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Länderberichte

Rückblick auf ein Jahrzehnt der Armutsbekämpfung

von Dr. Helmut Reifeld

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Der jüngste Jahreswechsel gab den Medien weltweit reichlich Anlaß, für viele aktuelle Probleme Zwischenbilanz zu ziehen. Eines der Hauptthemen in Indien bildete die Armutsbekämpfung, die in der Berichterstattung einen exponierten Platz einnahm. Im Rückblick auf die neunziger Jahre muß Indien zu den Staaten gezählt werden, die zur Verstärkung bestimmter weltweiter Negativtrends beigetragen haben. Dies gilt zum Beispiel für die Feststellung des jüngsten Human Development Reports des UNDP, derzufolge der Einkommensunterschied zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel der Menschheit 1960 noch 30:1 betrug und sich bis1990 auf 60:1 verdoppelt hatte. Heute liegt er bereits bei 74:1 (The Asian Age, 14. Jan. 2000), und dies ist zu einem großen Teil auf die Entwicklung in Indien zurückzuführen.

Das rasche Wirtschaftswachstum, das Indien in den neunziger Jahren zu verzeichnen hatte, blieb ohne Auswirkungen auf jene jetzt offiziell 37% der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Ja, im Vergleich zu den achtziger Jahren hat sich sogar der Trend weiter verschlechtert. Nie zuvor in der indischen Geschichte waren die politischen Debatten so sehr beherrscht von der Öffnung der Märkte, dem Abbau des Haushaltsdefizits und der Subventionen sowie der Integration Indiens in die Weltwirtschaft wie in den neunziger Jahren. Gleichzeitig spricht jedoch die angesehene Tageszeitung: "The Hindu" (8. Januar 2000) von einer verlorenen Dekade ("a lost decade") für die Armutsentwicklung.

Die Hauptursache für diese Entwicklung ist darin zu sehen, daß der Wirtschaftsaufschwung ausschließlich den urbanen Zentren zugute kam, während er für die ländliche Bevölkerung, die immerhin noch 70% ausmacht, eher negative Auswirkungen hatte.

Fast alle Berichte konstatieren, daß in Indien in den neunziger Jahren von dem gestiegenen Wohlstand einer kleinen Oberschicht kaum etwas nach unten durchgesickert ("trickle down") ist. Zwar hat die Zahl derjenigen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, in den Metropolen, wo sich fast der gesamte Reichtum konzentriert, um 1,3% abgenommen; auf dem Lande jedoch, wo die Schere zwischen stagnierenden Löhnen und steigenden Lebenshaltungskosten weiter auseinander geht, ist die Zunahme unvergleichlich größer.

Der "National Sample Survey" weist darauf hin, daß die Wachstumsraten vor allem im Bereich der verarbeitenden und der Dienstleistungsindustrie, also in den Städten zu finden sind, während die Zahlen für den Agrarbereich nahezu stagnieren. Verschärfend kommt hinzu, daß prosperierende Industriezweige primär in den weniger stark bevölkerten Bundesstaaten angesiedelt sind, nicht aber in den überbevölkerten. Ferner wird konstatiert, daß die finanz- und handelspolitische Gesetzgebung der neunziger Jahre ohne Auswirkungen auf die Armutsbekämpfung geblieben ist, daß die Entwicklungsmöglichkeiten im Agrarsektor vernachlässigt worden sind und daß die Wachstumsraten nicht nur dazu geführt haben, die Kluft zwischen Stadt und Land zu vertiefen, sondern auch zu einer Reihe neuer sozialer Spannungen beigetragen haben.

Ein besonderes Problem bildet die fehlende bzw. unzureichende Infrastruktur. Noch immer leben 100 Millionen Familien in Indien ohne Wasseranschluß, 60% der Familien ohne Elektrizität und 40% der Dörfer sind ohne Verkehrsanbindung. Wirtschaftswissenschaftler beziffern den Verlust, der der Volkswirtschaft jährlich allein aufgrund der defizitären Infrastruktur entsteht, auf umgerechnet 20 Mrd. DM. Dennoch sind die staatlichen Investitionen in die Infrastruktur des Landes zwischen 1991 und 1998 von 4% des jährlichen BIP auf 3% zurückgegangen. Die Wochenzeitschrift "India Today" 831. Januar 2000) stuft dies als die größte schleichende Krise des Landes ein und spricht (wenn auch überpointiert) sogar von "five decades of infrastructure inaction".

