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Auslandsinformationen

Langsam, aber gewaltig

von Mark Siemons
Jetzt macht China auch noch in Batterien: Das Land hat einen Plan für Europa und die Welt. Aber Europa hat keinen Plan für China. Die neue Macht liegt weit außerhalb seines Horizonts.

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Ein Mann in einem altem chinesischen Kostüm sitzt auf einem elektrischen Fahrrad.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.06.2018, S. 9


Die Bandenwerbung bei der Fußball-WM 2018 in Russland zeugt nicht nur vom gegenwärtigen Stand der Globalisierung, sie lässt auch erkennen, wie man ihn sich in Europa zurechtlegt. Neben Marken wie Visa oder Coca-Cola – westlichen, also vertrauten Marken – erscheinen da plötzlich chinesische Schriftzeichen, zusammen mit deren lateinischen Umschriften „Wanda“, „Vivo“, „Mengniu“, „Hisense“. Es sind die Markennamen von vier Konzernen aus der Volksrepublik, die zu den Sponsoren dieser Weltmeisterschaft gehören. Legt man marktwirtschaftliche Kriterien an, dann ist das nicht weiter ungewöhnlich: Dreihundert Millionen Chinesen verfolgen die WM im Fernsehen (laut Zahlen von 2014), da ist die Werbeinvestition nicht schlecht angelegt, ganz abgesehen davon, dass wenigstens der Smartphonehersteller Vivo auch den Eintritt in westliche Märkte vorbereitet.

Doch wenn man nach vielen Kommentaren im Netz und manchen Texten in deutschen Medien geht, handelt es sich um einen geradezu unglaublichen Vorgang: Chinesische Schriftzeichen vor einem Weltpublikum – was soll das denn? Ein Artikel mutmaßt: „Dahinter steckt ein Großmacht-Konzept“ (gemeint ist der Wunsch, die WM nach China zu holen oder gar selbst einmal Weltmeister zu werden), ein anderer raunt: „Das sagt viel über die Fifa aus“ (zu ergänzen ist: wenn sie jetzt schon so abseitigen Ländern mit deren absurden Markennamen ihre Werbeflächen zur Verfügung stellt).

Das Erstaunen ist in seiner Widersprüchlichkeit symptomatisch. Jeder weiß, dass China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Die Zeitungen sind voll von Lageeinschätzungen, dass die bisherige Weltordnung nicht nur wegen der Präsidentschaft Trumps, sondern vor allem wegen des Ausgreifens Chinas an ein Ende kommt. Das alles weiß man – und zugleich glaubt man es offenkundig nicht. Man glaubt, dass die westliche Welt weiterhin alle relevanten Zeichen zur Verfügung stellen wird, man ist verblüfft, wenn sich mal ein fremdes Zeichen darunter mischt, und hält es für völlig unnötig, etwas, das so sehr außerhalb der eigenen Grenzen liegt, in den eigenen Horizont einzubauen. Es ist, als sähe man sich selbst bloß als Zuschauer jenes Epochenwechsels, von dem man andauernd spricht.

In der Vergangenheit sorgten vor allem drei Annahmen dafür, dass man es in Deutschland und Europa für entbehrlich hielt, sich näher mit China zu beschäftigen. Erstens: Die Chinesen werden sowieso wie wir, also liberal und demokratisch und eingefügt in das vom Westen dominierte Weltsystem, je länger sie im globalen Kapitalismus Erfolg haben und mit uns Geschäfte machen. Zweitens: Sollten sie nicht so werden wie wir, werden sie langfristig auch keinen Erfolg mehr haben, ihr Aufstieg würde durch den Mangel an Kreativität und Rechtsstaatlichkeit sowie die eigenen Selbstwidersprüche gestoppt werden. Drittens: Sollte all das wider Erwarten anders kommen, gäbe es immer noch Amerika, das sich um die großen geopolitischen Auseinandersetzungen kümmert.

Mittlerweile ist offensichtlich, dass alle drei Annahmen in sich zusammengestürzt sind: China ist ferner denn je davon, sich zu liberalisieren; sein fast ungebrochenes ökonomisches Wachstum übersetzt sich in globale Projekte, die mit großer Geschwindigkeit nicht nur nach Afrika und Lateinamerika, sondern auch nach Europa ausgreifen. Amerika fällt unter Trump als verlässliche Schutzmacht dessen, was man früher „Westen“ nannte, zusehends aus. Doch all diese Einsichten haben es nicht vermocht, dem, was sich in der Ferne tut, einen Platz im eigenen Bewusstsein zu verschaffen.

Fatalerweise ist diese Wirklichkeitsverleugnung auch gefährlich. Die bisherigen Aktionspläne sind bei all ihrer pragmatischen Vernünftigkeit vor allem Defensivmaßnahmen, deren Kurzfristigkeit nicht zu übersehen ist. Ihr Horizont reicht nicht über die Hoffnung hinaus, es möge am besten alles so bleiben, wie es ist. Die Politik mahnt, dass die europäischen Staaten mit einer Stimme sprechen und sich nicht durch bilaterale Abkommen auseinanderdividieren lassen sollen. Wirtschaftsführer pochen auf das Prinzip der Reziprozität am Markt und fordern mehr Schutz vor chinesischen Übernahmen. Und die Think-Tanks empfehlen, sich für eine Zeit zu rüsten, in der China das Verlangen nach Gegenseitigkeit rundherum zurückweist; Europa müsse die Stellen identifizieren, an denen es besonders verletzlich sei, zum Beispiel Vorkehrungen für den Fall treffen, dass China versuchte, europäische Zeitungen oder Hochschulen zu kaufen.

