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Ratsberichte

Europäischer Rat - Dezember 2023

von Dr. Hardy Ostry, Tom Körner, Lukas Wick, Stanislav Linchevsky, Domien te Riele

Feuerwerk zum Jahresende: Der komplizierteste Ratsgipfel seit Covid

Beim letzten Ratsgipfel des Jahres 2023 sollte es nochmal um viel gehen. Bereits im Vorfeld wurde darüber spekuliert, dass dies der komplizierteste Gipfel seit der Pandemie werden und mitunter in die Verlängerung gehen könnte. Es ist nicht ganz so dramatisch gekommen, wie zunächst angenommen. Gleichwohl mussten die Staats- und Regierungschefs, unter denen sich nun auch erstmals wieder der frischgebackene Ministerpräsident Polens, Donald Tusk, und der luxemburgische Premier Luc Frieden befanden, einige Themen in den Januar schieben. So konnte der Ukraine zwar mit dem Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen eine konkrete EU-Beitrittsperspektive eingeräumt werden, jedoch wurden weitere Finanzhilfen mitsamt dem mehrjährigen Finanzrahmen erstmal in den Januar vertagt. Ähnlich ging es auch beim Thema Nahost zu, wo die Fronten verhärtet scheinen und daher keine gemeinsame Position gefunden werden konnte. Das Thema wird ebenfalls im Januar wieder aufgegriffen werden. Fortschritte konnten hingegen bei den Themen Sicherheit und Verteidigung und der Strategischen Agenda gemacht werden. Der große Durchbruch kurz vor Weihnachten blieb somit aus, wenngleich der Gipfel wohl aus ukrainischer Perspektive historisch sein dürfte.

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Ukraine

Hintergrund

Seit dem letzten Gipfel änderte sich am Kriegsverlauf relativ wenig, ebenso blieben die Fronten innerhalb der vergangenen Monate weitestgehend verhärtet. Es wird erwartet, dass sich die Kämpfe noch weit ins nächste Jahr hineinziehen und länger andauern werden. Zu Beginn des Gipfels hat Vladimir Putin erstmalig seit Kriegsbeginn wieder eine Pressekonferenz als Jahresfazit abgehalten und betonte den Willen Russlands, nur eine Kapitulation der Ukraine und das Erreichen russischer Kriegsziele hinzunehmen. Dass seine Ansprache nicht die Gemütslage der russischen Bevölkerung widerspiegelt, die mit den Sanktionen zu kämpfen hat und von den hin und wieder auftretenden Schlupflöchern, wie zuletzt im Falle des Ölverkaufs an Bulgarien, nur äußerst geringfügig profitieren kann, war ihm nicht anzumerken. Die Ukraine wiederum scheint mit den ersten Anzeichen von Kriegsmüdigkeit zu kämpfen: Es kam in letzter Zeit teils zu Protesten und Kritik aus den Reihen der ukrainischen Bevölkerung wie auch der Führungsebene über die Erreichbarkeit der selbstgesteckten Ziele. Trotzdem wird der russische Angriffskrieg weiterhin zurückgeschlagen und der nahende zweite Jahrestag des Angriffs im Februar zeigt, wie sehr die Schlagfähigkeit der Ukraine unterschätzt worden war.

Vor dem Gipfel kam es bereits zu intensiven Auseinandersetzungen und Verhandlungen, da ein ungarisches Veto gegen weitere Finanzhilfen für die Ukraine sowie gegen ein weiteres Voranschreiten des Beitrittsprozesses angekündigt war. In diesem Zusammenhang wurden etliche Treffen von diversen Regierungsoberhäuptern im Vorhinein vereinbart und spekuliert, die Kommission könne eingefrorene Hilfsgelder an Ungarn freigeben, die im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeitsdebatte nicht an das Land ausgezahlt worden waren. Tatsächlich verkündete die Kommission am Tag vor Start des Gipfels die Freigabe von 10,2 Milliarden Euro an Ungarn, was den Weg für die Verhandlungen ebnen konnte, jedoch auch auf starken, parteiübergreifenden Protest aus den Reihen des EU-Parlaments führte: Monika Hohlmeier (CSU/EVP) bezeichnete die Gelder als Belohnung für Orbáns Erpressung der EU und es als offensichtlich erklärte, dass letztlich nur Fidesz-Leute und regierungstreue Oligarchen profitieren würden, während Jens Geier (SPD/S&D) meinte, dank Orbán säße Vladimir Putin selbst mit am Verhandlungstisch.

Entwicklung

Im Abschlussreport wird festgehalten, dass Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufgenommen werden, was einen besonders wichtigen Schritt für das Land darstellt. Auch anderweitig hält der Rat an seiner bisherigen Linie zur engen und klaren Unterstützung der Ukraine fest, so lange wie notwendig. Der russische Angriffskrieg wird weiterhin entschieden verurteilt und die Souveränität der Ukraine in ihren international festgehaltenen Grenzen gefordert. Schnelle und effiziente Hilfslieferungen jedweder Art seien wichtig, insbesondere Anstrengungen, die Beschaffung der versprochenen Artilleriemunition in Höhe von einer Millionen Schuss. Jedwede Hilfe solle, wie bei bisherigen Beschlüssen auch, von den Sicherheitsinteressen der einzelnen Mitgliedsstaaten abhängig sein. Die EU will stärker international um Unterstützung für die Ukraine kämpfen, wobei der globale Friedensgipfel erneut ins Gespräch gebracht wird als mögliche Initiative für einen Austausch über Friedenslösungen.

Ein zwölftes Sanktionspaket soll Russland weitergehend schwächen, bisherige Schlupflöcher schließen und weitere Sektoren, wie bspw. den Diamantenhandel, einbeziehen. Letzteres bezieht sich auf den G7-Beschluss von Anfang Dezember und bleibt dieser Linie treu. Der Iran, Belarus und Nordkorea werden für ihre Unterstützung Russlands verurteilt und weitere Staaten dazu aufgerufen, von der Zusammenarbeit mit Russland abzusehen. Der Rat unterstrich zusätzlich die Wichtigkeit der Sicherheit im Schwarzen Meer und des von Russland gekündigten Getreideabkommens, wozu die Kommission aufgerufen wird, in Absprache mit den Mitgliedsstaaten, neue Maßnahmen zum Schutze und Ausbau der Solidaritätskorridore vorzuschlagen, die den Handel der Ukraine über das Schwarze Meer ermöglichen sollen. Die zuvor angedachten Finanzhilfen in Höhe von 50 Mrd. € für die Ukraine werden nicht freigegeben und eine Entscheidungsfindung auf Januar verschoben.

