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Ovinuchi Prince Ejiohuo / CC BY-SA 4.0 / Wikimedia Commons

Izvještaji o zemljama

Nigeria vor den Wahlen 2023

von Marija Peran

Das krisengebeutelte Land steht vor der logistischen Mammutaufgabe, die größten Wahlen, die es auf dem afrikanischen Kontinent je gab, durchzuführen.

Über 93 Millionen Nigerianer sind am 25. Februar aufgerufen, im bevölkerungsreichsten Land Afrikas einen neuen Präsidenten zu wählen. Der amtierende Präsident Muhammadu Buhari wird nach zwei Amtszeiten verfassungsgemäß die Macht übergeben. Von schicksalhaften und die Zukunft des Landes bestimmenden Wahlen ist in Nigeria die Rede.

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Nigeria stehen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bevor. Es ist innerhalb von acht Jahren bereits das zweite Mal, dass von einer historischen Wahl die Rede ist. Bei den Wahlen 2015 kam es mit dem Sieg des damaligen Oppositionspolitikers Muhammadu Buhari zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit des Landes 1960 zu einem demokratischen Machtwechsel aus dem gegnerischen politischen Lager. Weite Teile der Bevölkerung sind mit der gegenwärtigen Regierung Buharis jedoch unzufrieden; seine Zeit als Präsident endet mit Ernüchterung und Enttäuschung. Trotz seiner zahlreichen Ankündigungen, das Land seinem Nachfolger entwickelt und sicher zu übergeben, gelang es Buhari nicht, diese Versprechen auch nur annähernd einzulösen. Die Kernthemen Sicherheit, Wirtschaft und entwicklungshemmende Korruption bleiben die entscheidenden Themen für die Bürger Nigerias. Als historisch werden die kommenden Wahlen erachtet, da sie für viele Nigerianer den Grundstein für die Zukunft und damit für den Erfolg oder das Scheitern des Landes legen werden.

Zwar blieb das Land 2022 von weitreichenden sozialen Unruhen verschont, gleichwohl haben Anspannung und Aggressivität im öffentlichen Raum spürbar zugenommen. Die Lage in der nominell größten Volkswirtschaft Afrikas hat sich im vergangenen Jahr dramatisch zugespitzt. Nigeria leidet weiterhin an mangelnder Energieversorgung. Obwohl das Land eines der größten Erdölexporteure Afrikas ist, verfügt es über keine einzige funktionierende Raffinerie und muss veredeltes Erdöl aus dem Ausland importieren. Armut und Hunger haben zugenommen. Wetterphänomene werden durch die Auswirkungen des Klimawandels verstärkt – das Land leidet unter extremen Überschwemmungen einerseits, und zunehmende Desertifikation andererseits. Darüber hinaus spitzt sich die bestehende Ernährungskrise weiter zu. Kurz vor Jahreswechsel hat die Zentralbank überraschend die Ausgabe neuer Scheine der Landeswährung Naira angekündigt; die Frist für die Einzahlung alter Nairanoten läuft in diesen Tagen ab. Neues Bargeld ist allerdings nicht in ausreichender Menge vorhanden, die Menschen warten stundenlang vor den Banken, um an die neuen Scheine zu gelangen. Angesichts dieser Nahrungsmittel-, Benzin- und Bargeldknappheit steigt wenige Wochen vor den Wahlen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Anschläge auf Einrichtungen der Wahlbehörde und der Sicherheitskräfte verschärfen die Atmosphäre kurz vor den Wahlen weiter. Allen Herausforderungen zum Trotz beteuert die Wahlbehörde standhaft, dass die Wahlen wie geplant durchgeführt werden können. Darüber hinaus sei mit den freiesten, fairsten und transparentesten Wahlen zu rechnen, die Nigeria je gesehen hat.

 

Wer sind die Kandidaten?

