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Michael Nolan, robertharding, picture alliance.

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Vom Niemandsland ­ zum Kontinent des 21. Jahrhunderts?

von Inga von der Stein

Zur Zukunft der Antarktis

Weit entfernt und fast unbewohnt, aber zunehmend bedeutend in der internationalen Politik: Die Antarktis ist im Kampf gegen den Klimawandel ein unabdingbarer Baustein. Zudem hat das bisherige „Niemandsland“ aufgrund der vermuteten Rohstoff­vorkommen das Potenzial, sich mittel- und langfristig zu einer geopolitischen Arena zu entwickeln. Deutschland und Europa sollten sich stärker für Stabilität und Nachhaltigkeit ­in der Region einsetzen.

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Im Oktober 2022 erreichte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auch die Antarktis. Beim jährlichen Treffen der Antarktiskommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze forderte die ukrainische Delegation, Russland aus dem Gremium auszuschließen. Diese Forderung blieb erfolglos. Bedeutender war allerdings, dass auch das Hauptanliegen des Treffens – die Einrichtung von Meeresschutzzonen – scheiterte. Solche Gebiete sollten deklariert werden, um die einzigartige Artenvielfalt zu schützen. Über das Abkommen waren sich zwar 25 der 27 Vertragsparteien einig. Wegen des Einstimmigkeitsprinzips und der Vetos von China und Russland scheiterte das Vorhaben jedoch, wie schon bei den fünf vorherigen Treffen. Chinas Interessen liegen in der Aufrechterhaltung der Fischerei in der Antarktis und dem etwaigen zukünftigen Rohstoffabbau. Russland sieht die Antarktis hingegen primär als einen Zusatzschauplatz der geopolitischen Arena und beabsichtigt, den eigenen Handlungsspielraum so groß wie möglich zu halten.

 

Der Blick der EU auf die Pole

Während die Antarktis bislang wenig Aufmerksamkeit erhält, ist die strategische Bedeutung ihres nördlichen Gegenpols, der Arktis, in der deutschen und europäischen Politik angekommen. Die Europäische Kommission stellte 2021 ihre neue EU-Arktisstrategie vor. In dieser betont sie zum ersten Mal die „geopolitische Notwendigkeit“ eines Engagements der EU in der Arktis. Der neue Zweiklang des Einsatzes der EU in der Arktis bestehe fortan aus den Bereichen Nachhaltigkeit und Sicherheit. Die militärischen Aktivitäten Russlands in der Arktis sowie die Interessen Chinas im Bereich der Polaren Seidenstraße, wie der Ausbau kritischer Infrastruktur und der Rohstoffabbau in der Arktis, werden explizit genannt. Die Werkzeuge der EU: die Einrichtung eines EU-Büros in Grönland, die Bereitstellung von EU-Mitteln für die Förderung des grünen Wandels sowie der Einsatz für multilaterales Handeln im Arktischen Rat.

Für die Antarktis gibt es keine solche Mitteilung, keine Strategie, kaum EU-Mittel. Im Strategischen Kompass der EU von 2022 wird die Antarktis nicht einmal erwähnt. Die EU betrachtet die Antarktis vor allem unter dem Gesichtspunkt Klima. Das eher punktuelle als breite Engagement ist unter anderem der Geografie geschuldet: Während zwischen Brüssel und der Arktis eine Distanz von gut 4.900 Kilometern liegt, ist die Antarktis fast dreimal so weit entfernt. Im Gegensatz zur Arktis besteht die Antarktis nicht nur aus Eis, sondern aus Landmasse, die von Eis bedeckt ist: Es handelt sich um den südlichsten Kontinent der Welt. Gemeinsam haben die Pole, dass sie von den Auswirkungen des Klimawandels besonders stark betroffen sind. Des Weiteren wird spekuliert, dass beide Polregionen Rohstoffe beherbergen, welche durch das Schmelzen des Eises zugänglicher werden könnten.

