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Witold Hussakowski. Sammlung des Lettischen Nationalmuseums.

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Januar 1991

от Dainis Īvāns

Barrikaden in Lettland

Auf die Ausrufung der Unabhängigkeit der Lettischen Republik de jure durch den von den lettischen politischen Parteien gegründeten Volksrat am 18. November 1918 folgte ein zwei Jahre währender Krieg um die tatsächliche Unabhängigkeit des Staates, der mit Waffengewalt geführt wurde und Opfer forderte. Nach der Erklärung der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Lettischen Republik de jure am 4. Mai 1990 durch den ersten frei gewählten Obersten Rat der Lettischen SSR folgte ein parlamentarischer und gewaltloser Kampf um die staatliche Unabhängigkeit de facto. Mit bloßen Händen und schierer Willenskraft. Auch er forderte Opfer. Doch der entscheidende Kampf des lettischen Volkes für die Freiheit fand im Januar 1991 statt.

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Die Vorgeschichte der Ereignisse des Januars 1991 in Lettland geht in gewisser Weise auf den 23. August 1939 zurück, als Moskau den Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnete, jedenfalls jedoch auf den 23. August 1989, als sich am 50. Jahrestag dieses Pakts zwei Millionen Einwohner Lettlands, Litauens und Estlands die Hände reichten, um eine 640 km lange Menschenkette zu bilden – den Baltischen Weg.

Obschon Moskau bis dahin das geheime Abkommen zwischen Hitler und Stalin über ihre jeweiligen Interessensphären geleugnet und behauptet hatte, die baltischen Länder seien der Sowjetunion aus freien Stücken beigetreten, ließ sich nun die Wahrheit nicht länger verbergen. Auf Betreiben der Abgeordneten der estnischen Volksfront, der litauischen Sajūdis und der lettischen Volksfront richtete der Kongress der Volksdeputierten der Sowjetunion auf seiner ersten Sitzung im Frühling 1989 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Hitler-Stalin-Pakt ein. Der Wunsch, den Bericht dieses Ausschusses so schnell wie möglich auf die Tagesordnung des Kongresses zu setzen, war neben dem übergeordneten Ziel, dass der Kreml selbst den Pakt rückwirkend für rechtswidrig und ungültig erklären würde, auch der Hauptgrund für alle drei Unabhängigkeitsbewegungen, den Baltischen Weg zu organisieren. Zur gleichen Zeit wandte sich der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Volksfront, Mavriks Vulfsons, der befürchtete, Bundeskanzler Helmut Kohl könnte bei seinen Gesprächen mit dem Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow die Wiedervereinigung Deutschlands gegen die Unabhängigkeit der baltischen Länder „eintauschen“, an die Regierung in Bonn mit dem Appell, den Pakt unilateral für ungültig zu erklären. Vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland erhielt er die Antwort, es sei nicht notwendig, eine de facto und de iure rechtswidrige Vereinbarung durch einen gesonderten Beschluss zu widerrufen. Ein lettisches Kamerateam erhielt jedoch zum ersten Mal die Möglichkeit, Dokumente zum Molotow-Ribbentrop-Pakt aus dem Bundestagsarchiv zu filmen sowie die letzten in Deutschland lebenden Zeugen der Unterzeichnung des Pakts zu interviewen. Der Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow dagegen reagierte auf die von den Teilnehmern am Baltischen Weg erhobenen Forderungen nach mehr Souveränität mit scharfen Worten: „Ihr geht nirgendwo hin!“

Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde bekannt, dass er sich damals mit den geheimen Zusatzprotokollen, deren Verwahrung im Kremlarchiv weiterhin geleugnet wurde, vertraut gemacht hatte.

Offenbar spürte der erste und letzte Präsident der UdSSR wohl, dass die lange verborgene Wahrheit über die gewaltsame Eingliederung Lettlands, Litauens, Estlands und Bessarabiens in das kommunistische Imperium Prozesse in Gang setzen würde, die vom Kreml nicht zu kontrollieren waren. Nach dem Baltischen Weg wurde Gorbatschow in Bezug auf die nationalen Bestrebungen in den baltischen Ländern kategorischer und setzte eher auf Konfrontation als zuvor. Den Memoiren seines Beraters Anatolij Tschernjajews zufolge überzeugte gerade der Baltische Weg die Führung im Kreml, dass ein Verbleib der baltischen Völker in der UdSSR nur mit Hilfe von Panzern sichergestellt werden könnte. Womöglich begannen damals auch der KGB und der GRU mit der Ausarbeitung von Szenarien zur Rettung des Imperiums. Den direkten oder indirekten Befehl dazu gab das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wahrscheinlich mit seiner am 28. August in der sowjetischen Presse veröffentlichten Erklärung, die offen drohte, der „nationalen Hysterie“ der Balten mit Gewalt Einhalt zu gebieten.

