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Länderberichte

Belgien im Superwahljahr

Europa-, Parlaments- und Regionalwahlen am 25. Mai 2014

Ende 2011 prophezeiten viele Beobachter das nahende Ende Belgiens: Anderthalb Jahre nach den Wahlen vom Juni 2010 hatte das Land keine neue Regierung. Erst als auch die Finanzmärkte zunehmend unruhig wurden, gelang es, eine neue Regierung zu bilden. Zwei Jahre später steht der Zerfall des Landes nicht mehr auf der Tagesordnung. Trotz aller Hindernisse ist es der Sechsparteienregierung aus Sozialisten, Christdemokraten und Liberalen beider Sprachgruppen gelungen, eine umfassende Staatsreform durchzuführen und so eine Dauerbaustelle der vergangenen anderthalb Jahrzehnte (vorerst) zu schließen.

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Christdemokratische Politiker spielten dabei eine entscheidende Rolle. Am 25. Mai steht nun ein „Superwahltag“ an; parallel zu den Europawahlen finden Parlaments- und Regionalwahlen statt. Sozioökonomische Themen werden den Wahlkampf dominieren. Fragen über die Zukunft des Landes treten demgegenüber vorerst in den Hintergrund. Die regionalistische N-VA, die langfristig eine Unabhängigkeit Flanderns fordert, wird voraussichtlich dennoch die mit Abstand stärkste Partei.

Hintergrund

Nach den Wahlen im Juni 2010 dauerte es 541 Tage bis es gelang, eine neue Regierung zu bilden. Grund: die Regierungsbildung war an die gleichzeitige Einigung auf eine umfassende Staatsreform gekoppelt. Diese sollte nach Willen der flämischen Parteien zu einem Kompetenztransfer von der föderalen Ebene zu den Gebietskörperschaften führen. Die französischsprachigen Parteien sträubten sich jedoch gegen zu tiefgreifende Veränderungen des Status quo.

Für die Staatsreform waren eine 2/3-Mehrheit im gesamten Parlament und gleichzeitig eine Mehrheit innerhalb der niederländischsprachigen wie französischsprachigen Abgeordnetengruppe vonnöten. Erst nach mehreren gescheiterten Verhandlungs-runden gelang es, eine Sechsparteienregierung aus Sozialisten, Christdemokraten und Liberalen beider Sprachgruppen (PS, sp.a., CD&V, CDH, MR, OpenVLD) unter dem sozialistischen französischsprachigen Premier Elio di Rupo zu bilden. Der Wahlsieger, die regionalistische N-VA, die langfristig die Unabhängigkeit Flanderns anstrebt, hatte Kompromisse abgelehnt und blieb somit außen vor. Da die drei niederländischsprachigen Parteien (CD&V, Open Vld, sp.a.) in ihrer Sprachgruppe aber keine Mehrheit hatten, war die Unterstützung der nicht an der Regierung beteiligten Grünen nötig, um eine Einigung über die Eckpunkte der sechsten Staatsreform zu erzielen. Die Regierung di Rupo stand in ihrer durch die langwierigen Verhandlungen auf 2,5 Jahre verkürzten Legislaturperiode vor drei großen Herausforderungen:

  1. Ausarbeitung einer umfassenden Staatsreform (der sechsten in der Geschichte des Landes),
  2. Haushaltskonsolidierung
  3. Durchführung dringender sozioökonomischer Reformen.
Regierungsbilanz

Nimmt man die beiden größten Baustellen bei Regierungsantritt – Staatsreform und Staatsfinanzen – als Maßstab, dann kann sich die Bilanz der Sechsparteienregierung sehen lassen.