Kommentar

Der Rat hält weiterhin an seiner Unterstützung der Ukraine fest und formuliert seine Abschlusserklärung in den meisten Punkten wie beim letzten Bericht ebenso, was eine Festhaltung an der grundsätzlichen Position und Rhetorik bedeutet. Dass das ungarische Veto bezüglich der Aufnahmeverhandlungen umgangen werden konnte, zeigt die Entschlossenheit der EU, die Ukraine weiterhin tatkräftig zu unterstützen und für ihre geostrategischen sowie außenpolitischen Interessen auch Fragen der Rechtsstaatlichkeit in den eigenen Reihen hintenanzustellen. Dies zeigt eine Kehrtwende in der Prioritätensetzung des Rates auf und entspricht mehr der geopolitischen Prämisse der Kommission als der kritischer auf Rechtsstaatlichkeit pochenden Auffassung des Parlaments. Das vorherige Gerangel um eine gemeinsame Linie und die den Prozess begleitende aufgeladene Rhetorik bedeutet auch, dass Gegensätze zwischen den Staats- und Regierungschefs deutlicher werden und ein einzelner Mitgliedsstaat, Ungarn, seine Vetomacht zu einem gewissen Grad ausnutzen konnte; auch wenn die Kommission betont, dass die Auszahlung der Fördermittel in keiner Weise mit dem Ratsgipfel in Verbindung stünde, liegt die Vermutung nahe, dass hier durchaus ein Zusammenhang besteht. Der in letzter Sekunde gefundene Kompromiss, dass Orbán zur Abstimmung den Raum verließ, anstatt abstimmen zu müssen, bedeutet einen kurzfristigen Erfolg. Er bedeutet aber ebenso, dass die ungarische Regierung weiterhin vehement gegen den ukrainischen Beitrittsprozess vorgehen und die Entscheidung nicht als von ihr getragen kritisieren kann.

Das Verhalten Ungarns ist eine gefährliche Entwicklung für die EU als Ganzes, da es noch stärker als vorherige Debatten aufzeigt, wie Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik Auswirkungen auf die interne Funktionalität der EU haben können. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen stellt definitiv einen Erfolg für die Ukraine dar. Gleichzeitig zeigt der Fakt, dass sich nicht auf die Höhe der weiteren Fördergelder geeinigt werden konnte und das Thema auf Januar kommenden Jahres verschoben wurde, einen Rückschlag dar. Nicht nur Ungarn, sondern auch andere Staaten, u.a. Deutschland, kritisierten die Höhe der Hilfszahlungen und blockierten eine gemeinsame Entscheidungsfindung.

 

Nahost-Konflikt

Hintergrund

In den jüngsten Diskussionen unter den Spitzen der Europäischen Union ist das Thema des Wiederaufbaus des Gazastreifens zu einem umstrittenen Punkt geworden, der einen Mangel an Einigkeit im Umgang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt widerspiegelt. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, erklärte am Mittwoch, dass arabische Länder zögerlich seien, zum Wiederaufbau des Gazastreifens beizutragen, es sei denn, es gebe internationale Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung. Borrell betonte das Fehlen einer einheitlichen Haltung unter den EU-Mitgliedstaaten und räumte die Schwierigkeiten bei der Festlegung einer gemeinsamen Position ein. Obwohl es eine wachsende Zustimmung zu einem Waffenstillstand gibt, laufen die Diskussionen innerhalb der EU-Führung weiter. Borrell unterstrich sein Engagement für eine politische Lösung des Konflikts und betonte die Notwendigkeit internationaler Unterstützung.

Gleichzeitig äußerte der irische Taoiseach Leo Varadkar Bedenken über die wahrgenommene Schwäche der EU bei der klaren Positionierung zu Gaza. Varadkar wies darauf hin, dass 17 der 27 EU-Mitgliedstaaten sich für einen Waffenstillstand im Gazastreifen aussprechen. Er erkannte jedoch an, dass die Entscheidungen der EU im Bereich der Außenpolitik derzeit Einstimmigkeit erfordern und die Formulierung einer kohärenten Antwort erschweren. Varadkar argumentierte, dass die Glaubwürdigkeit der EU, insbesondere bei jungen Menschen und in Entwicklungsländern, durch ihre wahrgenommene Unentschlossenheit in der Gaza-Frage beeinträchtigt wird. Er schlug vor, dass eine Reform des Entscheidungsfindungsprozesses innerhalb der EU notwendig sein könnte und deutete an, dass es, auch angesichts der aktuellen Blockade in der Ukraine-Frage, sinnvoll sein könnte, Positionen in qualifizierten Mehrheiten, anstatt in Einstimmigkeit zu übernehmen. Im Hinblick auf die im Vorfeld antizipierte Pattsituation bei gleich mehreren Tagesordnungspunkten dieses Gipfels stellte sich diese Frage allerdings fast schon automatisch – auch, weil hiervon die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU abhängt.

Entwicklung

Der belgische Premierminister Alexander De Croo läutete die Debatte zu Nahost ein und formulierte die Haltung einiger Mitgliedstaaten zum Konflikt zwischen Israel und der Hamas in der Presse. Er betonte und wies darauf hin, dass Israel "maximale Zurückhaltung" zeigen sollte. Dies stelle jedoch keinesfalls die Meinung aller anwesenden Staats- und Regierungschefs wieder. De Croo erklärte, die aktuelle Position eines Teils der EU-Mitgliedstaaten bestehe darin, Israel aufzufordern, Zurückhaltung in seinen Handlungen zu üben. Andere Mitgliedstaaten sehen in dieser Haltung jedoch das Verteidigungsrecht Israels verletzt. Noch vor dem Gipfel äußerte der belgische Premierminister die Hoffnung auf produktive Gespräche, die zu einer gemeinsamen Position während des Gipfels führen würden. Diese gemeinsame Haltung beinhaltet auch die Forderung nach Freilassung israelischer Geiseln und die Sicherstellung eines dauerhaften und vollständigen humanitären Zugangs, um das umfassende menschliche Leiden infolge des Konflikts zu lindern. De Croo betonte die Dringlichkeit der Bewältigung der humanitären Krise und wies darauf hin, dass sich die Situation seit dem letzten Gipfeltreffen verschlechtert habe, bei dem noch Appelle für "humanitäre Pausen" im Gazastreifen gemacht wurden. Gleichzeitig hätte er an dieser Stelle auch erwähnen können, dass sich seither auch die interne Fragmentierung der EU im Hinblick auf die Situation in Gaza verschlechtert hat. Wie der Hohe Vertreter Borrell bereits im Vorfeld klarstellte, ist aktuell keine gemeinsame Position der EU zu erkennen.