Zur Wahl stehen Kandidaten 18 politischer Parteien, eine wirkliche Rolle spielen aber nur drei. Die besten Chancen auf das Amt haben zwei bestens bekannte, sehr erfahrene und gut vernetzte Politiker. Sie stehen für eine Kontinuität der üblichen nigerianischen Macht- und Elitenpolitik.
Für die Regierungspartei All Progressives Congress (APC) kandidiert Bola Tinubu, ehemaliger Gouverneur der Finanz- und Kulturmetropole Lagos. Tinubu ist ein politisches Schwergewicht und der (einfluss)reichste unter allen Kandidaten. Der Muslim stammt aus dem Süden des Landes. Eigenen Angaben zufolge 70 Jahre alt, bestreitet er Aussagen, wonach er mehr als zehn Jahre älter und gesundheitlich nicht mehr in der Lage sei, die Geschicke des Landes zu lenken. In seiner Zeit als Gouverneur baute er seinen Einfluss auf die politischen und wirtschaftlichen Geschicke der Metropole auf. Er hat vielen Politikern – den sog. Tinubu Boys – zu einflussreichen Positionen verholfen; sie sind ihm nun einen Gefallen schuldig. 2015 hat er dem scheidenden Präsidenten Buhari zu dessen Wahlsieg verholfen; nun will er im Gegenzug nun die Präsidentschaft. Entsprechend lautet sein Wahlspruch Emi Lokan, was so viel heißt wie „ich bin an der Reihe“.

Für die größte Oppositionspartei Peoples Democratic Party (PDP) tritt Atiku Abubakar an, genannt Atiku. Er ist 75 Jahre alt, ebenfalls Muslim, aber aus dem Norden des Landes. Auch er verfügt als langjähriger Geschäftsmann über ein erhebliches Vermögen und war von 1999-2007 Vizepräsident. Es ist bereits sein fünfter Versuch, Präsident zu werden. Die Zeit, in der Atiku Vizepräsident war, wird heute gerne als Referenzpunkt für ein hohes nigerianisches Wachstumsniveau und effiziente Regierungsführung verwendet, weswegen ihm in dieser Hinsicht viele Kompetenzen zugeschrieben werden. Andererseits hat er jahrelang in Dubai gelebt und sich durch diese Abwesenheit bei vielen Nigerianern unbeliebt gemacht.
Neben den Kandidaten der beiden großen Parteien ist erstmals ein dritter Kandidat im Rennen. Seine Kandidatur öffnet damit erstmals das seit der Demokratisierung 1999 faktisch bestehende Zweiparteiensystem. Peter Obi tritt für die Labour Party (LP) an. Obi ist Christ aus dem Südosten Nigerias und mit 61 Jahren der jüngste der aussichtsreichen Kandidaten. Er ist ein ehemaliger Gouverneur und war bei den letzten Wahlen Vizepräsidentschaftskandidat der PDP unter Atiku. Seine Rhetorik und die Art und Weise, wie er Unterstützer anzieht, grenzt für viele Nigerianer an Populismus – ein Schlagwort, das er und seine Unterstützer von sich weisen würden. Rückhalt erfährt Peter Obi insbesondere in der jungen Bevölkerung, wo sich eine Bewegung gebildet hat, die Obidients.

 