1. Sie verabschiedete mit Unterstützung der Grünen Ende 2013 im Parlament die sechste Staatsreform. Zunächst einigten sich die Parteien auf die Teilung des Wahlkreises Brussel-Halle-Vilvoorde (BHV), die im Juli 2012 offiziell von der Abgeordnetenkammer verabschiedet wurde. Damit beseitigten die Regierungsparteien einen Streitpunkt, der über mehr als ein Jahrzehnt die Beziehungen zwischen beiden Landesteilen vergiftet und auch das Klima zwischen den beiden EVP-Parteien CD&V und CDH schwer belastet hatte. Die Teilung von BHV war von großer symbolischer Bedeutung: Die Unfähigkeit, sich auf die Modalitäten der vom Verfassungsgericht 2003 geforderten Aufspaltung des Wahlkreises zu einigen, hatte rund ein Jahrzehnt die Kompromissunfähigkeit beider Seiten versinnbildlicht.

In der Praxis bedeutsamer ist die Verlagerung zahlreicher Aufgaben vom Föderalstaat hin zu den Gebietskörperschaften, den Regionen und den Sprachgemeinschaften: Ingesamt fallen Kompetenzen mit einem Finanzvolumen von 18,5 Milliarden Euro den Regionen und Sprachgemeinschaften zu. Das entspricht rund 40% der bisherigen Mittel dieser Gebietskörperschaften. Die finanziell gewichtigsten Kompetenzverlagerungen erfolgen in den Bereichen Beschäftigung (Kompetenztransfers von umgerechnet 4,2 Milliarden), Gesundheit (4,4 Milliarden) und Familienpolitik (6,6 Millionen). Bemerkenswert sind auch Kompetenzübertragungen in der Verkehrspolitik, der Großstadtpolitik und in Bereichen der Zuwanderungspolitik. Entscheidend: das Parlament segnete die Staatsreform noch in dieser Legislaturperiode ab und löste damit ein zentrales Wahlversprechen ein. Für diesen Erfolg waren vor allem die beiden christdemokratischen Politiker Melchior Wathelet (CDH, rechts im Bild) und Servais Verherstraeten (CD&V, links im Bild) verantwortlich: Als Staatssekretäre für institutionelle Reformen waren sie für die Ausarbeitung der Staatsreform zuständig. Es gelang ihnen, den Kompromiss, auf den sich die Parteichefs 2011 geeinigt hatten, noch vor den Wahlen in Gesetzesform zu gießen.

2. Ein zweiter wichtiger Punkt war die Drosselung des Haushaltsdefizits. Dies gelang mit Hilfe mehrerer milliardenschwerer Sparpakete. Insgesamt konnte die seit Jahren sehr hohe Gesamtverschuldung knapp unter 100% des BIP gehalten werden. Die Anstrengungen der Regierung überzeugen auch die Finanzmärkte. Die spreads zwischen deutschen und belgischen Staatsanleihen sind seit 2011 von 3,5 auf 0,5 gesunken. Für diese Erfolge sind nicht zuletzt auch die beiden CD&V-Finanzminister Steven Vanackere (bis 2013) und Koen Geens (ab 2013) verantwortlich.

3. Zudem gelang es, einige überfällige Reformen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik (Rente, aktivierende Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt) anzustoßen. Gleichwohl bleiben die Grundprobleme der belgischen Wirtschaft unverändert: die Lohnnebenkosten sind zu hoch, der Arbeitsmarkt zu rigide, der Wohlfahrtsstaat reformbedürftig. Weitere Schritte - etwa die von der Europäischen Kommission geforderte Abschaffung der Indexierung von Löhnen und die Begrenzung der Bezugsdauer der Arbeitslosenhilfe - waren auch wegen des Widerstands der Sozialisten der PS nicht möglich.

Nach der Verabschiedung der 6. Staatsreform stehen in diesem Wahlkampf vor allem die Themen Wachstum und Beschäftigung im Fokus: Seit 2011 ist die Arbeitslosenrate von 7,2 auf 8,7% gestiegen.