Alles nicht verkehrt, doch um sich auf die Langfristigkeit der chinesischen Pläne einzustellen, bedürfte es einer europäischen Öffentlichkeit, die nicht weniger langfristig und global denkt. Das Besondere an dem jetzigen Umbruch ist ja, dass da ein Hegemon an seine Grenzen zu stoßen scheint, der mit seiner Kultur und seinen Ideen nicht nur seine unmittelbare Herrschaftssphäre, sondern die ganze Welt durchdrungen und geprägt hat. Die Frage ist daher nicht zuletzt: Was wird aus dem von Europa geprägten Universalismus, wenn der Westen an Macht und Einfluss verliert? Wie lässt sich der Universalismus auch in der neuen Konstellation behaupten? Statt sich diesen Fragen zu stellen, hält man sich das fremde Phänomen oft auch dadurch vom Leibe, dass man es allein durch Etiketten wie Kommunismus oder Nationalismus zu erklären versucht: Da man ja weiß, dass beide Größen von der Geschichte in Großbuchstaben schon überwunden sind, kann man sich in Europa auf der historisch sicheren Seite fühlen und sieht keinen Bedarf, sich näher darauf einzulassen.

In Wirklichkeit stoßen aber nicht nur Systeme aufeinander (Autoritarismus versus Demokratie), sondern Gesellschaften, deren kollektives Bewusstsein aus noch vielen anderen Elementen zusammengesetzt ist. Um sich in ein realistisches und zugleich rationales Verhältnis dazu zu bringen, müsste man auch die fremde Kultur und Geschichte an sich heranlassen. Aber ginge man damit nicht der Propaganda der Kommunistischen Partei auf den Leim, die seit Jahren die chinesische Kultur als Soft Power des Staats einzusetzen versucht? Das Gegenteil ist der Fall. Man darf, wie der australische China-Forscher Geremie Barmé zur Begründung der von ihm eingeführten „Neuen Sinologie“ betont, der Pekinger Zentralregierung nicht das Deutungsmonopol für das überlassen, was chinesische Kultur ist: Um zwischen Partei und Gesellschaft unterscheiden zu können, sei es unerlässlich, die ursprünglichen Begriffe und Vorstellungen zu kennen, die die Regierung instrumentalisiert.

Wie soll man sonst zum Beispiel die Formel „Großes Wiederaufblühen der chinesischen Nation“ verstehen können, in die China sein gigantisches Infrastrukturprojekt der neuen Seidenstraßen und den ehrgeizigen Industrieplan „Made in China 2025“ einbettet? Bei Chinesen schwingen bei der von der Regierung ausgegebenen Parole Bedeutungen mit, die auch bei Leuten, die nichts mit der KP zu tun haben wollen, Resonanz erzeugen und eine ganz andere Geschichtsvorstellung aufrufen. Die alte Vorstellung von „Allem unter dem Himmel“ (Tianxia) etwa: ursprünglich eine kosmologische Idee, die aber spätestens seit der Reichseinigung im dritten Jahrhundert vor Christus auch als Formel für die staatliche Hülle jenes Teils der Menschheit fungierte, der sich aufgrund seiner Zivilisiertheit dieses Kosmos und seiner dialektischen Struktur bewusst ist – China. Die Zugehörigkeit zu diesem Gebilde war also im Kern kulturell definiert, durch Anteil an einem Kodex von Texten über das Leben, die Erziehung, die Dialektik, die Geschichte. Und das eigene Selbstverständnis stand von Anfang an in der Spannung zwischen auch militärisch robuster Staatlichkeit und einer potentiellen Universalität, insofern die ganze Welt, in welchen Abstufungen auch immer, am kulturellen Wissen des Zentrums Anteil haben kann.

Auch unabhängig von der gegenwärtigen kommunistischen Führung vollzieht sich die chinesische Art von Globalisierung also in einem Erwartungshorizont, der sich von dem der westlichen Staaten deutlich unterscheidet. Wenn man universelle, zuerst in Europa geprägte Prinzipien – konkret: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit – auch in der Zukunft sichern will, muss man diesen Horizont ernst nehmen; erst so kann man ausloten, inwieweit er sich mit dem europäischen Horizont vereinbaren lässt. An aktuellen Informationen mangelt es nicht, die fortlaufende Berichterstattung über China ist ebenso vielfältig wie differenziert. Aber es fehlt an der Bereitschaft, diesen Informationen Bedeutung für sich selbst beizumessen, an einem verbindenden Band, das sie zu einer Vorstellung von der historischen Dynamik, die da im Gange ist, zusammensetzt.

Eine Studie über mangelnde „China-Kompetenz“, die das Bildungsministerium, das Auswärtige Amt und das von ihnen beauftragte Forschungsinstitut Merics kürzlich herausgaben, stellte ein eklatantes Missverhältnis fest: Chinesische Intellektuelle wissen ungleich mehr über Europa und seine Kultur als europäische Intellektuelle über China. Man kann sagen, das bilde das bisherige Macht- und Abhängigkeitsgefälle ab. Dann wäre es jetzt höchste Zeit, das Missverhältnis auszugleichen.

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''Mark Siemons'' ist Feuilletonkorrespondent der F.A.Z. in Berlin.

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