 

Abb. 1: Existierende und vorgeschlagene Meeresschutzzonen (MPAs) in der Antarktis

https://www.kas.de/documents/259121/23882571/stein_abb_1_DE.svg/8373b149-a17a-cd63-a181-043549366d55?t=1682057502891

Bestehende MPAs unter der CCAMLR Bestehende MPAs, die erweitert oder zusätzlich geschützt werden müssen MPA-Vorschläge oder Entwürfe von Szenarien, die von der CCAMLR verhandelt werden. Quelle: eigene Darstellung nach Kavanagh, Andrea 2017: A Network of Marine Protected Areas in the Southern Ocean, The Pew Charitable Trusts, 25.04.2017, in: https://bit.ly/3HExyAb [16 Feb 2023]. Karte: © Peter Hermes Furian, AdobeStock.

 

Der Antarktisvertrag als ewiger Friedensgarant?

Der sechste Kontinent ist bis heute ein Beispiel für Frieden – auch dank des Antarktisvertrags aus dem Jahr 1959. Dieser gilt als erster Rüstungskontrollvertrag aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwölf Staaten einigten sich darauf, ihre Gebietsansprüche ruhen zu lassen und sowohl die wirtschaftliche Ausbeutung als auch militärische Aktivitäten zu unterlassen. Heute sind insgesamt 56 Vertragsstaaten Teil des Abkommens, davon 20 EU-Mitgliedstaaten. Nicht alle Signatarstaaten sind bei den Konsultativtagungen stimmberechtigt. Dazu muss ein Staat eine Forschungsstation in der Antarktis errichten oder eine wissenschaftliche Expedition entsenden. Die Ergebnisse der Forschungen sollen der Allgemeinheit dienen. Zusätzlich hält der Antarktisvertrag fest, dass die Konsultativstaaten dazu berechtigt sind, Inspektionen aller Gebiete der Antarktis durchzuführen. Alle Entscheidungen werden nach dem Einstimmigkeitsprinzip getroffen. Derzeit haben 29 Staaten den Konsultativstatus inne, davon sind elf EU-Mitgliedstaaten. Deutschland ist seit 1981 Konsultativstaat.

Der Antarktisvertrag kann nur einstimmig geändert werden.

Der Antarktisvertrag von 1959 war nur der Beginn: Im Laufe der Jahre kamen fünf Folgeverträge hinzu. Hervorzuheben ist das Übereinkommen zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis aus dem Jahr 1980. Aus dem Übereinkommen ging die Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (Commission for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, CCAMLR) hervor. Diese Kommission hat 26 Vollmitglieder, darunter die EU sowie acht EU-Mitgliedstaaten. Sowohl die EU als auch die acht EU-Mitgliedstaaten sind stimmberechtigt. Ziel der CCAMLR ist die Einrichtung von Zonen zum Schutz des maritimen Lebens (Marine Protected Areas, MPA). Sie ist derzeit das relevanteste Gremium des Antarktisvertragssystems. Von großer Bedeutung ist außerdem das Umweltschutzprotokoll, auch Madrid-Protokoll genannt, aus dem Jahr 1991. Dieses spezifiziert die Umweltauflagen und verbietet explizit den kommerziellen Abbau von Rohstoffen. Das Protokoll gilt als eines der umfangreichsten Umweltschutzsysteme auf globaler Ebene.

 

Schwächen des Antarktisvertragssystems

Doch so sicher, wie es scheint, ist das Antarktisvertragssystem nicht. Der Antarktisvertrag, der militärische Aktivitäten untersagt, gilt als das sicherste Element des Vertragssystems. Er kann zwar geändert werden, es ist allerdings Einstimmigkeit erforderlich, was eine große Barriere darstellt. Bisher wurden keine Änderungen des Vertrags vorgenommen. Solche würden dem Öffnen der Büchse der Pandora gleichen, warnt María Teresa Kralikas, Unterstaatssekretärin für die Malwinen, Antarktis und Südatlantik im argentinischen Außenministerium von 2016 bis 2019. Zudem könnten Änderungen Staaten einen Vorwand geben, aus dem Vertrag auszutreten. Dadurch würde der Antarktisvertrag brüchig und letztlich obsolet.

Die Antarktis enthält 70 Prozent der globalen Süßwasserreserven.

