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Am 6. September brach auf 60 Meter Breite ein gewaltiger Felsbrocken von einer Steilwand in Kairo und begrub 35 Häuser des Armenviertels Duweiqa unter sich. Über hundert Tote wurden in den folgenden Tagen geborgen. Anwohner vermuten noch eine Vielzahl von Leichen unter den Trümmern. Es war eine der größten Katastrophen der vergangenen Jahre in Ägypten. In den Schmerz über verlorene Freunde und Angehörige mischte sich bei den Bewohnern von
Duweiqa rasch Zorn auf Behörden und Regierung. Experten hatten lange vor einem Felsrutsch gewarnt und eine Umsiedlung der Slumbewohner ober- und unterhalb des Felsplateaus in soziale Wohnungsbauprojekte gefordert. Entsprechende Pläne scheiterten - wie oft in Ägypten - an Korruption und Missmanagement. Die katastrophale Lage
auf dem ägyptischen Wohnungsmarkt und ihre gesellschaftlichen und politischen Folgen prägen seither die öffentliche Debatte im Land am Nil.
Ägypten ist fast dreimal so groß wie Deutschland. Die knapp 75 Millionen Ägypter leben aber auf nur 6 Prozent der Landesfläche. Hohe Bevölkerungsdichte und Wohnungsmangel sind daher ein altes Problem. Das gilt insbesondere für den Großraum Kairo. Zwischen 15 und 20 Millionen Menschen leben in der dicht besiedeltsten Metropole Afrikas. Im Jahre 2020 sollen es 28 Millionen sein. Kaum ein Thema beschäftigt die Ägypter so sehr wie die Wohnungsnot. Der Traum von der möblierten Wohnung ist sprichwörtlich, Lebensentwürfe stehen und fallen mit der Wohnung, ganze Fernsehserien beschäftigen sich mit dem Thema. Dabei hat sich in Ägypten in den vergangenen Jahren viel getan. Die Baubranche gehört zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen des Landes, überall im Wüstensand um Kairo entstehen neue Wohnanlagen und ganze Städte, die Zahl der Wohnungen wächst deutlich stärker als die der Einwohner. Wie kommt es also, dass trotz des Baubooms die Wohnungsnot grassiert? Vor allem die Politik, aber auch privates Spekulantentum, sind für Versäumnisse und Fehlentwicklungen verantwortlich.
Wohnungsnot trotz Bauboom
Die Lage auf dem ägyptischen Wohnungsmarkt ist in vielerlei Hinsicht paradox. Selbst offizielle Statistiken gehen von 12 bis 15 Millionen Ägyptern ohne angemessene Wohnung aus, hinzu kommen die zwei Millionen Menschen, die auf Friedhöfen leben. Auf der anderen Seite ist der Leerstand offenkundig. Überall in den Wüsten um Kairo stehen fertige Wohnblocks – oft ohne Bewohner. Einer der Gründe für diese Schieflage liegt im politischen Erbe der Nasser-Zeit.
Die Mietpreise für Altbauten sind seit der Zeit des ,,Arabischen Sozialismus" auf dem Niveau der fünfziger Jahre eingefroren. Reparaturen oder Wartungen lohnen sich für die Besitzer nicht, der Verfall der reichen Kairoer Altbausubstanz ist die Folge. Gleichzeitig leiden Vermieter unter einem absoluten, gesetzlich verankerten Kündigungsschutz des Mieters. Eine Eigennutzung der Wohnung durch den Eigentümer ist dadurch oft nicht möglich. Auch eine Vermietung neuer Wohnungen ist aufgrund gesetzlich
festgelegter Mietpreise und horrender Preissteigerungen für Bauland und Baumaterial unrentabel. Ein Mietmarkt für bezahlbare Neubauwohnungen ist daher ebenfalls kaum
vorhanden.
Als Folge bleibt in der Regel nur der Kauf. Die rasanten Preissteigerungen und der Immobilienboom sorgen allerdings dafür, dass Wohnungen in vielen Fällen als Geldanlage
und Spekulationsobjekt angekauft werden und dann oft jahrelang leer stehen. Für die ägyptische Mittel- und Oberschicht geht die Rechnung auf. Allein zwischen
2003 und 2008 verdreifachten sich die Preise für Stahl, Zement und andere Baumaterialien. Parallel kam es zu massiven Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel, Energie
und Kleidung. Wer also vor einigen Jahren die Mittel für den Kauf neuer Wohnungen aufbringen konnte, hat heute ein gutes Geschäft gemacht - vorausgesetzt die Wohnungen
sind leer und unvermietet. Schon 1995 sollen aus diesem Grund allein in Großkairo mehr als 1,8 Millionen Wohnungen
leer gestanden sein. Heute werden es deutlich mehr sein.