Die Mitgliedstaaten konnten sich, trotz der Bemühungen um eine einheitliche Haltung, bei diesem Gipfel nicht auf formale Schlussfolgerungen zum Konflikt zwischen Israel und der Hamas einigen. Ein EU-Vertreter enthüllte, dass die EU-Spitzen eine strategische Debatte über den Nahen Osten geführt haben, aber keine Einigung erzielt werden konnte. Das Fehlen konkreter Formulierungen in den abschließenden Schlussfolgerungen unterstreicht die erheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Positionen zu dem Konflikt. Vor dem Gipfel hatten Spanien, Belgien, Irland und Malta in einem Brief an den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, gemeinsam eine "ernsthafte Debatte" gefordert und die Bedeutung der humanitären Aspekte des Konflikts betont, während sie einen "dauerhaften humanitären Waffenstillstand" forderten. Das Fehlen einer Einigung über formale Schlussfolgerungen verdeutlicht die internen Herausforderungen bei der Suche nach einer gemeinsamen EU-Position zu diesem komplexen und sensiblen Thema des Konflikts zwischen Israel und der Hamas. Es ist davon auszugehen, dass das Thema bei einem außerordentlichen Ratsgipfel bereits im Januar wieder auf der Tagesordnung stehen wird.

Kommentar

Die Aussagen des belgischen Premierministers Alexander De Croo beim Ratsgipfel zur Nahostdebatte verdeutlichen die gespaltenen Ansichten innerhalb der EU-Mitgliedstaaten bezüglich des Konflikts zwischen Israel und der Hamas. De Croo betonte die Forderung nach "maximaler Zurückhaltung" von Israel, was jedoch nicht die einheitliche Meinung aller anwesenden Staats- und Regierungschefs widerspiegelt. Während einige EU-Mitglieder diese Haltung unterstützen, sehen andere sie als Verletzung des Verteidigungsrechts Israels.

Trotz aller Bemühungen konnte keine Einigung erzielt werden. Dies spiegelt die erheblichen Meinungsverschiedenheiten wider, da der Rat in anderen Fällen auch dafür bekannt war, bis tief in die Nacht zu tagen, bis dann eben eine Einigung vorlag. Geschieht dies nicht, sind die Gräben schon sehr tief. Es scheint, als sei die gemeinsame Haltung nach dem Gipfel im Oktober bereits das höchste der Gefühle gewesen zu sein. Eine gemeinsame Haltung darüber hinaus scheint nach derzeitigem Stand unwahrscheinlich. Parteipolitische Unterschiede aber auch historische Unterschiede bei der Bewertung der Lage in Gaza kommen hier zu Tragen. 

Spanien, Belgien, Irland und Malta versuchten durch einen gemeinsamen Brief die Notwendigkeit einer ihrer Ansicht nach ernsthaften Debatte und eines dauerhaften humanitären Waffenstillstands zu verdeutlichen. Andere Mitgliedstaaten werteten dies bereits als Einschränkung des Verteidigungsrechts Israels und lehnten den Vorstoß strikt ab. Es ist zwar zu erwarten, dass das Thema, aufgrund einer fehlenden gemeinsamen Position, bereits im Januar bei einem außerordentlichen Ratsgipfel erneut diskutiert wird, jedoch ist nicht zu erwarten, dass sich die Meinungsverschiedenheiten bis dahin aufgelöst haben. Während die EU außenpolitisch oftmals an der Einstimmigkeit im Rat zu scheitern scheint, sind die Differenzen dieses Mal wohl so groß, dass selbst die präziseste Reform der EU keinen Konsens in dieser Frage bringen würde. Insofern wird dieses Thema noch lange kontrovers diskutiert werden.

 

Erweiterung

Hintergrund

Das Thema der EU-Erweiterung hatte mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine neuen Aufwind bekommen, wovon zu einem gewissen Maß auch andere potenzielle oder sich bereits im Prozess befindliche Beitrittskandidaten profitieren konnten. Allerdings gab es in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder gemischte Signale, da die Meinungen darüber auseinandergehen, inwiefern Zugeständnisse an jene Staaten gemacht werden dürfen oder sollen, die nicht ausreichende Kriterien erfüllen, aber geopolitisch und –strategisch eng an die EU gebunden werden sollen. Die Kommission hatte Anfang November bereits einige Vorschläge und Neuerungen von ihrerseits verkündet, wie mit jedem Bewerberland fortzufahren sei, was vom Rat ebenfalls in Vorgesprächen und Beratungen aufgenommen wurde.

Generell versuchte die EU durch jüngste Maßnahmen und Dialogprogramme, den Erweiterungskandidaten mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung zuzusichern. Vor dem Start des Ratsgipfels fand in Brüssel bereits ein Gipfel mit den Vertretern des Westbalkans statt, um drängende Themen der Region in Bezug auf den Beitrittsprozess zu thematisieren. Beispielsweise wurde infolgedessen Geld für bessere Cybersicherheit in Aussicht gestellt, da die Region in der Vergangenheit Opfer russischer und iranischer Hackerattacken war. Grundsätzlich wurde festgehalten, dass der Integrationsprozess voranschreiten solle. Das Treffen sollte im Vorfeld Einigkeit symbolisieren.

Entwicklung

Als wichtigsten Schritt entschied der Rat, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau aufzunehmen. Dies solle in enger Anlehnung an die Kommissionsempfehlungen vom 9. November geschehen und die darin vorgesehenen Schritte erfüllt werden. Letzteres gilt ebenfalls für Georgien, welches unter Vorbehalt der Erfüllung der Empfehlungen den Kandidatenstatus erhält. Mit Bosnien und Herzegowina werden ebenfalls Verhandlungen aufgenommen, sobald die Kriterien der Mitgliedschaft erfüllt sind. Nordmazedonien wird aufgerufen, vor Aufnahme von Beitrittsverhandlungen die Juli 2022 vom Rat geforderten Verfassungsänderungen zügig zu implementieren.