Das Meeresschutzübereinkommen hat ein größeres Handicap: Die eingerichteten Meeresschutzzonen gelten nicht auf unbestimmte Zeit. Das Meeresschutzgebiet im Rossmeer gilt zunächst bis 2052. Wird kein Konsens zur Bestätigung oder Änderung der Schutzzone erzielt, läuft diese aus. Die Errichtung neuer Meeresschutzzonen erfordert Einstimmigkeit. China und Russland nutzen dies und blockieren die Errichtung von Meeresschutzgebieten kontinuierlich. Um die beiden Länder zum Einlenken zu bringen und so Einstimmigkeit zu erreichen, werden die vorgeschlagenen Laufzeiten der Meeresschutzzonen immer weiter verkürzt. Ob diese Meeresschutzzonen dauerhaft Bestand und den gewünschten Effekt haben, ist daher fraglich.

Ein weiteres Schlupfloch im Antarktisvertragssystem bietet das Umweltprotokoll, das den Rohstoffabbau verbietet. Dieses kann 50 Jahre nach Inkrafttreten 1998 durch den Antrag eines Vertragsstaates überprüft werden, also im Jahr 2048. Notwendig für die Annahme einer Änderung oder einer Ergänzung ist die Zustimmung der Mehrheit der Vertragsstaaten wie auch von drei Vierteln der Konsultativstaaten des Antarktisvertrags. Im Gegensatz zu fast allen Entscheidungen im Antarktisvertragssystem gilt hier also kein Einstimmigkeitsprinzip. Vertragsänderungen könnten den Vertragsparteien einen Vorwand geben, um von dem Protokoll zurückzutreten und womöglich mit dem Abbau von Rohstoffen zu beginnen.

 

Die Zukunft der Antarktis als Kontinent des 21. Jahrhunderts

 

Klimawandel

Der Klimawandel rückt die Antarktis stärker in den internationalen Fokus: Einerseits haben die Eisschmelze und der damit verbundene Meeresspiegelanstieg Auswirkungen globalen Ausmaßes. Andererseits wird spekuliert, dass bisher unter dem Eis befindliche Rohstoffe zugänglich werden könnten. Im UN-Weltklimareport 2022 heißt es, dass die Polarregionen überdurchschnittlich von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind und sich bis 2050 grundlegend verändern werden. Vieles liegt allerdings noch im Dunkeln: wie schnell das Eis schmilzt, welche weltweiten Auswirkungen die Eisschmelze hat und wie sich das Schmelzen des Antarktiseises, welches 70 Prozent der globalen Süßwasserreserven ausmacht, auf die Meeresströmungen auswirkt. Eine umso wichtigere Rolle spielt die Klimaforschung, welche in der Antarktis betrieben wird.

Schon jetzt ist die Vielfalt der mehr als 8.000 Tierarten in der Antarktis bedroht. Besondere Bedeutung kommt dem Krill zu: Ohne ihn wäre das gesamte antarktische Ökosystem in Gefahr. In den vergangenen 40 Jahren ist der Krillbestand um 70 bis 80 Prozent zurückgegangen. Dies liegt zum einen an dem Meereisverlust, der zu einer Versauerung des Ozeans führt. Anderseits führt die Überfischung in der Antarktis zu einem Schrumpfen der Fischbestände. Von den geschätzt 300 bis 500 Millionen Tonnen Krill in der Antarktis werden pro Jahr rund 100.000 Tonnen gefischt. Dies entspricht zwar nur einem sehr geringen Teil des Gesamtbestands, die Bedeutung des Krillfangs wächst jedoch: Die Ressource wird in Nahrungsmitteln und auch zunehmend in Medizin- und Kosmetikprodukten genutzt. Daher ist es wahrscheinlich, dass sich der Krillfang bis 2050 verdoppeln wird.

Über Art, Menge und Qualität der Bodenschätze gibt es bisher nur Vermutungen.

China und Norwegen fischen die größten Krillmengen. Um die Überfischung zu stoppen, wurden in den vergangenen Jahren verschiedene Meeresschutzgebiete eingerichtet. Doch die gegenwärtigen Verhandlungen über Erweiterungen und neue Schutzzonen scheitern wie oben beschrieben an Russland und China. Es ist außerdem schwer, die Meeresschutzzonen zu überwachen, da diese Gebiete von riesigem Ausmaß sind und außerhalb nationaler Hoheitsgewässer liegen.