Tatsächlich riefen diese Drohungen in Lettland, Litauen und Estland nur Verachtung und Enttäuschung hervor, sowie eine noch größere Entschlossenheit, die Sowjetunion zu verlassen.

Wenige Monate später fiel die Berliner Mauer. In der Tschechoslowakei wurde das von Vaclav Havel geführte antikommunistische Bürgerforum immer stärker. Im Januar 1990 bildeten die Ukrainer eine vom Baltischen Weg inspirierte Menschenkette von Lwiw bis Kiew. Ein Dominoeffekt setzte ein, der den Totalitarismus in Osteuropa mit sich riss. Am 24. Dezember 1989 bestätigte der Kongress der Volksdeputierten der UdSSR nach den denkwürdigen Reden des lettischen Abgeordneten Mavriks Vulfsons und des Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses zum Molotow-Ribbentrop-Pakt Aleksandr Jakowljew den Bericht des Ausschusses über die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls und erklärte es ab dem Zeitpunkt seiner Unterzeichnung für unwirksam. Der Kreml hatte nun kein einziges Argument mehr, um die Unabhängigkeitserklärung der Litauischen Republik vom 13. März 1990, den Beschluss über den „nationalen Status Estlands“ vom 30. März 1990 sowie die Erklärung über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Lettischen Republik vom 4. Mai 1990 anzufechten. Der Forderung Michail Gorbatschows, „auf den Boden der Verfassung zurückzukehren“ und die Unabhängigkeitsakte auf Eis zu legen, konnten wir nun die Anerkennung durch den Gesetzgeber der UdSSR entgegenhalten, dass die baltischen Staaten aufgrund eines illegalen Abkommens und somit rechtswidrig in die Sowjetunion eigegliedert worden waren.

Im Baltikum begann eine beispiellose Zeitspanne, in der zwei Mächte um die Vorherrschaft kämpften. Die demokratisch gewählte, mit ihrem Obersten Rat, einer Regierung, Gerichten und Gemeinden begann, die unabhängigen staatlichen Institutionen wiederherzustellen und – obwohl sie international nicht anerkannt war – eine eigenständige Wirtschafts- und Außenpolitik zu betreiben. Die zweite versuchte mit Hilfe einer wirtschaftlichen Blockade durch den Kreml, verschiedener kommunistischer Parteien, des KGB und Strukturen der sowjetischen Armee, von 150 000 Soldaten und dem Militärstab des Baltikums in Riga die Demokratisierungsprozesse und die weitere Festigung der Unabhängigkeit aufzuhalten.

Am 15. Mai 1990 inszenierten in Riga mehrere hundert Kadetten in Zivil der aufgelösten sowjetischen Militärschule zusammen mit „Verteidigern der Offiziersrechte“ einen „Volksaufstand“ und versuchten, gewaltsam das Gebäude des lettischen Parlaments einzunehmen. Zur gleichen Zeit griffen auch in Tallinn die Gegner der baltischen Freiheit das Schloss Toompea an und drangen ins Parlament ein. Der Druck wuchs im Sommer 1990 mit jedem Monat.

Dem sowjetischen Innenministerium unterstellte Spezialeinheiten, die OMON in Riga, griffen die neu eingerichteten lettischen und litauischen Zoll- und Grenzposten an. In der Nähe von Gebäuden und Denkmälern detonierten Sprengsätze. Die lettischen Kommunisten und Gegner der Volksfront, die „Internationale Arbeiterfront der Lettischen SSR“, gründeten mit Unterstützung des KGB „Streikkomitees“ und das „All-lettische Rettungskomitee“, um die Macht zu übernehmen. Einige Gemeinden, die von prokommunistischen Politikern geführt wurden, erklärten, die Gesetze der Republik Lettland nicht anzuwenden und ihren „Verbleib in der UdSSR“.