Insgesamt wird in vielen Kommentaren deutlich, daß sich in Fragen der Armutsbekämpfung der Tenor der Bewertung geändert hat. Die Emphase läßt nach, die Appelle für einen Neuaufbruch fehlen und es gereicht einem Autor nicht zur Schande, wenn er Resignation erkennen läßt. Im Zusammenhang mit den ungezählten Armutsbekämpfungsprogrammen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten sowohl aus nationalen als auch aus internationalen Mitteln finanziert worden sind, ist zu oft darüber geklagt worden, daß die gesteckten Ziele wieder einmal nicht erreicht worden sind und sich die Gesamtsituation weiter verschlechtert habe. Aber auch, wenn es einigen Kommentatoren unbefriedigend erscheint, einzelne Erfolge und Mißerfolge gegeneinander abzuwägen und über die Berechtigung und Angemessenheit einzelner Indikatoren zu streiten, bleiben diese intellektuellen Anstrengungen doch unverzichtbar.

Es ist legitim, wenn einige Kommentatoren ihr Hauptinteresse auf die übersteigerten und unrealistischen Erwartungshaltungen der Vergangenheit richten, insofern dies zu einer ausgewogenen Gesamtbewertung und einer Versachlichung der Diskussion beiträgt. In der Bevölkerung ist die Zahl derjenigen gering geworden, die versuchen, Armut als ein Naturereignis darzustellen, in dem vielleicht sogar Vorsehung zum Ausdruck kommt und das primär durch mildtätige Gaben überwunden werden könne. Aber auch die von marxistischem Denken, das unter indischen Intellektuellen noch immer sehr stark ausgeprägt ist, gespeiste Polarisierung von Arm und Reich wird immer weniger bemüht. Demgegenüber konzentriert sich ein großer Teil der Aufmerksamkeit auf die Stichworte der neunziger Jahre: Globalisierung, Liberalisierung und Privatisierung. Vor diesem Hintergrund wird die Armut für einige zu einer lästigen Begleiterscheinung. Sie betonen, daß die indische Welt nicht mehr länger zwischen Reichen und Armen, zwischen "uns" und den "anderen" aufgeteilt werden sollte. Statt dessen müsse darauf hingewiesen werden, daß ein großer Teil des Reichtums nicht aufkosten der Armen erzeugt werde, sondern unabhängig von diesen und an ihnen vorbei.

(The Asian Age, 14. Januar 2000)

Wenn auch mit weniger Emphase als in der Vergangenheit, so laufen die meisten Schlußfolgerungen nach wie vor darauf hinaus, daß neue Initiativen ergriffen werden müssen, um die Armut abzubauen. Jorge Braga de Macedo, der Leiter des Development Centre der OECD, hat das Problem treffend formuliert: "Poverty is largely man-made"; daher müsse es möglich sein, "that it can be largely un-man-made". Von den bisherigen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung hat oft nur ein minimaler Anteil die Bedürftigen erreicht.

Ein von Rajiv Gandhi eingesetzter Untersuchungsausschuß bezifferte diesen Anteil Ende der achtziger Jahre sogar nur auf 7%. Außer von seiten der Regierung traut sich niemand zu behaupten, daß dieser Anteil heute sehr viel höher liegt. Wie auch schon in den vergangenen Jahrzehnten wird von internationaler Seite nach wie vor die größte Hoffnung auf Bildungsprogramme und Motivation für Hilfe zur Selbsthilfe gesetzt.

Immer stärker in den Vordergrund rücken heute die Förderung von Frauenselbsthilfegruppen und die Verbreitung von Kleinkrediten. Armut sei und bleibe letztlich kein nur nationales Problem, sondern - wie Karan Singh, der Direktor des India International Centre, es formuliert - "a global challenge" (The Hindu, 13. Jan. 2000), die im neuen Jahrzehnt neue Antworten verlange.

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