Bruch mit politischer Praxis und Differenzen um Repräsentation

Mit den Kandidaten der beiden großen Parteien APC und PDP wird zudem erstmals die in Nigeria seit 1999 praktizierte politische Praxis des Zonings nicht mehr vollständig beachtet. Dahinter steckt ein Rotationsprinzip, wonach sich die Präsidentschaft zwischen einem Kandidaten aus dem Norden und einem Kandidaten aus dem Süden abwechseln soll. Mit Hilfe des Zonings wurde bisher der geografisch-religiösen Besonderheit Nigerias Rechnung getragen. Grob kann Nigeria hierbei in zwei religiöse Zentren eingeteilt werden – der Norden ist überwiegend muslimisch, der Süden überwiegend christlich geprägt. Ein weiterer Aspekt des Zonings ist die Herstellung eines Gleichgewichts über die Wahl des Vizepräsidenten. Ein muslimischer Kandidat aus dem Norden wählte hierfür einen christlichen running mate aus dem Süden (oder umgekehrt), im Sinne der repräsentativen Beteiligung der religiös geprägten Landesteile. Durch das Abweichen von dieser Praxis, erhält die Frage nach der Nachfolge Buharis (einem Muslim aus dem Norden) zusätzlich eine ethnische Dimension. Tinubu stammt zwar aus dem Süden, ist aber Muslim. Und mit Atiku würde erneut ein Muslim aus dem Norden als Präsident folgen. Alleine mit Peter Obi würde turnusgemäß ein Christ aus dem Süden folgen. Hinsichtlich der Wahl ihrer Vizepräsidentschaftskandidaten haben sowohl Atiku als auch Obi sich an das Prinzip gehalten und einen Kandidaten aus dem jeweils anderen geographischen und religiösen Lager gewählt. Tinubu, ein Muslim aus dem Süden, bricht mit dieser Praxis durch die Wahl eines Muslims aus dem Norden als Vizepräsidentschaftskandidat. Diese Wahl birgt damit die reelle Gefahr politischer Unruhen, sollte der christliche Süden nicht mehr in der Regierung repräsentiert sein. Die Kombination aus zwei muslimischen Kandidaten hat in Nigeria zu vielen Verstimmungen und des Weiteren dazu geführt, dass der ethnisch-religiöse Hintergrund der Kandidaten noch stärker als ohnehin schon diskutiert wird.

Was das erstmalige Abweichen von der Praxis des Zonings bedeutet, lässt sich schwer einschätzen. Einigkeit besteht darüber, dass sie eine befriedende Wirkung hatte. Eine Abkehr verstärkt das Gefühl einiger Gruppen, benachteiligt zu werden. So hat die Volksgruppe der Igbo aus dem Südosten, eine der größten ethnischen Gruppen in Nigeria, noch nie einen Präsidenten gestellt. Auch die Christen im Land sind mit der nun getroffenen Kandidatenauswahl unzufrieden und fürchten, dass sich die unter dem Muslim Buhari erfolgte systematische Besetzung von wichtigen und finanziell lohnenden Regierungs- und Funktionsämtern mit Muslimen fortsetzt. Außerdem werfen sie der Regierung vor, nicht entschieden genug gegen die Tötung von Christen durch Muslime vorzugehen.

 

Wie lauten die Wahlprogramme?

In Nigeria agieren politische Parteien weitestgehend ohne Werteorientierung und ohne tiefgreifende Programmatik. Auch personelle Wechsel zwischen den Parteien vollziehen sich regelmäßig. Wettbewerb um schwindende Öleinnahmen, Vetternwirtschaft und ethnische Rivalitäten spielen bei den Wahlen in Nigeria in der Regel eine größere Rolle als grundsätzliche politische Überzeugungen. Politik in Nigeria gleicht seit jeher eher einem Geschäftsmodell.

Vergleicht man vor diesem Hintergrund die sogenannten Manifestos der drei Favoriten auf das Präsidentschaftsamt, überrascht es nicht, dass sich die Wahlversprechen nicht fundamental unterscheiden. Es zeigen sich nur graduelle Unterschiede und es gibt wenig, was die Kandidaten trennt. Zu ihren obersten Prioritäten haben aber alle drei die Wiederbelebung der Wirtschaft und die Verbesserung der katastrophalen Sicherheitslage gemacht. So versprechen sie eine bessere Bezahlung der Sicherheitskräfte und mehr militärische Ausrüstung, um Terroristen, Banditen und Aufständische zu bekämpfen.

Die Wirtschaft soll durch verschiedene Maßnahmen angekurbelt werden: zunehmende Privatisierung, eine Erhöhung der Produktionskapazitäten (dadurch die Schaffung von Wertschöpfungsketten und Arbeitsplätzen) sowie die Abschaffung der Benzinsubventionen (die alleine im letzten Jahr 10 Milliarden US-Dollar gekostet haben). Darüber hinaus sollen Reformen des Devisenmarkts die heimische Währung stärken und höhere Investitionen in die Bildung getätigt werden.

