maßnahmen Ben Jaafars und seiner Partei Ettakatol sich demnächst wohl eher zu einem Duo wandeln dürfte, auf die Forderungen zu reagieren und sich kompromissbereit zu zeigen. Für Ennahda ist es ein doppeltes Dilemma: Lenkt sie nun ein, zeigt sie in den Augen ihrer Anhänger Schwäche; beharrt sie auf der Legitimität ihrer Regierung, riskiert sie, das Land weiter zu spalten. Die Partei kann derzeit kaum schadlos aus dieser Situation herauskommen. Letzte Umfragen, nach denen Ennahda allein innerhalb eines Monats von 19,7 Prozent auf 13 Prozent der Stimmen abgestürzt ist, komplettieren dieses Bild.

Derweil laufen die nationalen und internationalen Dialogbemühungen auf Hochtouren. Nach den blutigen Ereignissen in Ägypten und in Libyen will insbesondere die internationale Gemeinschaft nichts unversucht lassen, ähnliche Szenarien für Tunesien zu vermeiden. Das ägyptische Szenario, das den Blick in den Abgrund eines Bürgerkrieges eröffnet, wollen alle politischen Akteure im Land des Jasmins vermeiden. Die Konfrontation ohne Rücksicht auf Verluste gilt es daher zu vermeiden, wobei sich Regierung und Opposition gleichermaßen bewusst sind, dass das „kleine“ Tunesien ägyptische Verhältnisse kaum verkraften könnte. Ohne Kompromisse wird es jedoch keinen Ausweg aus der Krise geben.

Tunesien hat international immer noch eine Vorbildfunktion. Frankreichs Staatspräsident Hollande hatte im Rahmen seines Tunesien-Besuches Anfang Juli die Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung daran erinnert. „Tunesien hat den Weg für die Demokratie in der arabischen Welt geebnet“, erklärte er.

Wenn dieser Tage Bundesaußenminister Guido Westerwelle nach Tunis reist, um zwischen den Seiten zu vermitteln, wird er sicherlich auch daran erinnern. Sollte der politische Transitionsprozess in Tunesein scheitern, dürften die Aussichten für die Region insgesamt nicht besser werden.

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Dr. Holger Dix

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Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Subsahara-Afrika, Interimsleiter des Auslandsbüros Südafrika

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