Weitere Staaten des Westbalkans fanden Erwähnung der Absichtserklärung, diese weiterhin bei ihrem Weg in die EU zu unterstützen. Gleichzeitig wurde eine Beschleunigung des Prozesses gefordert und die Länder ermutigt, sich noch bestimmter auf einen Prozess der Angleichung an EU-Standards zu begeben. Der Beitrittsprozess solle leistungsorientiert gestaltet sein.

Generell unterstrich der Rat die Wichtigkeit der EU-Erweiterung als Mittel geostrategischen Investments in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. Konsens besteht darüber, dass mit der EU-Erweiterung gleichzeitig Reformen der EU selbst vollzogen werden sollen, um weiterhin funktionsfähig zu bleiben und gemeinsame Werte zu stärken. Weitere Entscheidungen in diesem Bereich sollen während nachfolgender Treffen bis Sommer 2024 beschlossen werden.

Kommentar

Wie auch bei der Entscheidung zur Ukraine zeigt die Ankündigung zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit mehreren Staaten die geostrategische Ausrichtung des Rats und die Erkenntnis, dass Abwägungen getroffen werden müssen zwischen interner Funktionalität und außenpolitischer Prioritätensetzung. Der momentane Fokus scheint verstärkt auf eine Bindung benachbarter Staaten an die EU zu liegen, um diese aus dem russischen Einflussbereich zu bekommen und andere, internationale Rivalen fernzuhalten. Gleichzeitig wird die Gefahr erkannt, dass eine zu schnelle Aufnahme von Staaten, welche nur teilweise die Kriterien erfüllen, die ohnehin schon reformbedürftige Entscheidungsfindung der EU verkomplizieren würden und liberaldemokratische Grundwerte außer Fokus geraten könnten. Inwiefern eine Lösung für dieses Dilemma gefunden werden kann, werden kommende Treffen und Abkommen zeigen. Die Zusprache zum Beitrittsprozesses stellt jedoch einen wichtigen symbolischen Wert dar, der Staaten in ihren Reformanstrengungen belohnt, insbesondere die Ukraine, und über die mangelnde Einigung im Bereich der Finanzhilfen hinwegsehen lässt.

 

Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027

Hintergrund

In den Wochen vor dem Gipfel liefen weitere Diskussionen über die Halbzeitüberprüfung des EU-Haushalts für 2021-2027 (MFR). Die Kommission forderte ursprünglich auf, den MFR um 66 Mrd. € aufzustocken und begründet dies mit einer Notlage resultierend aus dem Krieg in der Ukraine, der Migration, der Corona-Pandemie und für die neue gegründete STEP-Plattform (zur Unterstützung Strategischer Technologien für Europa). Alle 27 Hauptstädte müssen einem neuen oder aktualisierten Haushalt zustimmen. Im letzten Oktober-Gipfel konnten die Mitgliedsländer keine Einigung erreichen, und die Entscheidung wurde auf das Jahresende vertagt.

Trotz weiteren intensiven Verhandlungen kam es bis zum Treffen des EU-Rates zu keinem Durchbruch. Es gab in diesem Zusammenhang zwei zentrale Streitpunkte. Der erste Streit war die zusätzliche 50 Mrd. € Hilfe für die Ukraine und betraf vor allem Ungarn. Viktor Orbán argumentierte schon mehrmals, dass die westliche Unterstützung im Konflikt mit Russland keine Ergebnisse erzielt habe und hat daher mit einem Veto Ungarns gedroht. In diesem Streit zeichnete sich kurz vor dem Gipfel jedoch Kompromissbereitschaft auf ungarischer Seite ab. Budapest hat sich inoffiziell bereit erklärt, sein Veto zurückzuziehen, wenn Brüssel alle Gelder freigibt, die von der EU aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit im Land eingefroren wurden.

Trotz der Einigkeit, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, waren viele Länder weniger geneigt, Brüssel zusätzliches Geld für andere Zwecke zu gewähren.  Mehrere ost- und nordeuropäische Länder, darunter auch Deutschland, drängen seit längerem darauf, dass die EU-Kommission ihre neuen Prioritäten durch Kürzungen in anderen Bereichen des aktuellen Haushalts finanziert. Südeuropäische Mitglieder unterstützen hingegen den Vorschlag der Kommission. Die meisten Mitgliedsstaaten stimmen jedoch überein, dass die von der Kommission vorgeschlagene Budgeterhöhung von 66 Mrd. € reduziert werden sollte. Die spanische Ratspräsidentschaft schlug in den Wochen vor dem Gipfel verschiedene Optionen für Ausgabenkürzungen im aktuellen EU-Haushaltsrahmen für 2021-2027 vor, die bis zu 20 Mrd. € in frischem Geld einsparen würden. Diese Vorschläge konnten jedoch nicht die Unterstützung der Mitgliedstaaten gewinnen.

Es zeichnete sich insofern keine klare Aussicht auf eine Einigung vor dem Gipfel ab. Angesichts der Bereitschaft zur weiteren Unterstützung der Ukraine, mit Ausnahme Ungarns, wurde jedoch spekuliert, dass die Regierungschefs zumindest eine Teillösung für den allgemeinen Finanzstreit finden würden.

Entwicklung

Der ungarische Ministerpräsident Orbán verhinderte am Ende mit seinem Veto eine Einigung zur Halbzeitüberprüfung der Mehrjähriger Finanzrahmen. Die Staats- und Regierungschefs haben sich daher verständigt in Januar in einem Sondergipfel erneut damit befassen.

Der letzte Stand der Verhandlungen wurde im “Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027 Verhandlungsbox” veröffentlicht. Laut diesem Stand verständigt sich der Europäische Rat auf eine Stärkung neuer Prioritäten in Höhe von 64,6 Mrd. € (davon 33 Mrd. € in Form von Darlehen und 10,6 Mrd. € an Umschichtungen). Diese enthalten 50 Milliarden € für die Ukraine (17 Mrd. € in Form von Finanzhilfen und 33 Mrd. € in Form von Darlehen).

EU-Ratspräsident Charles Michel betonte am Ende des ersten Sitzungstages, dass die vorgelegte Überarbeitung des MFR in all seinen Bestandteilen und Prioritäten von den 26 Staats- und Regierungschefs nachdrücklich unterstützt wird. “Wir werden Anfang nächsten Jahres auf dieses Thema zurückkommen und versuchen, Einstimmigkeit zu erzielen" erklärte Michel.