 

Des Weiteren eint die Wahlprogramme aller Kandidaten, dass sie sehr ambitioniert sind.

Der nigerianische Haushalt ist maßgeblich von den Einkünften aus dem Erdölexport abhängig. Diese haben sich im vergangenen Jahr beständig verringert, während der teure Staatsapparat und gigantische Energiesubventionen fast den gesamten Staatshaushalt verschlingen. Seit Jahren überbietet sich Nigeria von Jahr zu Jahr mit der Staatsverschuldung. Laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds wird das Land bereits 2026 den gesamten Haushalt für die Schuldentilgung benötigen. Um dies vorerst abzuwenden, wurden im Haushalt für das laufende Jahr die Budgets für Vorhaben zur dringend benötigten Entwicklung des Landes stark gekürzt.

Angesichts der Ähnlichkeiten in den Wahlprogrammen und -versprechen verwundert es nicht, dass sich der Wahlkampf weniger um unterschiedliche politische Schwerpunkte dreht, zu evident sind die drängendsten Probleme des Landes. Vielmehr stellt sich für viele Nigerianer die Frage, welcher der drei Kandidaten es schaffen kann, die Bevölkerung zu einen und die Geschicke des Landes zum Positiven zu wenden. Dabei hört man vor allem den Namen Peter Obi. Während weder Tinubu noch Atiku für eine Abkehr der bisherigen nigerianischen Macht- und Elitenpolitik stehen, tritt Obi als Reformer auf, der bereit ist, das politische System Nigerias grundlegend zu überholen. Er verspricht ein neues Nigeria und damit einhergehend die Schaffung einer neuen, geeinten nationalen Identität über ethnische und religiöse Grenzen hinweg.

 

Zunehmend prekäre Sicherheitslage

In Nigeria hat sich in den letzten Jahrzehnten ein komplexes Konfliktpanorama mit gewaltsamen Auseinandersetzungen in allen Teilen des Landes entwickelt. Die Sicherheitslage verschlechtert sich seit Jahren, die Konflikte überlappen sich zunehmend. Während im Nordosten der IS-Ableger Islamic State West Africa Province( ISWAP) bis in die Tschadseeregion aktiv ist, haben sich im Nordwesten gewaltsame Konflikte mit professionell organisierten Banden etabliert und Massen- und Expressentführungen, d.h. Entführungen, bei denen ein sofortiges kleines Lösegeld erzwungen und das Opfer schnell wieder freigelassen wird, zu einem lukrativen Geschäftsmodell gemacht. In Zentralnigeria, dem sog. Middle Belt, finden seit Jahrzehnten um Landnutzung geführte gewaltsame Konflikte zwischen überwiegend christlichen Bauern und mehrheitlich muslimischen Hirten statt. Im erdöl- und erdgasreichen Süden operieren teils schwer bewaffnete Milizen und stehlen oder raffinieren illegal Öl. Im Südosten hat sich der Konflikt mit Separatisten, die sich auch über fünfzig Jahre nach dem Bürgerkrieg für ein unabhängiges Biafra einsetzen, weiter verschärft.

Die Sicherheitsorgane können kaum angemessen reagieren. Sie sind unzureichend ausgebildet und ausgestattet, zudem zentral organisiert, was schnelle Reaktionen auf unmittelbare Vorfälle erschwert. Ihre Mitarbeiter sind in der Regel schlecht bezahlt, was sie anfällig für Korruption macht; nicht selten sind sie Teil der Probleme, die sie bekämpfen sollen. Entsprechend genießen sie bei der Bevölkerung oft wenig Vertrauen.
Die Diskussionen darüber, ob Nigeria zunehmend Züge eines failed state annimmt, mehren sich. Zwar lässt sich ein zunehmendes Staatsversagen in Teilen des Landes nicht leugnen. Die Zentralregierung bröckelt jedoch noch nicht.