Glücklicherweise fanden die Aktivitäten und die Propaganda des Kremls unter den lettischen Einwohnern sehr wenige Anhänger. Ende des Jahres 1990 war Lettland die erste abfallende Sowjetrepublik, die ihre Steuerzahlungen nach Moskau einstellte, und auf die sowjetischen militärischen Drohungen mit der Warnung reagierte, die in Lettland stationierten Einheiten der russischen Armee gegebenenfalls von der Versorgung mit Lebensmitteln, Strom und Wasser abzuschneiden. Der Oberste Rat verabschiedete ein Gesetz, das jungen Männern das Recht einräumte, den Dienst in der sowjetischen Armee zu verweigern. Die geplante Mobilmachung der sowjetischen Streitkräfte in Lettland misslang sowohl im Frühling als auch im Herbst 1990. Damit war der Kreml mit seiner Geduld am Ende. Junge Wehrpflichtige konnten nun aufgrund der Verweigerung des Wehrdiensts nicht mehr wie früher verurteilt und zwangseingezogen werden. Die lettischen Gerichte sprachen lettisches, nicht sowjetisches Recht. Im Übrigen stellt dies einen wesentlichen Unterschied zwischen unserem gewaltlosen Ringen um Demokratie und Freiheit und dem Kampf dar, der zurzeit vom weißrussischen Volk gegen das Lukaschenko-Regime geführt wird. Schon seit dem Baltischen Weg stand die Mehrheit der Beamten, Richter und Leiter von Militär-, Fabrik- und Agrarunternehmen in der Lettischen SSR auf der Seite der neuen Machtstrukturen, die von der Volksfront errichtet wurden. Die von außen unerschütterliche kommunistische Diktatur wurde im Inneren von ihren „Verrätern“ demontiert. Zum Symbol dafür wurde das Geschenk der Stadt Berlin und Rainer Hildebrandts, des Gründers des Checkpoint Charlie-Museums, das am 3. Oktober 1990 nach Riga gebracht wurde – ein Stück der Berliner Mauer.    

Ausgestellt unweit des lettischen Freiheitsdenkmals, stand das Exponat direkt im Epizentrum der paradoxen Ereignisse dieser angespannten Zeit. Denn dort fand sowohl die letzte sowjetische Militärparade zu Ehren der bolschewistischen Revolution am 7. November statt, ein Jahrestag, den die Letten nun nicht mehr feierten, als auch das bisher verbotene feierliche Gedenken an den 18. November, den Tag der Ausrufung der Lettischen Republik. Auch das erste Weihnachtsfest, das nach einem halben Jahrhundert Unterbrechung in Lettland wieder gefeiert werden durfte, fand dort statt.

Weihnachtliche Ruhe jedoch kehrte damals nicht ein. Der Präsident der UdSSR machte in seinen Gesprächen mit der neu gewählten lettischen Führung keinen Hehl daraus, dass die Kommunisten, die Streitkräfte und die sogenannte Interfront ihn beharrlich zur „Wiederherstellung der Sowjetmacht“ aufforderten. Gorbatschow bot an, einen neuen Unionsvertrag zu unterzeichnen. Wir weigerten uns, dieses Angebot zu erörtern und verwiesen darauf, dass wir niemals einen „alten“ Vertrag unterschrieben hatten. Aus dem Kreml sickerte durch, dass sich in den baltischen Staaten bald „das Volk erheben“ werde, was dazu führen werde, dass diese Staaten direkt der Verwaltung des Präsidenten unterstellt würden. Der günstige Augenblick dafür sei der Januar nächsten Jahres, wenn der von den USA geplante Schlag gegen die Besatzungskräfte Saddam Husseins in Kuwait die Ereignisse im Baltikum überschatten würde.

So geschah es auch. Am ersten Januar 1991 nahm die Rigaer OMON das Haus der Presse ein, in dem fast alle in Lettland erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften gedruckt wurden. Dem lettischen Innenministerium gelang es, ein Telegramm abzufangen, in dem der Oberbefehlshaber der OMON seinen Soldaten befahl, „gegen alle bewaffneten Personen, die sich den Stellungen der OMON nähern, das Feuer zu eröffnen, insbesondere gegen Angehörige der lettischen Miliz.“*