 

Rohstoffe

Die Eisschmelze weckt aufgrund der vermuteten Rohstoffe neue Begehrlichkeiten. Die Antarktis werde wegen ihrer Ressourcen der Kontinent des 21. Jahrhunderts, sagt Mario Baizán, Berater des Kabinettschefs des argentinischen Sicherheitsministeriums von 2015 bis 2019. Dem wirtschaftlich gebeutelten Argentinien spielt das Interesse in die Hände, so ist die argentinische Stadt Ushuaia bei weitem die meist genutzte der fünf antarktischen „Gateway“-Städte. Über die Arten der Bodenschätze, wie auch ihre Qualität und Quantität, gibt es allerdings statt gesicherter Berechnungen bisher nur Vermutungen. Grund ist zum einen die Vereisung des Kontinents und zum anderen das Verbot des Rohstoffabbaus durch das Umweltprotokoll. Es ist davon auszugehen, dass die Vertragsparteien Erkenntnisse größtenteils für sich behalten. Bekannt ist bisher, dass es in der Antarktis Kohlelagerstätten und Eisenerzvorkommen gibt. Vermutet werden Metalle wie Nickel, Kupfer und Platin wie auch Erdöl- und Erdgasvorkommen. Neben den rechtlichen Hürden wäre die Förderung derzeit zudem wirtschaftlich nicht rentabel. Im Hinblick auf die Rohstoffvorkommen stößt die Arktis bislang auf ein größeres Interesse, da das Eis der Arktis schneller schmilzt als das der Antarktis. Doch auch das Eis der Antarktis bleibt nicht verschont von den steigenden Temperaturen – und dessen sind sich alle Akteure bewusst.

 

Ruhende Gebietsansprüche

Das Interesse an den vermuteten Rohstoffen bringt die Frage zurück auf die Agenda: Welcher Entität gehören die Rohstoffe eigentlich? Sieben Staaten hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gebietsansprüche, begründet durch Erforschungen der reklamierten Flächen oder geografische Nähe, erhoben: Argentinien, Australien, Chile, Frankreich, Neuseeland, Norwegen und das Vereinigte Königreich (siehe Abbildung 2). Der Antarktisvertrag hat diese Gebietsansprüche eingefroren, aber nicht eliminiert. Sollte der Vertrag in Zukunft nicht mehr gelten, ist vorstellbar, dass die Staaten mit Gebietsansprüchen auf diesen beharren oder diese gar ausweiten und andere Staaten ebenfalls Ansprüche erheben. Die Gebietsansprüche von Argentinien, Chile und Großbritannien etwa überlappen sich teilweise. Russland und die USA wiederum erkannten die Gebietsansprüche in der Vergangenheit nicht an und behielten sich eigene vor. Darüber hinaus könnte es zu Unstimmigkeiten im Hinblick auf die Ausschließlichen Wirtschaftszonen kommen, das heißt das Meeresgebiet bis zu 200 Seemeilen vor der Küste. Infrage stehen exklusive Rechte für Fischerei und an Bodenschätzen. Die ruhenden Gebietsansprüche bergen daher Konfliktpotenzial.

 

Geopolitik am Südpol

Ähnlich wie die Arktis gerät auch die Antarktis zunehmend in den Fokus der weltpolitischen Akteure des 21. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum Arktischen Rat ist die Antarktis kein geschlossener Club: Jeder Staat, der eine Forschungsstation auf der Antarktis betreibt, bekommt ein Stimmrecht im Antarktisrat. Dies ermöglicht eine breitere Teilnahme. Die drei Akteure, die aufgrund ihres Engagements in der Antarktis herausstechen, sind die USA, China und Russland. Die USA sind zum einen Spitzenreiter, was die Qualität der Forschung in der Antarktis betrifft, zum anderen befinden sich permanent über 1.200 US-Staatsbürger für Forschungszwecke in der Antarktis – so viele wie aus keinem anderen Land.

Im Vergleich zur Arktis hat China in der Antarktis einen größeren Handlungsspielraum auf institutioneller Ebene.