Kommentar

Trotz heftiger interner Kritik aus allen großen politischen Gruppen im Europäischen Parlament hat die Europäische Kommission am Tag vor dem Gipfel angekündigt, rund 10 Milliarden € an eingefrorenen EU-Mitteln für Ungarn freizugeben. Offiziell hat die Kommission es damit begründet, dass sie sich an die Regeln halte und keine andere Wahl habe, als das Geld freizugeben - weil Ungarn die notwendigen Rechtsreformen durchgeführt habe. Orbán hat aber vor dem Ratstreffen bereits durchblicken lassen, dass ihm die 10 Mrd. € nicht genügen würden, auch wenn er öffentlich keine Verknüpfung zwischen beiden Fragen gemacht hat. Bis zuletzt war offen, ob Ungarn sein Veto gegen die Finanzhilfe aufheben würde. In den letzten Verhandlungsrunden wurde in EU-Kreisen bereits ein Plan B diskutiert, sollte Budapest bei seiner Linie bleiben. Nach diesem Plan würden die 26 EU-Länder Kiew auf bilateralem Wege Zuschüsse gewähren, so dass die Position Ungarns keinen direkten Einfluss hätte.

In den anderen MFR-Streitigkeiten schlug die EU-Präsidentschaft unter Michel kurz vor dem Gipfel vor, die zusätzliche Finanzierung noch weiter zu kürzen. In einem letzten Vorschlag von Ratspräsident Michel auf dem Gipfel, wurde die Forderung der Kommission nach neuen Mitteln auf 21 Mrd. € reduziert. Dieser letzte Kompromissvorschlag wurde am Ende auch von allen Mitgliedstaaten, bis auf Ungarn, akzeptiert. Die Verhandlungen zum Haushalt dauerten bis in die Nacht des ersten Gipfeltages. Die erzielte Einigung war letztlich ein Zugeständnis an die sparsamen Länder, die darauf drängen, neue Mittel bis auf die Knochen zu kürzen. Da eine Lösung für die finanzielle Unterstützung für die Ukraine, auch ohne die erfolgte Zustimmung Orbáns, unabhängig vom MFR möglich war, kam es am Ende bei den letzten Verhandlungen zu den zusätzlichen anderen Mitteln auf relativ übersehbare Summen, die nicht bedeutsam waren, um die gesamte Einigung zu verhindern.

Am Ende entschieden sich die Staats- und Regierungschefs jedoch, die Entscheidung zu vertagen und die Ukraine-Hilfe nicht von den anderen MFR-Vorhaben abzukoppeln, was den Druck auf Ungarn weiter erhöhen dürfte. Möglicherweise wollten die EU-Länder auf diese Weise Ungarn noch einmal deutlich isolieren und die Einigkeit unter allen anderen Ländern betonen. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte erklärte dazu, "Wir haben uns mit den 26 Ländern geeinigt. Viktor Orbán, Ungarn, war dazu noch nicht in der Lage. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass wir Anfang nächsten Jahres eine Einigung erzielen können, wir denken an Ende Januar". Rutte fügte hinzu, dass man noch Zeit habe und der Ukraine in den nächsten Wochen nicht das Geld ausgehe.  Für Orbán waren zwei Zugeständnisse auf einem Gipfel wohl zu viel, um sie zu Hause zu verkaufen. Der heftige Streit um die Ukraine-Hilfe und die “Erpressungsmethoden” Ungarns werden aber sicherlich wieder die Rufe in der EU nach einer Reform der EU-Entscheidungsprozesse wieder lauter werden lassen. Die Frage, ob es in Zukunft möglich sein wird, in Haushaltsfragen Entscheidungen mit der Mehrheit der Stimmen, statt mit Einstimmigkeit zu treffen, bleibt jedoch offen. Erstmal bleibt es vorher noch abzuwarten, ob die Blockade Ungarns auch in 2024 weiter bleibt.

 

Sicherheit und Verteidigung

Hintergrund

Das Thema der Sicherheit und Verteidigung der Europäischen Union war 2023 sicherlich ein Dauerbrenner. Angetrieben vom andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den daraus resultierenden geopolitischen Gefahren für die EU geriet das Thema noch auf jede Tagesordnung auf EU-Ebene. Der Angriff der Hamas auf Israel und der daraus resultierend aufgeflammte Konflikt in Nahost trägt sein Übriges dazu bei, dass das Thema auch beim letzten Gipfel in diesem Jahr ausreichend diskutiert wurde. Dabei ist zu beobachten, dass die Debatten nunmehr auf sehr detaillierte Ebenen fortgeschritten sind und bereits einige Programme zur Steigerung der Verteidigungsfähigkeit der Union gestartet wurden. Weitere sind hier zu erwarten.

Es ist aber auch anzuführen, dass sich Jahre der Vernachlässigung des Verteidigungsbereich, nationale Alleingänge und ein blindes Verlassen auf die USA nicht ohne weiteres aufholen lassen – schon gar nicht, wenn man dies ohne ausgereifte Strategie täte und einfach Geld auf das Problem werfen würde. Insofern steht der EU bis zu einer effizienten, ganzheitlichen und gar einheitlichen bzw. kompatiblen Verteidigungsstruktur noch einiges an Arbeit bevor, wofür ihr jedoch nur wenig Zeit bleibt. Die bestehenden Herausforderungen verschlingen Unmengen an Budget, internationaler Support schwindet, die Vereinigten Staaten zögern immer offensichtlicher bei weiteren Finanzhilfen für die Ukraine, und obendrein finden nächstes Jahr noch die US-Wahlen statt, bei denen eine Rückkehr Donald Trumps nicht auszuschließen ist – Konsequenzen für die Zukunft der NATO und damit der bestehenden europäischen Sicherheitsarchitektur inklusive. Insofern ist es höchste Zeit für Europäer, auf eigenen Beinen zu stehen und schließlich auch Laufen zu lernen. Ob dies nun mit einem stärkeren Engagement innerhalb der NATO oder durch interne Verbesserungen geschieht, ist erstmal zweitrangig. Erstens dürfte es auch einem potentiellen Präsident Trump gefallen, wenn die europäische Hälfte der NATO mehr in ihren eigenen Schutz investiere, und zweitens würden europäische Interessen in der NATO stärker zum Tragen kommen. In jedem Fall würde es aber den Wert der NATO für die USA erhöhen, zudem könnte Trump einen späten Sieg einfahren, war es doch er der erstmals nachdrücklich, öffentlich und in seiner kritikwürdigen aber unverkennbaren Art gefordert hat, dass die Europäer wesentlich mehr tun müssten, wenn es um ihren eigenen Schutz ginge. Natürlich ist diese Forderung nicht neu; bereits Barack Obama hatte in der Vergangenheit einen größeren Beitrag Europas zur NATO gefordert, jedoch wurde wenig in die Tat umgesetzt. Es ist bezeichnend, dass mehrere Konflikte nötig waren, um die EU und ihre Mitgliedstaaten zum Handeln zu bewegen. Die erste Reaktion des bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Mitgliedstaats Deutschland, reflexartig Geld in das Problem zu investieren, zeigt einerseits den gestärkten Willen, andererseits jedoch auch die Hilflosigkeit im angemessenen Umgang mit der Problematik.