Aber Leerstand ist nicht das einzige Problem. Auch Zuschnitt und Ausstattung von Neubauwohnungen gehen oft am tatsächlichen Bedarf vorbei. Gebaut werden vor allem
Wohnungen für gehobene Ansprüche und Luxusdomizile. Staatlich finanzierte Sozialwohnungen sind die Ausnahme und
werden in der Regel unter der Hand an Regierungsangestellte
vergeben. Auch soziale Wohnungsbauprojekte privater ägyptischer Großunternehmer werden durch Betrügereien von der Mittel- und Oberschicht zweckentfremdet. Durch den Aufkauf über „arme“ Mittelsmänner, die eine üppige Provision
kassieren, ist auch der Erwerb von Sozialwohnungen ein gutes Geschäft.
Die ägyptische Regierung hat den Zusammenhang von Leerstand, Spekulation und Wohnungsnot zwar erkannt, stößt bei Reformen des Bau-, Miet- und Wohnungsrechts aber auf Interessenkonflikte und Korruption. Viele Bauunternehmer und Wohnungsspekulanten verfügen über allerbeste
politische Kontakte oder sind selbst Parlamentarier oder Funktionäre. Besonders augenfällig ist dies in der Stahlbranche. 75 Prozent der Stahlproduktion Ägyptens liegt
in der Hand eines hochrangigen Funktionärs
der Regierungspartei.
Unerfüllte Träume
Rasante Wertzuwächse, Prestigeobjekte mit Kitschnamen wie „Beverly Hills“ und „Royal Hights“, die Vision von „Dubai am Roten Meer“ und der Bau von Golfplätzen im
Wüstensand beflügeln die Phantasien wohlhabender Investoren aus Ägypten und den Golfstaaten. Für die Bedürfnisse des Durchschnittsägypters bleibt da wenig Raum. Dies hat Folgen für eine ganze Generation.
Die eigene Wohnung ist in Ägypten traditionell zwingende Voraussetzung für Heiratsantrag und Eheschließung. Ohne den Nachweis einer familientauglichen Wohnung wird kein ägyptischer Vater in die Verheiratung seiner Tochter einwilligen. Dabei reicht eine einfache Unterkunft für zwei Personen „für den Anfang“ nicht aus. Das Konzept sukzessiver
und flexibler Familienentwicklung wird in Ägypten gesellschaftlich abgelehnt. Selbst die Wohnung noch kinderloser Frischverheirateter muss – je nach sozialer Stellung – groß und repräsentativ sein. Dementsprechend
gering ist das Angebot an kleineren und bezahlbaren 2-Zimmer-Wohnungen für junge Kleinfamilien. Dies bedeutet für einen jungen ägyptischen Durchschnittsverdiener, dass er bis zum Heiratsantrag oft 10 bis 15 Jahre sparen und warten muss.
Die Folgen sind dramatisch und werden sich in absehbarer Zeit noch verstärken. Das Durchschnittsalter für Eheschließungen steigt rapide an und liegt mittlerweile nicht selten bei Mitte dreißig. Mindestens 9 Millionen
unverheiratete junge Ägypter mit dringendem Heiratswunsch soll es geben. Abhängigkeit von den Eltern, die Vorenthaltung gesellschaftlicher Anerkennung und sexuelle Frustration sind die Folge. Gerade letzteres wird in Ägypten, einer Gesellschaft in der sexuelle Erfahrungen nur innerhalb der Ehe akzeptiert sind, zunehmend zum Problem. Mehr als 20.000 registrierte (!) Vergewaltigungsfälle soll es jährlich geben. Sexuelle Belästigung gehört, trotz Kopftuch und züchtiger Bekleidung, zum Alltag ägyptischer
Frauen. Berichte über sog. „Massenbelästigungen“ junger Frauen durch Hunderte von Jugendlichen auf offener Straße
häufen sich.