Politische Lage zu Beginn des Wahlkampfs

Am 25. Mai finden in Belgien erstmals Europawahlen, Parlamentswahlen und Regionalwahlen am gleichen Tag statt. Auch die deutschsprachige Gemeinschaft wählt dann ihr Parlament. Dieser Superwahltag wirft bereits seine Schatten voraus: Die Spitzenkandidaten stehen nun fest. Die Fronten für den Wahlkampf zeichnen sich ab. Stärker als noch 2010 verlaufen diese entlang wirtschaftspolitischer Trennlinien: Im französischsprachigen Teil des Landes sind die PS und der liberale MR die Hauptkontrahenten. Auch in Flandern werden sozioökonomische Themen eine bedeutende Rolle spielen.

Die vorzeigbare Regierungsbilanz hat bislang weder in Flandern noch in der Wallonie zu einer Sympathiewelle für die Regierungsparteien geführt. Zu groß ist nach Jahren der Blockade das Misstrauen gegenüber den traditionellen Parteien. Die zahlreichen in der Koalition geschlossenen Kompromisse führten zur Enttäuschung einiger Wähler. Ein weiterer Grund ist die gerade in Flandern verbreitete, teils diffuse Elitenfeindlichkeit, von der insbesondere die N-VA profitiert: In Umfragen liegt sie bei ca. 32 %. Das ist zwar bedeutend weniger als noch vor einem Jahr (39%). Dennoch ist die N-VA nach wie vor die mit Abstand stärkste Partei in Flandern (und in Belgien). Zweite Kraft in Flandern sind die Christdemokraten des CD&V, die nun bei ca. 18% liegen und damit erstmals seit dreieinhalb Jahren ihr Ergebnis von den letzten Parlamentswahlen (17,3%) übertreffen. Dieses war allerdings ein historischer Tiefpunkt für die Partei. Danach folgen die Liberalen (Open VLD) und Sozialdemokraten mit jeweils ca. 13-14 %. Der rechtsextreme Vlaams Belang verliert weiter Wähler an die N-VA und liegt nun unter 10%, die Grünen bei rund 8%.

In der Wallonie liegen die Sozialisten di Rupos bei rund 28%. Damit würden sie gegenüber ihrem Wahlergebnis von 2010 (37,6%) deutlich verlieren. Der MR kommt auf 23-24%. Weit dahinter folgen die Zentristen der EVP-Partei CDH (12,5%, nach einer Umfrage sogar nur 10,2%) und die Grünen von Ecolo (ca.11%) Bemerkenswert ist der Stimmenzuwachs von Parteien, die bislang keine Rolle spielten. Die kommunistische PTB steht bei rund 7%, die konservative PP bei fast 6%. Beide würden damit in die Abgeordnetenkammer einziehen.

In der Region Brüssel, in der sowohl niederländisch- wie französischsprachige Parteien wählbar sind, liegen die Sozialisten (je nach Umfrage 18-21%) etwa gleichauf mit dem MR (20-22%). Darauf folgen CDH (10-12%) sowie die Frankophonenpartei FDF und Ecolo mit je rund 10%. Die PTB könnte auf 6% kommen. Die stärkste flämische Partei wären die Liberalen der OpenVld mit 3,5%.

Erstmals zeichnet sich damit eine Zersplitterung auch auf Seiten des französischsprachigen Elektorats ab. Dieses verteilte sich bisher weitgehend auf vier Parteien (PS, MR. CDH, Ecolo): die PTB erhält von PS-Wählern Zulauf, die die Politik der Regierung als zu wenig linksorientiert empfinden. Die PP hingegen versucht – auch mit populistischen Forderungen - liberalkonservative Wähler zu gewinnen. Alle Zahlen sind aber noch mit Vorsicht zu genießen. Rund ein Drittel der Wähler sind noch unentschlossen.

Den kompletten Länderbericht inklusive aktueller Umfragewerte finden Sie oben als PDF-Datei zum Download.

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