Russland versteht die Antarktis primär als einen Raum des geopolitischen Wettbewerbs, verfügt jedoch nicht über ausreichend wirtschaftliche Mittel, um so präsent zu sein, wie es die Sowjetunion während des Kalten Krieges war. Russland wird vorgeworfen, sich nicht an die Regeln des Antarktisvertragssystems zu halten. Beispiele sind mutmaßliche russische Aktivitäten mit Technologien doppelten Verwendungszwecks, wie etwa Satelliten. Hier besteht der Verdacht, dass Russland diese nicht nur aus zivilen Forschungsgründen, sondern auch für militärische und nachrichtendienstliche Zwecke nutzen könnte. Dies würde gegen das Verbot militärischer Aktivitäten verstoßen. Darüber hinaus verletzte ein russisches Schiff 2020 das Fischereiverbot in einer Meeresschutzzone. Wie einige der chinesischen Forschungsstationen wurden auch russische Stationen zum Teil seit mehr als zehn Jahren nicht inspiziert. Dies birgt die Gefahr, dass die internationale Gemeinschaft über die russischen Aktivitäten nicht im Bilde ist. Im Hinblick auf die Zukunft der Antarktis ist davon auszugehen, dass Russland weiterhin mit China an einem Strang zieht, um den eigenen Handelsspielraum nicht einzuschränken. Denkbar ist, dass Russland gemeinsam mit China eine Veränderung des Umweltprotokolls im Jahr 2048 anstreben könnte, um die Möglichkeit zu eröffnen, langfristig in der Antarktis Rohstoffe abzubauen.

China ist seit 1985 Konsultativpartei des Antarktisvertrags ohne Gebietsanspruch. In den vergangenen zehn Jahren stieg die chinesische Präsenz stark. Klimaforschung allein kann dieses Engagement nicht erklären, was zu dem Schluss führt, dass China weitere Interessen in der Antarktis verfolgt, wie militärische Forschung und die Erforschung der Rohstoffvorkommen. Im Unterschied zur Arktis hat China in der Antarktis einen größeren Handlungsspielraum. Im Arktischen Rat obliegt das Entscheidungsrecht nur acht Staaten. Somit ist der chinesische Einfluss in der Arktis auf institutioneller Ebene begrenzt. Die institutionelle Struktur in der Antarktis, die jedem Staat ein Mitspracherecht für wissenschaftliche Forschung verleiht, ist für China höchst attraktiv. Strategisch spielt es der Volksrepublik in die Karten, dass die Antarktis bisher nahezu ein Niemandsland ist.

Um sich als Akteur ins Spiel zu bringen, verfügt das Land über vier Forschungsstationen, eine fünfte ist gegenwärtig im Bau. Darüber hinaus plant China den Bau eines Flughafens nahe der Forschungsstation Zhongsan. Ein Großteil der chinesischen Aktivitäten findet im ostantarktischen Sektor statt, in dem auch die meisten Forschungsstationen liegen. Dieses Gebiet ist strategisch relevant, da viele Ressourcen wie Eisenerz vermutet werden. Auffällig ist, dass die chinesischen Stationen eine Art Korridor vom Südpol bis zur Küste der Ostantarktis bilden. María Teresa Kralikas schätzt, dass China mittel- bis langfristig durch die strategische Positionierung der Stationen einen Gebietsanspruch geltend machen möchte. Die Volksrepublik wird immer wieder für mangelnde Transparenz bei der Berichterstattung über ihre antarktischen Aktivitäten kritisiert. So verschleiert das Land etwa den Einsatz seines Militärs für vermeintlich wissenschaftliche Projekte und verletzt mutmaßlich internationales Recht. Die Forschungsstation Kunlun wurde noch nie inspiziert. Diese wird laut Selbstauskunft sowohl für Weltraumforschung als auch Tiefenbohrungen genutzt. Das Land nutzt zudem viele Satelliten, die neben zivilen Zwecken potenziell auch für das Militär von großem Nutzen sein können.