Das NATO-Ziel von 2% des BIP für Verteidigungsangelegenheiten hätte Deutschland bereits seit Jahren erreichen sollen; nun scheint eine Änderung bevorzustehen. Die Schaffung eines "Sondervermögens Bundeswehr" und die Bereitstellung von durchschnittlich 2% des BIP für Verteidigungszwecke sind jedoch noch keine langfristige und effiziente Strategie, insbesondere nicht auf EU-Ebene. Doch es zeigt sich, dass an diesem Punkt gearbeitet wird: Gemeinsame Bedrohungen wurden identifiziert, mögliche gemeinsame Strukturen und Reaktionen auf EU-Ebene werden diskutiert. Cyberangriffe, Migrationsströme als Waffe, hybride Angriffe, klassische Kriegsführung oder Verteidigung gegen Luftangriffe – diese vielseitigen Bedrohungen und Herausforderungen wurden erstmals im Strategischen Kompass der EU erfasst, der bewusst auf Komplementarität mit der NATO abzielt. Zukünftig soll die EU selbst auch intern komplementärer werden, die Verteidigungsindustrie gezielt gestärkt und Reserven strukturiert und möglichst kompatibel zu bestehenden Systemen nachgekauft werden. Nationale Unterschiede sollen dabei möglichst minimiert werden. Der Gipfel im Dezember wird somit auch darüber entscheiden, ob die EU mit kleinen, gebremsten und eher defensiven Schritten ins neue Jahr startet oder ob sie mit Rückenwind und selbstbewussten Schritten und Zielen ins Wahljahr geht.

Entwicklung

Vor dem Hintergrund globaler Instabilität, strategischer Wettbewerbe und Sicherheitsbedrohungen betont der Europäische Rat die Notwendigkeit, die Sicherheit und Verteidigung zum Wohle einer robusten geopolitischen Union zu stärken. Unter Anerkennung der Fortschritte bei der Umsetzung früherer Beschlüsse, wie der Versailler Erklärung und des Strategischen Kompasses, unterstreicht der Rat die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen zur Erreichung der Unionsziele. Dazu gehören die Steigerung der Verteidigungsbereitschaft, gemeinsame Verteidigungsausgaben und die Einrichtung eines effektiven Binnenmarkts für Verteidigung. Insbesondere drängt der Rat auf die rasche Umsetzung von Maßnahmen zur Erleichterung gemeinsamer Beschaffung, zur Verbesserung der Interoperabilität der europäischen Verteidigungsindustrie und zur Auffüllung der Lagerbestände der Mitgliedstaaten, insbesondere zur Unterstützung der Ukraine. Die Staats- und Regierungschefs verurteilen nachdrücklich alle hybriden Angriffe, einschließlich der Instrumentalisierung von Migranten durch Drittländer zu politischen Zwecken, und ist entschlossen, eine effektive Kontrolle der externen Grenzen der EU sicherzustellen. Die Europäische Union ist entschlossen, den laufenden hybriden Angriffen an ihren externen Grenzen, die von der Russischen Föderation und Weißrussland gestartet wurden, entgegenzuwirken. Auch zu diesem Zwecke soll die Verteidigungs- bzw. Widerstandsfähigkeit der Union erhöht werden.

Darüber hinaus forderte der Rat den Hohen Vertreter und die Kommission in Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur auf, rasch eine Europäische Verteidigungsindustriestrategie (EDIS) vorzulegen und ein Europäisches Verteidigungsinvestitionsprogramm (EDIP) vorzuschlagen. Dies soll die europäische Verteidigungs- und Industriebasis stärken, einschließlich kleiner und mittelständischer Unternehmen (KMU), Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit fördern. Der Rat betont auch die Bedeutung der Entwicklung eines Binnenmarkts für Verteidigung, um grenzüberschreitende Lieferketten zu stärken, kritische Technologien zu sichern und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie zu erhöhen. In Bezug auf die Zukunft forderte der Rat verstärkte Anstrengungen zur Steigerung der Verteidigungsbereitschaft, Resilienz und Sicherheit durch Maßnahmen wie Verteidigungsinvestitionen, militärische Mobilität, Live-Übungen, Verbesserung der Weltraumsicherheit, Bekämpfung von Cyber- und hybriden Bedrohungen, Bewältigung von Manipulationen und Einflussnahme durch ausländische Informationen (FIMI) sowie Verstärkung der gemeinsamen Fähigkeitsentwicklung. Er befürwortet auch eine erweiterte Rolle der Europäischen Investitionsbank zur Unterstützung von Sicherheit und Verteidigung in Europa und betont die Notwendigkeit, den neuen zivilen CSDP „Civilian Compact“ zu stärken. Darüber hinaus hebt der Rat hervor, dass eine stärkere und leistungsfähigere Europäische Union im Bereich Sicherheit und Verteidigung positiv zur globalen und transatlantischen Sicherheit beitragen wird, unter Anerkennung ihrer Ergänzungsfunktion zu NATO. Diese Anerkennung respektiert jedoch den spezifischen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten und berücksichtigt die Interessen aller Mitgliedstaaten im Bereich Sicherheit und Verteidigung.

Kommentar

Die vom Europäischen Rat vorgeschlagenen Maßnahmen zur Stärkung der Sicherheit und Verteidigung der EU vor dem Hintergrund globaler Instabilität und Sicherheitsbedrohungen sind umfassend und zielen darauf ab, die Verteidigungsfähigkeit der Union zu erhöhen. Die Erwähnung der Notwendigkeit von gemeinsamen Verteidigungsausgaben und die Schaffung eines effektiven Binnenmarkts für Verteidigung sind positive Schritte in Richtung einer koordinierten und effizienten Verteidigungsstruktur auf EU-Ebene.

