Klimawandel und Krisenmanagement: Burkhard Spinnens Romanexperiment am Comer See
Endlich ein Klimawandelroman, der diesen Namen verdient. Burkhard Spinnen (Preisträger der KAS 1999) erzählt routiniert vom Troubleshooting zwischen Mensch, Tier und Natur. Ein Zukunftsszenario in den norditalienischen Alpen: Östlich des Comer Sees ist ein Hang abgestürzt. Das ist, angesichts des Bergsturzes im Wallis, hochaktuell.
Von Erdrutschen, Gletscherbrüchen und Hochwasser erzählt der Roman spannend und keineswegs auf Katastrophenerwartungen geeicht. Anfangs wird auf einem entlegenen Plateau des Monte Croce di Muggio ein Vogelmann aufgelesen: ein Veterinär, der mit Krähen kommuniziert. Versteht er deren Laute als Warnrufe? Oder leidet er an Schizophrenie? Den verhängnisvollen Zusammenhang zwischen Menschen-, Vogelwelt und Natur versucht ein buntes Team zu entschlüsseln. Mit dem Vogelmann sind das eine Unternehmensberaterin, eine Krähenforscherin, ein Bergsteiger. Mit Klimaaktivisten und Ökoterroristen müssen sie zurechtkommen, mit aggressiven Touristen, mit Einheimischen voller Existenzsorgen – und mit einem übermotivierten Mailänder Staatssekretär. Sie lernen, dass, wer anklagt, auch umsetzbare Alternativen anbieten sollte und dass komplexe Zusammenhänge nicht mit Protestaktionen bewältigt werden können. All das spielt sich vor der Kulisse des Comer Sees ab, wo Adenauer Arbeitsurlaub machte und heute Clooney mit Brad Pitt vor Cadenabbia aufkreuzt. Ein brisant in unsere Gegenwart hineingeschriebener Klimawandelroman.
Freiheitsliebe und Abenteuerlust: Ulrike Draesners Meerfahrt mit Penelope
Bei Homer gehen Odysseus und Penelope ins Bett, der Liebes- und der Erzähllust wegen. Aber da, wo die Odyssee endigt, fängt sie für Ulrike Draesner (Preisträgerin 2024) erst an. Ihr Postepos penelopes sch( )iff erzählt, elektrisiert von Emily Wilsons englischer Neuübersetzung der Abenteuer des „Lord of Lies“ und Christopher Nolans für 2026 angekündigtem Odysseus-Film, vom Schicksal der Penelope. Aus dem Schatten der engelsgeduldigen Ehefrau und Helden-Muse wird sie herausgeholt. Ulrike Draesner schickt die Figur auf eine ihrerseits abenteuerliche Reise. Mit 100 Frauen, ihren Töchtern, ihrer Schwiegermutter, mit Freundinnen, Mägden und Sklavinnen sticht sie in See. In strophischen Formen erzählt Draesners Langgedicht von dem, was die Frauen auf dem Meer zusammenhält: Da sind die Erinnerungen an Ithaka, der Umgang mit Mangelwirtschaft, die Erfindung des Haushaltsbuchs, die Züchtung seltener Tierarten und das Lesen der Sterne, die Chirurgie und die Einlagerung von Gurken, das Muskeltraining an Rudergeräten und nicht zuletzt der Abschied von posttraumatisch belasteten Kriegsheimkehrern (wie Odysseus).
Ulrike Draesner geht freimütig mit Homers Figuren um. Sie lässt einige beiseite und andere überleben. Sie verteilt die Sprechrollen auf Penelopes Töchter (darunter Medusa) und eine aufmüpfige Magd (Melantho). Der Text von „Penelopes Sch( )iff“ (in die ungefüllte Klammer kann man eine Heterotopie hineinlesen, oder einen Schiffsrumpf, oder ein „l“, das dem Epos einen neuen ‚Schliff‘ gibt) ist in einem quicklebendigen, durch griechische Wörter und phönizische Lettern aufgerauhten Deutsch geschrieben. Der homerische Hexameter darf auf eigenen Seiten als Kommaregen herabrieseln. Auch ein solches Formexperiment macht die Lektüre zum Vergnügen. Ulrike Draesners Postepos entdeckt Penelope als listige Kriegerin, als kühne Migrantin und Abenteurerin, als Hausmutter und Liebende, als Gründungsfigur von Venedig. Eine fabelhafte alternative Weitererzählung des klassischen Mythos, eine frauen- und freiheitsbewusste Korrektur der patriarchalischen Vorlage.
Neue Geschichten aus einer klassischen Geschichte: Hans Pleschinskis Übersetzung einer Vorgeschichte der Französischen Revolution von unten
Revolutionen beginnen, bevor sie ausbrechen. Hans Pleschinski, einer der kundigsten Entrepreneurs in der französischen Geschichte, erzählt uns, was vor 1789 geschah, aus einer der überlieferten Zeitmitschriften. Sie stammt von Jeanne Louise Henriette Campan, einer Frau, die bereits als Sechzehnjährige in den Dienst des Versailler Hofes trat und ihre Erinnerungen an die Königin Marie Antoinette im Alter schriftlich festgehalten hat. Campans Schilderungen der 1770er bis 1790er Jahre, die Pleschinski (Preisträger 2021) übersetzt und kommentiert hat, machen uns zu Zuschauern der Staatskrise, des Königssturzes und des Siegs der Aufklärung.
Die Französin Henriette Campan, geborene Genet, Tochter eines Dolmetschers im Außenministerium, trat als polyglotte Lectrice in den Hofdienst. Campan protokollierte den Verfall des Königshauses, die Ruppigkeit des Königs, der seine Töchter „Wrack“ und „Krähe“ nannte, die Vergnügungssucht. An Tagen, wo der König einmal nicht zur Jagd war, fiel ihr die Äußerung seiner Höflinge auf: „Er hat heute nichts getan.“ Unter Ludwig XVI. wurde sie die erste Kammerfrau Marie Antoinettes, der Frau des Thronfolgers. Auch hier nahm sie das Schwinden der königlichen Würde, die Verstummung geselliger Runden und die Auswanderung des Esprits von Versailles nach Paris wahr, wo Missernte und Hungersnot, Rechtsansprüche des Dritten Standes und Machtbedürfnisse von Adel und Klerus diskutiert wurden. Pleschinskis Übersetzung des höfischen Memoirs präsentiert ein Logbuch des Untergangs eines führungslosen Staatsschiffs. Die Hofdame wird zur Kronzeugin der Tragödie des Königtums. Ein kluges und anschauliches Zeitenwende-Buch von unten, das erzählt, was nicht in den Geschichtsbüchern steht. Man mache diese getrost zu Geld und kaufe sich Hans Pleschinskis Buch!
Literatur:
Ulrike Draesner: Ulrike Draesner: penelopes sch( )iff. postepos. München: Penguin, 2025
Hans Pleschinski: Das kurze und verschwenderische Glück der Königin Marie Antoinette. Die Aufzeichnungen ihrer Kammerfrau Henriette Campan. Übersetz und hrsg. von H. P. München: C.H. Beck, 2025.
Burkhard Spinnen und Charles Wolkenstein: Erdrutsch. Roman. Berlin: kanon, 2025.