 

Ausbleibende wirtschaftliche Entwicklung

Die nominell größte Volkswirtschaft auf dem Kontinent ist in den vergangenen Jahren auch wirtschaftlich zunehmend instabil geworden.

Verschiedene Faktoren hemmen dabei seit Jahrzehnten das Wirtschaftswachstum. Drängende Probleme sind die Verfügbarkeit von Devisen und eine mangelnde Diversifizierung der nigerianischen Wirtschaft. Hauptexportgüter sind nach wie vor Erdöl und Erdgas, was zu einer hohen Abhängigkeit vom Öl- und Gassektor führt. Eine unzureichende Infrastruktur und eklatante Energieunsicherheit sowie unzureichender Investitionsschutz hemmen weiter ausländische Investitionen und die wirtschaftliche Entwicklung. Schließlich erschweren eine endemische Korruption, Elitenpolitik und Nepotismus die Entwicklung des Landes.

Seit dem letzten Jahr befindet sich Nigeria zudem in einer schweren Wirtschaftskrise und steuert laut einiger Prognosen auf die dritte Rezession innerhalb von acht Jahren zu. Die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeigen sich auch hier in Gestalt einer Ernährungs- und Erdölkrise und Rekordinflation sowie dem damit zusammenhängenden Verfall der Landeswährung. Laut offiziellen Angaben lebten 2022 fast zwei Drittel der Bevölkerung in extremer Armut, d.h. von weniger als 2 US-Dollar pro Tag. Im Vergleich: 2021 waren es noch etwa die Hälfte.
Viele Nigerianer versuchen sich angesichts der steigenden Unzufriedenheit mit dieser Situation daher selbst zu helfen. Wer es sich leisten kann, verlässt das Land. In der Folge leidet auch Nigeria unter einem Brain Drain und viele gut ausgebildete Kräfte verlassen angesichts von Perspektivlosigkeit ihre Heimat. Es gibt sogar einen eigenen nigerianischen Ausdruck dafür: japa.

 

Die Perspektive und Rolle der Jugend: Frustration trifft auf Hoffnung

Aber es gibt auch Positives zu beobachten. Nigeria verfügt über ein sehr großes Potenzial: eine sehr junge Bevölkerung, die für die Zukunft und Entwicklungschancen des Landes steht. Gut die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 20 Jahre. Sie fordert für sich eine nachhaltige Zukunft, repräsentative und demokratische Regierungsführung, eine nachhaltige Wirtschaftsordnung sowie Investitionen in Infrastruktur und Bildung.

Zum ersten Mal kann die junge Wählerschaft mit wahlentscheidend sein. Von den knapp 93,5 Millionen registrierten Wählern sind fast 40 Prozent jünger als 34 Jahre. Während das Land so kurz vor den Wahlen angesichts der enormen Herausforderungen im Chaos zu versinken droht, bewahrt sich die Jugend ihren Optimismus und sehnt sich nach echter Veränderung. Die sogenannten EndSars-Proteste gegen Polizeigewalt durch eine Spezialeinheit der Polizei im Oktober 2020 gelten hier als Initialzündung einer neuen jungen politischen Bewegung, wie es sie seit den 80er-Jahren nicht mehr gab. Aktiv ist diese Jugend vor allem in urbanen Räumen.