Noch bedrohlicher war die Erklärung des sowjetischen Verteidigungsministers Dmitri Jasow vom 7. Januar über die Entsendung mehrerer Luftlandedivisionen nach Lettland mit dem Auftrag, die „Einberufung in die Armee der UdSSR“ sicherzustellen. Tags darauf eröffnete eine kurz zuvor aus der DDR abgezogene und nun in der lettischen Kleinstadt Tukums stationierte Armeeinheit die Jagd auf lettische „Deserteure“. Offenbar hatte das Verteidigungsministerium wenig Vertrauen in seine Soldaten im Inland, die womöglich schon zu viel Perestroika-Luft geatmet hatten. Zu Recht. Uns erreichte die Nachricht von einem Oberst aus Witebsk, der sich weigerte, die ihm unterstehenden Soldaten nach Riga zu schicken. Der Kommandant der Luftlandedivision in Tartu, General Dschochar Dudajew, versprach dem estnischen Ministerpräsidenten Edgar Savisaar, seine Soldaten nicht gegen das estnische Volk einzusetzen. Boris Jelzin, damals Vorsitzender des Obersten Sowjets der Russischen SFSR, forderte in einer Rede an die russischen Soldaten diese auf, sich nicht an Operationen des Kremls gegen die baltischen Völker zu beteiligen.

Der Oberste Rat der Lettischen Republik verabschiedete umgehend eine Erklärung über die Aggression des Verteidigungsministeriums der UdSSR und rief die Parlamente aller Länder der Welt auf, gegen den Versuch Moskaus zu protestieren, den lettischen Unabhängigkeits- und Demokratisierungsprozess zum Stillstand zu bringen. Gleichzeitig wurde ich als Stellvertretender Vorsitzender des Obersten Rates bevollmächtigt, Unterstützung im Westen zu suchen und, falls nötig, eine Exilregierung zu bilden. Das gleiche Mandat erteilte das litauische Parlament seinem Sprecher Bronislovas Kuzmickas, und in Estland wurde der Außenminister Lennart Meri mit dieser Aufgabe betraut. Ungefähr eine Woche später trafen wir uns alle drei in Stockholm, um an der allwöchentlichen Solidaritätskundgebung teilzunehmen, die von schwedischen politischen Parteien zur Unterstützung der baltischen Völker organisiert wurde. Wir eröffneten ein von Schweden finanziertes lettisches Informationszentrum und einigten uns darauf, unsere „Einflusssphären“ abzustecken. Meri reiste nach Deutschland und Kuzmickas und ich nach Nordamerika. Der Westen ließ in diesen Tagen seinen Worten der Unterstützung und Sympathie für die baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen Taten folgen: Moskau wurde in parlamentarischen Erklärungen gewarnt, effektive Sanktionen wurden verhängt, und offizielle Delegationen in die baltischen Länder entsandt.