Auch die Forderung nach schneller Umsetzung von Maßnahmen zur Erleichterung gemeinsamer Beschaffung, Verbesserung der Interoperabilität der Verteidigungsindustrie und Auffüllung der Lagerbestände der Mitgliedstaaten zeigt eine klare Ausrichtung auf praktische Maßnahmen zur Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft angesichts komplexer Bedrohungslagen. Eine Europäische Verteidigungsindustriestrategie (EDIS) und ein Europäischen Verteidigungsinvestitionsprogramm (EDIP) zeigen den Willen, die europäische Verteidigungs- und Industriebasis zu stärken, Innovation zu fördern und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, jedoch muss dies zwingend auch in einer langfristigen und einheitlichen Strategie eingebettet sein, da Unterschiede sonst nur kurzfristig überbrückt, aber langfristig nicht ausgeräumt werden können. Die Bedeutung eines Binnenmarkts für Verteidigung unterstreicht diese Überlegungen und geht genau in diese Richtung, da so grenzüberschreitende Lieferketten gestärkt werden können und kritische Technologien gesichert werden.

Die zukunftsorientierten Ansätze zur Steigerung der Verteidigungsbereitschaft, Resilienz und Sicherheit durch Investitionen, militärische Mobilität, Live-Übungen und die Bekämpfung von Cyber- und hybriden Bedrohungen sind notwendige Schritte in eine digitale Zukunft der Kriegsführung. Die Anerkennung der EU als positiven Beitrag zur globalen und transatlantischen Sicherheit unter Berücksichtigung ihrer Ergänzungsfunktion zur NATO ist begrüßenswert, jedoch sollte hier in Betracht gezogen werden, dass die Bedeutung der NATO auch vom zukünftigen Präsidenten der USA abhängen wird. Insofern kann ein gesteigerte Beitrag Europas hier zwar einen guten Eindruck machen, wird die EU aber nicht davon befreien, selbstständiger zu agieren. Insofern sollte die EU, neben den zuvor kommentierten einzelnen Vorhaben unbedingt an einer mittelfristigen Strategie zur Strukturierung ihrer Verteidigung mitsamt ihrer Verteidigungsindustrie in Komplementarität zur NATO erarbeite, um Abhängigkeiten zu verringern und für zukünftige Bedrohungslagen gewappnet zu sein. Die während des Ratsgipfels angekündigten oder geforderten Maßnahmen können hierbei nur als Startschuss für eine längere Entwicklung dienen.

 

Migration

Hintergrund

Die Migrationspolitik stand wieder auf der Tagesordnung des Gipfels, obwohl bei den letzten Ratstreffen im Juni, dem informellen Granada-Treffen und dem Ratsgipfel Ende Oktober sich der Spielraum für eine gemeinsame Erklärung stark verkleinert hatte. Der KAS-Ratsbericht am 30. Juni 2023 skizziert den Eklat als Polen und Ungarn die gemeinsamen Schlussfolgerungen zur Migration blockeierten. Der Ratsbericht vom 27. Oktober 2023 zeigt auf, dass der wichtige Tagesordnungspunkt Migration mit „Weiteren Themen“ zusammengefasst und somit abgewertet wurde. Wortwörtlich einigte man sich auf den maximal vagen Satz „Der Europäische Rat hielt eine strategische Diskussion zu Migration und nahm Kenntnis des Briefs der Kommissionspräsidentin“ (Absatz 23, S. 8), die Verlängerung des vorübergehenden Schutzes für Ukrainer und einen Punkt zu Rückführungen.

Im Vorfeld des Dezember Gipfels wurde erwartet, dass sich einige der Regierungschefs für mehr Geld für die europäische Migrationspolitik einsetzen werden. Kurzfristig versucht die EU, Fluchtbewegungen über das Mittelmeer durch Kooperation mit der Türkei, Tunesien und anderen Anrainerstaaten zu lindern. Da aktuelle Ressourcen aufgebraucht sind, würden hier mehr Mittel benötigt.

Schaut man parallel zur Blockade im einstimmig handelnden Europäischen Rat auf die Legislativverhandlungen zwischen den EU-Institutionen zur Asylreform (GEAS) des dysfunktionalen Dublin-Systems, dann befinden sich diese auf der Zielgeraden. Gemeinsames Ziel der unterschiedlichen EU-Organe ist es, die Verhandlungen der Asylreform bis Februar 2024 zum Abschluss und realistischer Wiese durch eine Mehrheitsentscheidung vor den EU-Wahlen zu beschließen.

Entwicklung

Die Migrationspolitik wurde erneut kurz, ganz zum Schluss und zusammengefasst mit „weiteren Themen“ auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs behandelt. Die Formulierung des Oktober-Gipfels wurde fast Eins-zu-Eins übernommen: „Der Europäische Rat hielt eine strategische Diskussion zu Migration und nahm Kenntnis des Briefs der Kommissionspräsidentin“.

Im Vergleich zu Frühfassungen des Entwurfs wurde in der Schlussfassung zusätzlich bekräftigt, dass die EU weiterhin einen ganzheitlichen Ansatz in der Migrationspolitik verfolge. Dieser bestehe aus außenpolitischen Maßnahmen, Kooperationen mit Drittstaaten, Herkunfts- und Transitländern, der Fluchtursachenbekämpfung, Möglichkeiten der legalen Migration, verstärkten Rückführungen, einem effektiven Grenzschutz, und einer resoluten Bekämpfung des organisierten Verbrechens, des Menschenschmuggels, sowie der Instrumentalisierung von Migration als hybride Bedrohung.

In der Folge des Oktober-Gipfels, konnte sich die Kommission mit ihrer Forderung nach mehr Finanzmitteln für die GEAS-Reform und Partnerschaften mit Drittstaaten (z.B. Tunesien und Ägypten) durchsetzen. Aufgrund des Vetos Ungarns kam es jedoch noch zu keiner Einigung bei den zusätzlichen Finanzmitteln im Mittelfristigen Finanzrahmen (MFR) und wird dies im Januar weiter thematisiert. Dem derzeitigen Verhandlungsstand nach sollen in dreierlei Hinsicht zusätzliche Mittel die Migrationspolitik unterbauen: Für Grenzschutz, die Umsetzung der GEAS-Reform und die Unterstützung der Mitgliedstaaten an den Außengrenzen u.a. bei Grenzverfahren sollen zusätzliche 2 Milliarden Euro aufgebracht werden. Der Europäische Rat ruft zudem aus Möglichkeiten bei der Nutzung von EU-Kohäsionsgelder den Spielräumen entsprechend für migrationspolitische Maßnahmen zu nutzen. Für die Unterstützung der Migrationspolitik in der (südlichen) Nachbarschaft der EU sollen 7,6 Milliarden Euro aufgebacht werden. Gelder könnten für die Kooperationen mit der Türkei, Tunesien und anderen Anrainerstaaten angedacht sein.