Da sich viele Heiratswillige nicht anders zu helfen wissen, greifen sie zu semi-legalen Alternativen, wie etwa der sog. Urfi-Ehe. Hierbei handelt es sich um eine aus islamischer
Sicht legitimierte, staatlich aber nicht anerkannte Form der Eheschließung. Schätzungen gehen von etwa 400.000 solcher Urfi-Eheschließungen pro Jahr aus, darunter
viele Schüler und Studenten. Voraussetzung ist lediglich das Einverständnis beider Partner und ein schriftlicher Vertrag. Auf einen Zeugen wird oft verzichtet. Urfi-Ehen sind zwar formell nach islamischem Recht zulässig, bergen gerade für Frauen und Kinder aber eine Vielzahl von Risiken. Die Anerkennung von Vaterschaften und die Zahlung
von Unterhalt sind bei Urfi–Ehen nicht oder nur sehr schwer einklagbar. Kinder aus derartigen Urfi-Ehen werden oft als „unehelich“ behandelt und sind dann Opfer erheblicher
rechtlicher Diskriminierungen.
Aber auch in anderer Hinsicht hat die Wohnungsnot dramatische Auswirkungen. Illegale Besiedlungen und Slums wachsen in und um Kairo stetig an. Die soziale „Verwahrlosung“ vieler unverheirateter und arbeitsloser Jugendlicher wird zunehmend zu einem Problem. In Ägypten bislang eher seltene Kleinkriminalität wie Wohnungseinbrüche und Taschendiebstähle nehmen spürbar zu. Extremes politisches Gedankengut hat Zulauf und der Wunsch nach illegaler Auswanderung steigt.
Wege aus der Wohnungskrise
Die ägyptische Wohnungskrise lässt sich nur durch eine Kombination politischer Maßnahmen und gesellschaftlicher Veränderungen lösen. Erster Schritt wäre eine Liberalisierung des Mietrechts. Fachleute raten zu einer Streichung der staatlichen Festsetzung der Mietpreise und zu einer Reduzierung des bislang lebenslangen Kündigungsschutzes auf fünf Jahre. Erst diese Schritte würden Verkauf oder Eigennutzung durch den Besitzer
ermöglichen. Ferner drängen Fachleute zu gesetzlichen Regelungen, die auch bei bestehenden Verträgen die Möglichkeit einer moderaten Mieterhöhung einräumt (in Abhängigkeit vom Gebäudealter maximal 25 Prozent). Außerdem sollten für die Kosten von Renovierungen bzw. Wartungen der
Wohnungen der Mieter und nicht mehr der Vermieter verantwortlich sein.
Derartige Maßnahmen würden zwar den Mietmarkt für höherpreisige Wohnungen flexibilisieren, aber kaum mehr Wohnraum für Geringverdienende schaffen. Um das Angebot günstigen Wohnraums zu erhöhen, müssten flankieren soziale Wohnungsbauprojekte vorangetrieben und besser vor
Korruption und Vetternwirtschaft geschützt werden. Zusätzlich müssten finanzielle Anreize zur Schaffung günstigen Wohnraumes für private Investoren geschaffen werden. Ein neues Immobiliengesetz, das Anfang 2008 vom ägyptischen Parlament verabschiedet wurde, liefert hier erste Ansätze, geht aber nicht weit genug. Nach dem neuen
Gesetz werden alle Eigentumswohnungen der gehobenen und luxuriösen Kategorie besteuert. Ob hierdurch der Bau von
Subventionswohnungen der mittleren und niedrigen Kategorie gefördert wird, ist noch nicht absehbar. Ferner muss noch ein funktionierendes Immobilien-Kreditwesen aufgebaut werden. Hiernach sucht man in Ägypten bislang vergeblich. Neue Wohnungen werden üblicherweise noch vor Baubeginn
bar bezahlt und Kredite gibt es – wenn überhaupt – nur zu horrenden Zinssätzen und in geringer Höhe.
Schließlich könnte auch ein gesellschaftliches Umdenken die Lage auf dem ägyptischen Wohnungsmarkt entspannen. Die
Akzeptanz kleinerer Wohnungen und des Konzepts sukzessiver Familienentwicklung könnten die Flexibilität des ägyptischen
Wohnungsmarktes spürbar verbessern und vielen jungen Ägyptern eine frühere Heirat ermöglichen. Den Opfern der Katastrophe von Duweiqa werden diese Vorschläge nicht mehr helfen. Die Mediendebatte, die nach dem Felssturz aufkam, hat allerdings dazu beigetragen, dass über den Zusammenhang von Immobilienspekulation und Wohnungsnot in Ägypten in einem bislang nicht bekannten Ausmaß öffentlich debattiert wird. In Talkshows und Zeitungsartikel wird plötzlich nicht nur verfehlte Regierungspolitik sondern auch privates Spekulantentum thematisiert und ein Zusammenhang zwischen Bauboom und Wohnungsnot hergestellt. Es bleibt abzuwarten,
ob dies genügend Handlungsdruck für politische und gesellschaftliche Veränderungen erzeugt.
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