Doch zunächst entlud sich ein Gewitter über Litauen. Am 13. Januar griffen sowjetische Panzer den Fernsehturm in Vilnius an. Tausende Menschen versammelten sich, um die zusammen mit der Unabhängigkeit gerade wiedererlangte Medienfreiheit mit ihren bloßen Händen zu verteidigen. Dreizehn Personen wurden getötet und über 150 verletzt. Moskau verhängte eine Ausgangssperre, setzte eine Militärverwaltung ein und verbreitete die Lüge, die Opfer seien selbst Schuld, denn sie hätten „Tränengas und Waffen” gegen Arbeiter eingesetzt. Doch Litauen gab nicht auf. Jahre später wurde gegen den Verantwortlichen für dieses Massaker, den KGB-Offizier Mihail Golowatow, Haftbefehl erlassen, kurz nach seiner Festnahme in Österreich 2011 wurde er jedoch bedauerlicherweise von den dortigen Behörden auf freien Fuß gesetzt, und konnte sich in Russland seiner gerechten Strafe entziehen. Womöglich hätte er auch über die von der ALFA verübten Verbrechen in Lettland etwas zu berichten gehabt. Die Nachricht, dass diese Spezialeinheit in Jurmala zusammengezogen wurde, erreichte uns jedenfalls dank Berichten aufmerksamer Bürger zeitgleich mit der Nachricht über die Gewalt in Vilnius. Wir mussten den Angreifern zuvorkommen. Am Morgen des 13. Januars folgten Tausende Menschen den Aufrufen des Lettischen Obersten Rates und der Volksfront, in den Städten nach draußen auf die Straßen und Plätze zu kommen. Das war unsere einzige Chance, die sowjetischen Panzer an der Einfahrt nach Riga zu hindern. Um 4:45 Uhr rief ich live im lettischen Radio auf Lettisch und Russisch alle dazu auf, die bereit waren, die neu gewonnene Freiheit zu verteidigen, sich an den Regierungs- und Parlamentsgebäuden, dem Sitz des lettischen Fernsehens und Rundfunks sowie rund um die Telekommunikationseinrichtungen zu versammeln. Wenige Stunden später fuhr eine kilometerlange Wagenkolonne nach Riga ein. Aus der Umgebung strömten Traktoren, Lastwagen und Baufahrzeuge beladen mit Baumstämmen, Feuerholz, Sand und Steinen in die Stadt, um die Brücken über die Düna und damit die Wege in die Stadt zu blockieren. Fischkutter warfen in der Düna ihre Netze aus, um die Schiffsschrauben der sowjetischen Kriegsschiffe zu beschädigen, und diese an der Einfahrt in den Hafen zu hindern. Unter der Leitung lettischer Offiziere, die in der Sowjetarmee gedient hatten, errichteten die Menschen Barrikaden aus großen Betonblöcken, die massiv und schwer zu überwinden waren. Sie wurden so gebaut, dass es im Falle eines Angriffs möglichst wenig Opfer geben würde. Lettische Bildhauer stellten ihre riesigen Granitblöcke zur Verfügung, die eigentlich für ihre Skulpturen vorgesehen waren. Erfindungsreiche Barrikadenbauer stellten auf den Plätzen rund um das Gebäude des öffentlichen lettischen Fernsehens und den Rigaer Fernsehturm Panzersperren und Konstruktionen aus Holzbalken auf, die eine Landung des Feindes aus der Luft erschweren sollten. Sie ließen sich von den sowjetischen Armeehubschraubern nicht einschüchtern, die über den 700 000 Teilnehmern der am Nachmittag organisierten Demonstration am Ufer der Düna kreisten und Flugblätter mit der Aufforderung, den Widerstand einzustellen, abwarfen. Ganz im Gegenteil: Bereits am frühen Abend erleuchteten Lagerfeuer rund um die Barrikaden das dunkle Riga - ein Symbol für die wachsamen Augen der Nation. In den folgenden zehn Tagen hielten Freiwillige Tag und Nacht im Schichtwechsel Wache. Im Dom zu Riga wurde ein Zentrum zur medizinischen Versorgung eingerichtet. Auf dem Domplatz munterten populäre Musiker die Menschen mit Konzerten auf. Das mit der bemalten, „westlichen” Seite in Richtung des Freiheitsdenkmals aufgestellte Fragment der Berliner Mauer erinnerte symbolisch daran, dass nun keine Befestigungen mehr existierten, die Lettland auf dem Weg zurück nach Europa aufhalten würden. Der Geist der Januarbarrikaden überwand die letzten Mauern unserer Zweifel und nahm unserem kollektiven Bewusstsein die Angst. Deshalb klang die Erklärung des „All-lettischen Rettungskomitees” vom 16. Januar, es habe die Macht übernommen, in unseren Ohren auch nur erbärmlich und absurd, obschon diese mit Schüssen der OMON, Versuchen, mit gepanzerten Fahrzeugen, die Barrikaden zu beseitigen und dem ersten Todesopfer einherging. Den Angreifern fehlte die erhoffte „Unterstützung des Volkes“. Die immer weiter in die Höhe wachsenden Barrikaden und die Menschen, die zu Tausenden hinter ihnen standen, haben die sowjetischen Streitkräfte sicherlich bewogen, von einer weiteren Eskalation der Gewalt Abstand zu nehmen. Die Barrikaden bewiesen, dass kollektive Einigkeit und Entschlossenheit stärker sein können als eine um das Vielfache größere Übermacht. Letzten Endes wiesen sowohl der Verteidigungsminister der UdSSR Jasow, als auch der Innenminister Boris Pugo und der sowjetische Präsident ihre Verantwortung für die Ereignisse in Riga zurück. Doch die Provokationen nahmen kein Ende. In der Nacht auf den 20. Januar griffen Mitglieder der OMON koordiniert vom Zentralkomitee der Lettischen Kommunistischen Partei das lettische Innenministerium an. Dass der Vorsitzende des lettischen Obersten Rates Anatolij Gorbunovs gerade im Hotel auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit dem polnischen Sejmmarschall Andrzej Stelmachowski zu Abend aß, war eine Ironie der Geschichte. Zur gleichen Zeit nahm der Fraktionsführer der Volksfront, Jānis Dinevičs im Arbeitszimmer Gorbunovs‘ im Obersten Rat einen Telefonanruf entgegen. Ohne sich vorzustellen, sprach der letzte Führer der Kommunistischen Partei Lettlands Alfrēds Rubiks in den Hörer: “Na, wie finden Sie das?”