Fraglich ist jedoch, ob dieses Wählerpotenzial abgerufen und zur Abgabe ihrer Stimmen mobilisiert werden kann. Diese neu politisierte Jugend ist bislang weder nennenswert repräsentiert noch in nachhaltigen politischen Strukturen organisiert. Auch fehlt eine langfristige Strategie zur Umsetzung der eigenen Ziele. Weiter gibt es kaum junge Anwärter für Ämter und keinen jungen Präsidentschaftskandidaten. Zum einen stehen dahinter kulturelle Hürden und eine soziale Hierarchie; es ist das Ergebnis eines Senioritätsprinzips, das landesweit stark im gesellschaftlichen Leben verankert ist. Auch mit Blick auf die Wahrnehmung politischer Verantwortung wird oft nur älteren Menschen zugetraut, über den nötigen Grad an Wissen, Reife und Erfahrung zu verfügen. Ein gesetzlich vorgegebenes Mindestalter für viele politische Ämter ist Ausdruck dieser Überzeugung. Erst auf großen zivilgesellschaftlichen Druck und einer zweijährigen Kampagne mit dem Namen Not Too Young To Run konnten Jugendorganisationen die Nationalversammlung und den Präsidenten 2018 zu einer Verfassungsreform bewegen, die das Mindestalter für politische Ämter herabsetzte. Das Mindestalter für eine Präsidentschaftskandidatur liegt aber nach wie vor noch bei 35 Jahren, für die Kandidatur um einen Sitz im Parlament bei 25 Jahren. Eine weitere, ganz praktische Hürde liegt in den horrenden Kosten einer solchen Kandidatur. Hinzu kommt, dass es kaum politischen Nachwuchs gibt. Dieser wird nicht systematisch aufgebaut, es gibt keine nennenswerten Nachwuchsprogramme oder Jugendorganisationen der politischen Parteien wie man sie aus Deutschland oder anderen Ländern kennt.

 

Lässt sich das Ergebnis prognostizieren?

Um die Wahl um das Präsidentenamt zu gewinnen, benötigt ein Kandidat eine einfache Mehrheit und über 25 Prozent der Stimmen in mindestens 24 der 36 Bundesstaaten. Eine seriöse Prognose über den Ausgang der Wahlen scheint kaum möglich. Zuverlässige unabhängige Umfragewerte gibt es nicht und zu viel undurchsichtige Machtpolitik erfolgt im Hintergrund. Die Regierungspartei APC hat jedoch den großen Vorteil staatliche Einrichtungen im und für den Wahlkampf nutzen zu können, um Unterstützung zu mobilisieren. Wahrscheinlich ist, dass die Wahl sich zwischen den Kandidaten der beiden größten Parteien des Landes, Tinubu und Atiku, entscheiden wird. Blickt man auf die politischen Realitäten im Land, so hat laut vielen Einschätzungen von den beiden Tinubu die besseren Chancen. Die APC stellt derzeit 21 von 36 Gouverneuren; deren Unterstützung durch den Einfluss auf die Wähler in ihren Bundesländern sind entscheidend für die Wahlen. Atiku hingegen haben einige einflussreiche PDP-Gouverneure ihre Unterstützung entzogen, nachdem seine Abkehr vom Zoning für Verstimmungen und Machtkämpfe innerhalb der PDP geführt haben. Auch wenn Peter Obi es derzeit als einziger Kandidat schafft, die junge Wählerschaft zu mobilisieren und mehr als die anderen Kandidaten für Erneuerung zu stehen scheint, werden ihm keine realistischen Erfolgschancen zugerechnet. Die Labour Party verfügt über keine politischen Mehrheiten im Land und wäre daher kaum regierungsfähig. Auch verfügt Obi über keine vergleichbare Macht- oder Finanzbasis wie die anderen beiden Kandidaten. Nach Meinung vieler Experten wird sich die nigerianische Elitenpolitik nicht so schnell aufbrechen lassen.

Aufgrund dreier ernsthafter Kandidaten besteht jedoch zum ersten Mal die realistische Möglichkeit einer Stichwahl. So sehr dies die nigerianische Demokratie weiter stärken würde, so sehr ist damit zu rechnen, dass damit angesichts der schlechten Sicherheits- und Haushaltslage enorme logistische und finanzielle Herausforderungen einhergehen würden. Auch besteht die Befürchtung, dass eine Stichwahl negative Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung haben würde. Über die Möglichkeit und Folgen einer solchen Stichwahl wird in Nigeria daher derzeit lieber nicht gesprochen. Fest steht jedoch heute schon, dass es bis zuletzt spannend bleiben wird.

