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„Wir lebten in ständiger Angst“

Pestalozzi-Schüler treffen die Holocaust-Überlebende Myriam Kesler.

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Die zierliche Frau will sich zunächst zu den Schülern auf den Boden setzen, als sie das Auditorium betritt. „Wenn ihr mir am Ende helft, aufzustehen, dann komme ich gerne zu euch“, sagt Myriam Kesler. Sie nimmt dann doch aufs eigene Alter Rücksicht, und so sitzt die 84-Jährige auf einem Stuhl, als sie beginnt, den Elftklässlern der Pestalozzi-Schule in Buenos Aires ihre Geschichte zu erzählen.

Myriam Kesler hat den Holocaust überlebt. Sie ist eine Zeitzeugin des Massenmords an den europäischen Juden. Bald schon wird es das nicht mehr geben: dass Menschen einander von diesem Verbrechen direkt erzählen, Geschichte und Geschichten aus erster Hand. Die Überlebenden sind selbst alt geworden oder schon gestorben.

Myriam Kesler kam mit 20 Jahren nach Argentinien. Bis heute fühle sie sich wohl im Land, in dem ihr so viel „Cariño“ – Zuneigung – nach den dunkeln Jahren entgegengebracht wurde, sagt sie. Doch um die nächsten 64 Jahre geht es an diesem Tag nur am Rande. Auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung Argentinien e.V., der Pestalozzi-Schule und von Lidia Assorati, einer früheren Mitarbeiterin der Wallenberg-Stiftung, erzählt Myriam Kesler vom Leben vor Argentinien.

Myriam Kesler wird in Belgien geboren, als einzige Tochter polnisch stämmiger Juden, es ist 1929, auch Anne Frank kommt in diesem Jahr auf die Welt. An den Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 erinnere sie sich noch genau. „Mein Vater sagte zu mir, dass es nun soweit sei. Was wir befürchteten, ist eingetreten. Ich hatte mich im Bett versteckt und gehofft, dass es schnell wieder vorüber ist.“

Doch es ist nicht vorbei, noch lange nicht, es fängt alles erst an. Die Eltern müssen mit der neunjährigen Tochter fliehen, und mitnehmen dürfen sie nur das Allerwichtigste. Das alte Leben muss in einen Koffer passen. „Von einem auf den nächsten Tag waren wir gezwungen, unsere Heimat zu verlassen, unser Haus zurückzulassen.“

Die Flucht endet – vorerst – in der französischen Stadt Lille, wo die Familie von einer Pfarrgemeinde aufgenommen wird. Doch die Bilder von unterwegs wird Myriam Kesler nie wieder vergessen: „Ich sah Menschen auf Eseln und Fahrrädern. Alle versuchten sie dem Krieg zu entkommen.“

Doch weil die Deutschen Frankreich erobern und schon bald den Norden des Landes besetzt haben, muss sich die Familie schon wieder retten – diesmal über die Bretagne bis nach Limoges. Dort trennt man sich. Der Vater meldet sich freiwillig als Soldat der polnischen Armee. Lange ist alles ungewiss, und die Nachrichten vom Krieg, der längst die halbe Welt erfasst hat, werden auch nicht besser. Irgendwann meldet der Ehemann und Papa seinen beiden Frauen: Ich lebe. Ich kehre zurück. „Die Freude war unbeschreiblich.“ Aber der Krieg ist noch nicht vorbei, und Europas Juden werden weiter gejagt, deportiert und ermordet.

Manche Bilder haben sich in Myriam Keslers Gedächtnis gebrannt. So zum Beispiel die Begegnung mit einem Beamten 1942. Myriam, zwölf Jahre alt, soll sich mit ihren Papieren im Bürgermeisteramt melden. „Der Beamte sagte mir, er würde mir eine schöne rote Blume malen. Ich war begeistert, denn ich liebte es zu zeichnen. Er tunkte die Feder in die rote Farbe und zeichnete einen großen Judenstern auf meinen Pass. Von da an, war ich gekennzeichnet.“

Das Leben im Ungewissen und die Angst, jeden Tag in einen Zug gesetzt zu werden, der zu den Vernichtungslagern im Osten fährt, prägt ihre Jugend. Oft wird ihr gesagt, dass die SS sie in der kommenden Nacht holen werde. „Wir lebten in ständiger Angst“, erzählt die Zeitzeugin ihren Zuhörern. Ihr Vater verschwindet, er sagt ihr nur, dass sie ihn morgen mitnehmen würden. Er wisse nicht wohin, doch eins sei ihm klar: Er werde nicht zurückkommen. Doch zwischen all dem Bösen sieht sie auch das Gute. Myriam Kesler erzählt den Schülern von Hilfsbereitschaft, die besonders mutig ist in diesen Jahren, von Frauen und Männer, die die beiden jüdischen Frauen in ihr Haus aufnehmen, ihnen zu Essen geben, sie verstecken und mitfühlen. Sie werde das nie vergessen, sagt sie.

Und die Schüler der Pestalozzi-Schule hören ihr zu, auch, weil das Erzählte so konkret ist, dass es zu Bildern im Kopf und zu Gefühlen wird – etwa der Schmerz, der vom Hunger kommt. Sie fragen immer wieder nach, wissend oder wenigstens spürend, dass dies ein kostbarer Augenblick ist, ein Einzelschicksal zu verstehen, das Teil einer großen bitteren Geschichte ist. Und dann fügt Miriam Kesler hinzu, plötzlich in der Gegenwart: „Auch heute gibt es noch Menschen, die nichts zu essen haben.“

Ihren Zuhörern gibt sie am Ende etwas mit auf den Weg durchs Leben: dass es nicht auf die Herkunft, auf die Religion oder Hautfarbe ankommt. „Wir entscheiden nicht, ob wir als Christen oder als Juden geboren werden“, sagt sie und fügt hinzu: Die Jugend sei ein Abschnitt, in dem man besonders viel lerne.

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