Rund um das Freiheitsdenkmal und das Fragment der Berliner Mauer fielen Schüsse. Wer schoss, woher und warum, war unklar. Offenbar sollte Verwirrung gestiftet und Raum für spätere Spekulationen geschaffen werden. Womöglich waren auch die Killer der ALFA-Einheit beteiligt. Wahrscheinlich töteten sie auch die zwei lettischen Kameramänner – doch die genauen Umstände dieses Verbrechens sind bis heute nicht geklärt. Insgesamt forderte die Zeit der Barrikaden in Lettland neun Todesopfer. Kameraleute, Fotografen und Journalisten könnten dabei sowohl in Riga als auch in Vilnius die Hauptziele des KGB und GRU gewesen sein.

Neben den Tausenden Frauen und Männern auf den Barrikaden waren die freie Presse und die Wahrheit unsere größte Stärke. Im Pressezentrum des Lettischen Obersten Rates waren damals ungefähr 1500 Journalisten akkreditiert. Jeden Tag wurden von dort stündlich die neuesten Meldungen in die Welt geschickt. Der lettische Rundfunk arbeitete mit Studenten der Fakultäten für Fremdsprachen zusammen und sendete auf Englisch, Deutsch und in den skandinavischen Sprachen. Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass die Nachrichten über den Militärschlag der USA gegen die Streitkräfte Saddam Husseins in Kuwait den gewaltlosen, heldenhaften Widerstand mit Hilfe der Barrikaden nicht in den Schatten stellten. Das förderte die Unterstützung der Weltgemeinschaft und der westlichen Politiker für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Davon zeugten auch die Worte des amerikanischen Publizisten William Safire in seiner Kolumne für die New York Times, mit denen er - bezugnehmend auf ein Zitat von Thomas Jeffersons - daran erinnerte, dass der Baum der Freiheit in der Nachte des 20. Januars vom Blut der Verteidiger der Rigaer Barrikaden begossen wurde.

Am 25. Januar wurde eine Staatstrauer für die Opfer der Barrikaden angeordnet und der Abschied von den Gefallenen geriet zum Triumph des gewaltlosen Widerstands. Sogar der Kreml versprach eine Untersuchung des Verbrechens. Allerdings schickte er Ermittler der sowjetischen Staatsanwaltschaft nach Lettland, deren Aufgabe es eher war, Spuren zu verwischen, als die Schuldigen zu ermitteln.

Ja, die Januartage der Barrikaden waren tragisch. Doch das Gedenken an sie ist im heutigen Lettland auch ein Gedenken an unseren Sieg – an den Sieg des von uns gewählten europäischen Wegs. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands wurden 32 000 Personen mit der Ehrenmedaille für die Teilnehmer der Barrikaden ausgezeichnet. Tatsächlich hätte sie eine zehn oder sogar zwanzig Mal höhere Zahl der Verteidiger und Unterstützer der Barrikaden verdient gehabt. Ich hätte sie auch Rainer Hildebrandt verliehen, dessen Fragment der Berliner Mauer Teil der Januarbarrikaden war. Als Hildebrandt während des nächsten, vom Kreml organisierten Putsches am 21. August 1991 nach Riga reiste, sagte er bei seiner Ankunft: „Ich bin gekommen, damit nicht auf Euch geschossen wird.“

Es wurde nicht geschossen.

Am 21. August wurde Lettland de facto frei.

 


 

* January Chronicles. Press Releases Issued by the Supreme Council of the Republic of Latvia, Riga, 1991. (Januar-Chroniken. Presseerklärungen des Obersten Rates der Republik Lettland, Riga 1991)

 

Dainis Īvāns

Vorsitzender der Lettischen Volksfront (1988-1990)

Erster Stellvertretender Vorsitzender des Obersten Rates der Republik Lettland (1990-1992)

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