Mit den Ergebnissen wird in der Woche nach der Wahl gerechnet. Genau vorhersagen lässt sich dies aufgrund des Einsatzes einiger technischer Neuerungen nicht. Bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen stand der Sieger am dritten Tag nach der Abstimmung fest. Die Stimmen werden dieses Mal zwar in den über 170.000 im ganzen Land verteilten Wahllokalen elektronisch gezählt und übermittelt, sie werden zusätzlich jedoch auch weiterhin per Hand ausgezählt. Das Ergebnis aus den einzelnen Bundesländern muss danach von jedem Landeswahlleiter zusätzlich physisch an die Zentrale der Wahlbehörde in der Hauptstadt Abuja übergeben werden, wo sie dann offiziell vorgelesen und registriert werden. Erst dann wird der Vorsitzende der Wahlbehörde den Gewinner – oder die Durchführung einer Stichwahl –bekannt geben.

 

Ist mit freien, fairen und transparenten Wahlen zu rechnen?

Die Herausforderungen für die Durchführung der Wahlen angesichts der prekären Sicherheitslage im gesamten Land sind nicht zu unterschätzen. Sie haben das Potenzial die Wahlen nicht nur zu beeinflussen, sondern auch zu einer Verschiebung der Wahlen zu führen - ein Szenario, das sich niemand im Land wünscht. Die Sicherheitslage und die Gefahr von Anschlägen auf Wähler, Politiker, Wahlbüros und Sicherheitsorgane ist selbst für die mit der Sicherung der Wahl mandatierten Sicherheitsorganisationen nur schwer einzuschätzen. Spricht man mit hochrangigen Vertretern, zeigt sich ein Restzweifel darüber, ob die Sicherheit der Wahlen umfassend gewährleistet werden kann.

Die nationale Wahlbehörde hat aus dem Chaos der vergangenen Wahl gelernt. Bei den Wahlen 2019 hat sie auch aufgrund schlechter Organisation und der daraus resultierenden kurzfristigen Verschiebung der Wahlen an Vertrauen in der Bevölkerung eingebüßt. Sie hat im vergangenen Jahr jedoch stark daran gearbeitet, dieses Vertrauen zurückzugewinnen. Gestützt von einem im Februar 2022 erlassenen aktualisierten Wahlgesetz, das den Einsatz technischer Hilfsmittel zur Identifikation der Wähler und Stimmenübertragung erlaubt, wurde der Wahlprozess gestärkt und die Wahlbehörde unter anderem mit einem größeren, den logistischen Herausforderungen angepassten Budget ausgestattet. Es sind damit nicht nur die größten Wahlen, die in Nigeria und auf dem afrikanischen Kontinent je durchgeführt wurden, es sind auch die teuersten in der Geschichte des Landes.  Dennoch hat die Wahlbehörde selbst mit der Knappheit im Land zu kämpfen. Der Präsident der Wahlbehörde arbeitet mit Hochdruck daran, ausreichend Fahrzeuge und angesichts der landesweiten Benzinknappheit auch genug Treibstoff zur Verteilung aller Wahlunterlagen und Durchführung der Wahl sicherzustellen. Durch sein Engagement konnte er das Ansehen der Wahlbehörde steigern. Nicht zuletzt muss er sich um die Sicherheit seiner Mitarbeiter und von Wahlhelfern sorgen: denn auch so kurz vor der Wahl sind relevante Fragen wie zum Beispiel Einsatzstärke, Versicherungen für den Fall von Schäden an Leib und Leben und finanzielle Kompensation für den Einsatz in besonders heiklen Kontexten nicht geklärt. In den vergangenen vier Jahren gab es über 50 Anschläge auf Einrichtungen der Wahlbehörde, viele davon alleine im letzten halben Jahr. Zudem zweifeln Experten an der Serversicherheit, die angesichts der technischen Neuerungen von besonderer Relevanz ist.