Kommentar

Die wiederholt kurze Abhandlung und vergleichsweise kurze Formulierung zum Tagesordnungspunkt „Migrationspolitik“, sowie die Zusammenlegung mit dem Punkt „Sonstiges“, erscheinen erneut als nachrangige Behandlung des gesellschaftspolitisch wichtigen Themas. Erneut wurde das Thema von Auseinandersetzungen zur Ukrainepolitik und dem Nahostkonflikt überschattet.  Insider sehen es jedoch als verhalten positives Zeichen, dass sich die Staats- und Regierungschefs, trotz der kontroversen Auseinandersetzungen in der Migrationspolitik, hinter verschlossenen Türen weiter damit befassen. Das kurz vor Ende des Gipfels mit aufgenommene Bekenntnis zu einem ganzheitlichen Ansatz in der Asyl- und Migrationspolitik und was dieser Ansatz beinhaltet, sind positive Zeichen auf dem Weg sich auf eine gemeinsame Linie in der Migrationspolitik zu einigen.

 

Strategische Agenda 2024-2029

Hintergrund

Die Strategische Agenda des Europäischen Rats ist eine relativ kurze Prioritätenliste für die EU mit Blick auf jeweils fünf Jahre. Sie wird federführend von dem Ratspräsidenten unter Einbeziehung der Staats- und Regierungschefs erarbeitet und nach den Europawahlen auf dem Ratsgipfel Ende Juni 2024 beschlossen werden. Die derzeitige Strategische Agenda 2019-2024 enthält die Hauptprioritäten: Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Freiheiten, Entwicklung einer soliden und dynamischen wirtschaftlichen Basis, Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas, Förderung der Interessen und Werte Europas in der Welt.

Während der informellen Tagung des Europäischen Rates Anfang Oktober 2023 im spanischen Granada wurden bereits die folgenden Themen erörtert: Sicherheit und Verteidigung, Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit, Energie, Migration, globales Engagement sowie Erweiterung. Zudem spielten auch die sich seit 2019 geänderten sicherheitspolitischen Herausforderungen eine Rolle. Bisher fanden hierzu seit November 2023 Konsultationen in Berlin, Kopenhagen, Zagreb und Paris statt.

Entwicklung

Der finale Text der Ratsschlussfolgerungen enthält, den Erwartungen entsprechend, das Mandat für den Erarbeitungsprozess der Strategischen Agenda 2024-2029. Mit Verweis auf das Granada-Treffen und die EU-Erweiterungspunkte in der Abschlusserklärung, sollen die langfristigen Leitlinien als Orientierung für die nächste Legislaturperiode dienen.

Kommentar

Vergleicht man die bisher bekannten Ideen für Prioritäten mit denen von 2019, dann sind durchaus Ähnlichkeiten zu erkennen. Sicher werden jedoch auch Begriffe wie strategische Autonomie, die „Green Transition“, Wettbewerbsfähigkeit und „de-risking“ den Weg in das neue Dokument finden.

Die belgische Ratspräsidentschaft, die für das erste Halbjahr 2024 übernimmt, hat angekündigt, eine wichtige Rolle im Erstellungsprozess zusammen mit Ratspräsident Michel einnehmen zu wollen. Aufgrund der Europawahlen und den Wahlen in Belgien ist die Zeit für Legislativprojekte sehr kurz. Belgien möchte daher zur Strategischen Agenda beitragen, bevor im zweiten Halbjahr dann Ungarn die Ratspräsidentschaft übernehmen wird.

Erster Verlautbarungen nach ist nicht mit einer radikalen Veränderung der Prioritäten, sondern mit einer Schärfung einiger Prioritäten zu rechnen. Insbesondere die Sprache zur Sicherheitspolitik wird unter dem Eindruck der aktuellen Sicherheitslage im Vergleich zu 2019 wohl zugespitzt werden. Im Zusammenhang mit der Erweiterungs- und Reformpolitik könnten die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wahrscheinlich als Prioritäten in der Strategischen Agenda 2029 abgebildet werden.

 

Diverse weitere Themen

Der Europäische Rat begrüßte unmittelbar nach Ende der COP28 Klimakonferenz die erfolgreiche Abschlusserklärung. Insbesondere werden die globalen Reduktionsziele zur Erreichung des 1,5-Grad Ziels eingegangen: Globale Emissionen bis 2050 netto Null, bis 2035 um 60% und bis 2030 um 43% im Vergleich zu 2019 zu reduzieren. Im nächsten Jahr wird von der EU-Kommission ein Vorschlag für die Höhe des EU eigenen Klimaziels für 2040 erwartet. Die historische Vereinbarung in der COP28 Abschlusserklärung auf eine Abkehr von fossilen Brennstoffen wird ausdrücklich begrüßt.

Obwohl der Europäische Rat zum Nahostkonflikt sich nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnte, findet sich gesondert eine Verurteilung aller Formen von Antisemitismus, Hass, Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf das Schärfste in den Schlussfolgerungen wieder. Es wird auf die bestehenden Maßnahmen der Europäischen Union verwiesen (Aktionsplan zur Bekämpfung des Rassismus, Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Förderung des jüdischen Lebens) und verdeutlicht, dass deren rasche Umsetzung essenziell sei, um auch die Sicherheit jüdischer Personen in der EU sicherstellen zu können. Die explizite Betonung dieser Themen resultiert vor allem aus den europaweiten Reaktionen auf die Entwicklungen im Nahostkonflikt und der damit einhergehenden Zunahme antisemitischer, aber auch antimuslimischer Äußerungen und Übergriffe. Trotz der unterschiedlichen Positionen der Mitgliedsländer zum Umgang mit diesem Konflikt vermitteln sie zumindest Einigkeit bei der Verurteilung hasserfüllter Handlungen und Aussagen.

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Dr. Hardy Ostry

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