Ökonomisch ist die Antarktis für China wegen des Krillfangs und der vermuteten mineralischen Rohstoffe lukrativ. Das chinesische Polarinstitut hält den chinesischen Zugang zu diesen Ressourcen für die ökonomische Entwicklung und den Fortbestand der Volksrepublik für unerlässlich. Beim Aufbau der notwendigen Infrastruktur profitiert China von den guten Beziehungen, die es mit Argentinien pflegt. Argentinien ist seit Anfang 2022 Teil der „Neuen Seidenstraße“. China zeigt sich interessiert an Investitionen in der Hafenstadt Ushuaia. Die Volksrepublik benötigt solche Städte als logistisches Eintrittstor, um ihre Ambitionen in der Antarktis umzusetzen. Mehrere Medien berichteten im Januar 2023, dass China gar einen eigenen Hafen in Feuerland bauen wolle. Insgesamt ist die Antarktis für China ein wichtiger Baustein im Streben zur Weltmacht bis 2049.

Zur Positionierung Chinas in der Antarktis ist folgendes Szenario wahrscheinlich: Aufgrund des Interesses am Krillfang dürfte die Volksrepublik die Arbeit der Antarktiskommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze weiterhin torpedieren. Die Errichtung von neuen Meeresschutzzonen dürfte China verhindern oder ausschließlich Meeresschutzzonen mit einer geringen Laufzeit zustimmen. Derzeit hat das Land kein Interesse, den Antarktisvertrag grundlegend zu verändern, da die Volksrepublik selbst vom Status quo profitiert und so den Einfluss im Südpolarmeer weiter ausbauen kann. Es ist jedoch denkbar, dass China 2048 eine Änderung des Umweltprotokolls anstreben wird, um sich die Möglichkeit zu eröffnen, legal Rohstoffe abzubauen. Sollte China mit dem Abbau von Rohstoffen beginnen, könnte dies eine Kettenreaktion auslösen: Die eingefrorenen Gebietsansprüche würden wieder zum Vorschein kommen, das Antarktisvertragssystem wäre in Gefahr und könnte im schlimmsten Fall kollabieren. Die Volksrepublik selbst hat keine Gebietsansprüche, die chinesischen Forschungsstationen liegen allerdings auf einem Gebiet mit ruhenden australischen Gebietsansprüchen, was zu einem Konflikt führen könnte.

China wirbt bereits aktiv um Ushuaia als Eintrittstor in die Antarktis.

 

Es ist Zeit zu handeln: Stärkerer Fokus Deutschlands und der EU auf die Antarktis

Trotz der geografischen Entfernung sollte der sechste Kontinent auch in den politischen Erwägungen der EU eine Rolle spielen. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf China liegen. Ansatzpunkt könnte die neue EU-Arktisstrategie sein. Viele der Herausforderungen in der Arktis und Antarktis weisen Gemeinsamkeiten auf: so etwa der Klimawandel, die durch die Eisschmelze zugänglichen Rohstoffe und das Interesse auch auswärtiger Mächte an diesen. Es bedarf einer ganzheitlichen „EU-Polarstrategie“ für Arktis und Antarktis. Diese würde einerseits den EU-Mitgliedstaaten, welche Parteien im Antarktisvertragssystem sind, eine pragmatische Richtschnur für ihr Handeln geben. Andererseits könnte die EU ihren Einfluss als normative Macht ausbauen und so bei den Antarktisvertragsstaaten für Nachhaltigkeit und Stabilität werben. Die Antarktis sollte über die Generaldirektion Maritime Angelegenheiten und Fischerei der Europäischen Kommission auch im Europäischen Auswärtigen Dienst stärker thematisiert werden. Die eingerichtete Stelle für den Sondergesandten für die Arktis könnte auch das Thema Antarktis in das Portfolio aufnehmen. Daneben sollten auch die Generaldirektionen Klima und Handel eingebunden werden. Auch bei der deutschen Chinastrategie, die derzeit ausgearbeitet wird, sollte die Antarktis nicht außer Acht gelassen werden. Es gilt, Chinas Ambitionen global zu betrachten und sich dabei mit den USA und weiteren demokratischen Partnern zu koordinieren.