Wahlmanipulationen sollen insbesondere durch technische Neuerungen unterbunden werden. Bisher waren Stimmenkauf und Wahlmanipulationen ein offenes Geheimnis nigerianischer Wahlen. Zwar haben sich in ersten Testläufen bei zwei Gouverneurswahlen im vergangenen Jahr nach wie vor Mängel bei den technischen Neuerungen gezeigt. Laut Wahlbehörde sollen diese inzwischen aber behoben sein. Auch wenn sich andere Gefahren für die Fairness der Wahlen wie der Kauf von Stimmen auch dieses Mal nicht gänzlich unterbinden lassen werden, sind sich Experten einig, dass die Manipulationsmöglichkeiten durch den Einsatz neuer Technologien zumindest eingeschränkt sind.

Viele Stör- und potenzielle Gefährdungsfaktoren werden den Ausgang der Wahlen (mit)beeinflussen. Sie ganz ausschalten zu können, ist illusorisch. Wie sehr alle beteiligten staatlichen Akteure tatsächlich an einem Strang ziehen werden, wird sich an den Wahltagen zeigen. Allen Gefahren zum Trotz lässt sich festhalten, dass es auch die bestvorbereiteten Wahlen sind, die das Land je gesehen hat.

 

Bedeutung der Wahlen für Nigeria – Bedeutung Nigerias für Deutschland und Europa

Diese „Alles oder Nichts“-Wahlen, wie sie in Nigeria gerne genannt werden, haben das Potenzial mit vielen bisherigen Konventionen und Praktiken zu brechen. Gleichzeitig wird sich an den üblichen Wahlpraktiken und der nigerianischen Macht- und Elitenpolitik vorerst nicht nennenswert viel ändern. Dieser Umstand macht die Wahlen ebenso wie die Auswirkungen des Wahlergebnisses schwer vorhersehbar. Diese Parallelität ist auch für Nigerianer schwer zu fassen. Es scheint, alles ist möglich. Und so verwundert es nicht, dass auch die Wahrnehmung der Wahlen in Nigeria auseinanderfällt. Während die einen hoffnungsvoll an einen Wandel glauben, sind andere resigniert, nicht wenige politikverdrossen. Die Wahlbeteiligung wird vor diesem Hintergrund nicht nur von politischer Festlegung und der Sicherheitslage, sondern auch von der Motivation der Wähler und pragmatischen Gründen wie zum Beispiel Transportmöglichkeiten abhängen.

Lässt sich die tatsächliche Relevanz der Wahlergebnisse heute schwer einschätzen, betrifft der Zustand des Landes jedoch auch deutsche und europäische Interessen. Laut UN-Prognosen wird Nigeria 2050 mit ca. 450 Millionen Einwohnern das drittbevölkerungsreichste Land der Welt nach Indien und China sein. Alleine deswegen ist das Land von großem strategischen Interesse und ein wichtiger Partner für uns. Nigeria ist zudem ein wichtiger Stabilitätsanker in der von Militärputschen und Instabilität geprägten Region und ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen grenzüberschreitenden islamistischen Terrorismus in Westafrika. Eine Stabilisierung Nigerias würde sich auch deswegen positiv auf die gesamte Region auswirken, da Nigeria der größte und einflussreichste Mitgliedsstaat der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und damit auch in wirtschaftlicher und finanzpolitischer Hinsicht ein regionaler Riese ist. Sollte dagegen das Staatsversagen in einem der bevölkerungsreichsten Länder der Welt zunehmen, droht nicht zuletzt eine humanitäre Krise immensen Ausmaßes, die Europa mit großen Flucht- und Migrationsströmen konfrontieren würde. Hiervor wird vereinzelt bereits heute gewarnt. Außerdem ist Nigeria Deutschlands zweitwichtigster Handelspartner und größter Absatzmarkt in Subsahara-Afrika.

Das Ergebnis der Wahlen wird mit Spannung erwartet; viel steht auf dem Spiel. Entsprechend werden sie hart umkämpft sein. Ob es sich um historische Wahlen handelt, wird sich in Kürze zeigen.

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Kontakt

Marija Peran

Portrait Studio24, Abuja

Leiterin des Auslandsbüros Nigeria

marija.peran@kas.de +234 (0) 908 838 8850

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Über diese Reihe

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