 

Abb. 2: Gebietsansprüche (ruhend) und Forschungseinrichtungen in der Antarktis

https://www.kas.de/documents/259121/23882571/stein_abb_2_DE.svg/393fa55b-b3af-63b5-e936-c3c8a379259e?t=1682057544739

Forschungseinrichtungen von Russland China USA Saisonal betriebene Forschungseinrichtungen. Weitere ganzjährig betriebene Forschungsstationen. Quellen: eigene Darstellung nach Polar-Journal 2000: Gebietsansprüche in der Antarktis, 01.01.2000, in: https://bit.ly/3VVwFHZ [16 Feb 2023]; Boulègue, Mathieu 2022: The militarization of Russian polar politics, Research Paper, Chatham House, 06.06.2022, in: https://bit.ly/3Ym0JOi [16.02.2023]; The University of Texas at Austin 2009: Polar Regions and Oceans Maps. Antarctic Region (Political) 2009, 803412AI (R02207) 6-09, CIA, in: https://bit.ly/41wLXpu [27 Feb 2023]. Karte: © Peter Hermes Furian, AdobeStock.

 

Als Teil des Antarktisvertragssystems sollten sich die EU und die EU-Mitgliedstaaten weiterhin für den Klimaschutz und den Erhalt der Artenvielfalt in der Antarktis einsetzen. Dazu gehört das Werben für die Errichtung von Meeresschutzgebieten in der Antarktiskommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze. Doch dies reicht nicht, wie die Vetos von Russland und China 2022 zum sechsten Mal in Folge illustriert haben. Es ist deshalb erforderlich, dass die Meeresschutzgebiete auf einer höheren politischen Ebene diskutiert und auch bei bilateralen Treffen deutscher und europäischer Spitzenpolitiker mit chinesischen und russischen Ansprechpartnern auf die Agenda gesetzt werden. Der Kampf gegen den Klimawandel ist von globalem Interesse und erfordert Zusammenarbeit sowohl mit Partnern als auch mit Wettbewerbern und systemischen Rivalen.

Dass das Engagement der EU in der Antarktis ausbaufähig ist, ist zum Teil auf rechtliche Faktoren zurückzuführen, da der Antarktisvertrag und sein Protokoll den Beitritt auf Staaten beschränkt. Unter den Vertragsparteien befinden sich jedoch elf EU-Mitgliedstaaten. Statt die Infrastruktur nationaler Forschungsstationen zu finanzieren, sollte es weitere gemeinsame Projekte geben – ein Beispiel ist etwa die gemeinsame Forschungsstation Concordia von Frankreich und Italien. Ein weiteres positives Beispiel ist die geplante internationale Mission des Alfred-Wegener-Instituts. Darüber hinaus sollte die Europäische Union Mittel zur Verfügung stellen, etwa im Rahmen des wissenschaftlichen Forschungsrahmenprogramms Horizon Europe, um sowohl die Koordination der Forschung von EU-Mitgliedern zu verbessern als auch Nicht-EU-Staaten finanziell zu unterstützen. Das wirtschaftlich krisengeschüttelte Argentinien verfügt beispielsweise über viele Forschungsstationen, größtenteils allerdings von geringer Qualität. Die EU könnte Argentinien bei der Modernisierung dieser Basen unterstützen oder etwa eine EU-Conosur-Forschungsstation mithilfe der Vertragsparteien errichten. Außerdem benötigt auch der argentinische Hafen von Ushuaia Investitionen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis andere Staaten diese Finanzierungslücke füllen und Argentinien nicht nur finanziell an sich binden. China wirbt bereits aktiv um das Eintrittstor in die Antarktis. Hier können beispielsweise die Global-Gateway-Initiative der EU oder die Partnership for Global Infrastructure and Investment der G7 zentrale Alternativen zu chinesischen Investitionen und der Seidenstraßen-Initiative sein.

Darüber hinaus sollten die Werkzeuge des Antarktisvertrags besser genutzt werden. Bei Inspektionen müssen europäische Staaten gemeinsam planen und gezielt russische und chinesische Stationen überprüfen, um Verletzungen des Antarktisvertrags aufzudecken. Auch Unterstützer einer regelbasierten multilateralen Ordnung wie Australien, Argentinien, Südafrika und Chile sollten einbezogen werden.

Die Zeit des friedensstiftenden Antarktisvertragssystems könnte ablaufen. Deutschland und Europa sollten darauf vorbereitet sein und die Antarktis als Gemeingut der Weltgemeinschaft und Symbol von Stabilität und Nachhaltigkeit erhalten.

 


 

Inga von der Stein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Auslandsbüro Argentinien der Konrad-Adenauer-Stiftung.


 

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