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Länderberichte

Die Niederlande vor schwieriger Wahl

von Dr. Peter R. Weilemann †, Dr. Olaf Wientzek

Parlamentswahlen am 9. Juni

Am 20. Februar zerbrach die seit Februar 2007 regierende Koalition aus dem christdemokratischen CDA, den Sozialdemokraten der PvdA und der ChristenUnie. Die Sozialdemokraten nahmen die Differenzen über eine Fortsetzung des Afghanistan-Einsatzes zum Anlass, um aus der Regierung auszuscheiden. Die Ursachen waren aber tiefer liegend, nicht zuletzt war das Vertrauenskapital zwischen den beiden Führern der großen Parteien, Premierminister Peter Balkenende und Finanzminister Wouter Bos aufgebraucht.

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Für den 9. Juni 2010 wurden Neuwahlen anberaumt, solange sollte Balkenende geschäftsführend im Amt bleiben, die von der PvdA aufgegebenen Ministerposten wurden von CDA-Mitgliedern des Kabinetts übernommen.

Bereits in den Kommunalwahlen Anfang März, kurz nach dem Zusammenbruch der Regierung, zeichnete sich eine Veränderung der politischen Landschaft ab. Der CDA hatte erhebliche Verluste hinzunehmen, die Sozialdemokraten konnten sich stabilisieren, während die liberalen Parteien, die rechtsorientierte VVD und die linksorientierte D66, Zugewinne verbuchten. Auch die Grünen schnitten gut ab. Das mediale Interesse am Abschneiden des Rechtspopulisten Wilders und seiner PVV, der allerdings nur in zwei Städten zur Wahl antrat, verdeckte ein wenig die strukturellen Veränderungen der niederländischen Parteienlandschaft hin zu einer Neuformierung des Parteiensystems und einer zunehmend volatilen Wählerschaft. Die Entwicklung der Meinungsumfragen der letzten Monate illustriert diesen Trend. Unmittelbar nach dem Fall des Kabinetts „Balkenende IV“ hatten noch die Sozialdemokraten einen Popularitätssprung verbuchen können, gleichzeitig schien sich die PVV des Rechtspopulisten Geert Wilders als zweite Kraft festzusetzen. Im Laufe des Monats März und zu Beginn des Monats April lagen CDA, die Sozialdemokraten, die PVV und die Rechtsliberalen der VVD etwa gleichauf.

In den folgenden Wochen wurde aus dem Wahlkampf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Sozialdemokraten und dem neuen Parteiführer von Amsterdam, Job Cohen, und der VVD mit Mark Rutte an der Spitze, aus dem die Rechtsliberalen 14 Tage vor der Wahl als stärkste Partei hervorgehen. Keine der führenden Parteien kann aber mehr als 25% der Stimmen auf sich vereinigen, ein Indikator für die Erosion insbesondere der beiden großen Volksparteien. Die letzen Umfragen nach einem TV-Duell der Spitzenkandidaten Balkenende, Cohen, Rutte und Wilders am Pfingstsonntag sehen die Rechtsliberalen mit 37 Abgeordneten in Führung. Die Sozialdemokraten fallen zurück auf 30 Sitze. Demgegenüber machen die Christdemokraten etwas an Boden gut und liegen nun bei 26 Sitzen. Die Partei von Geert Wilders büßt weiter an Zustimmung ein und käme nun auf 16 Sitze in der Tweede Kamer. Das Ausmaß dieser Veränderungen wird besonders deutlich, wenn man die Projektionen der Umfrage mit der Sitzverteilung im jetzt zu Ende gehenden Parlament vergleicht. Der CDA verfügte über 41 Mandate, die PvdA hatte 33, die VVD 22 und Wilders PVV war mit 9 Abgeordneten vertreten.

Andere Umfragen machen deutlich, dass auch das neue Parlament wieder ein Vielparteien-Parlament sein wird. Die linksliberale D 66, die bei den Kommunalwahlen noch recht stark abgeschnitten hatte, sowie GroenLinks könnten je 10 Sitze erreichen. Die Sozialisten (SP) bleiben auch nach einem Führungswechsel bei prognostizierten 8 Sitzen weit von ihrem Wahlergebnis von 2006 entfernt, als sie noch auf 25 Abgeordnete kamen. Der kleine Koalitionspartner der bisherigen Regierung, die ChristenUnie kann mit 8 Sitzen (bisher: 6) rechnen. Mit je zwei Sitzen wären die streng-protestantische SGP (Staatkundig Gereformeerde Partij) und die „Partei für die Tiere“ vertreten. Die law-and-order Partei der ehemaligen Rechtliberalen, Rita Verdonk, Trots op Nederland (TON), die noch 2009 mit bis zu 10% der Stimmen rechnen konnte, dürfte wohl nicht den Einzug ins Parlament schaffen. Bleibt es am Wahlabend bei diesen Prognosen, dann ist mit einem neuen Ministerpräsidenten in den Niederlanden zu rechnen.

Für Premierminister Balkenende, dem es in der Vergangenheit immer wieder gelang, seine Partei aus dem Tal herauszuführen, dürfte es diesmal schwer werden. In den persönlichen Umfragewerten fällt der amtierende Regierungschef gegenüber seinen Mitbewerbern zunehmend zurück. Acht Jahre an der Macht in vier unterschiedlichen Regierungskonstellationen fordern ihren Tribut. Durch den Führungswechsel an der Spitze der Sozialdemokraten bleibt der Malus des Scheiterns der letzten Regierung vor allem an ihm haften. Überdies regt sich zunehmend innerparteiliche Kritik an Balkenende. Darüber hinaus muss die Partei den Verlust zweier wichtiger Zugpferde verkraften: Zum einen zog sich ein Hoffnungsträger der Partei, der bisherige Verkehrsminister Camiel Eurlings vorerst ins Privatleben zurück; zum anderen musste der Wahlstratege der CDA, Jack de Vries nach bekannt werden einer privaten Affäre nicht nur sein Amt als Staatssekretär im Verteidigungsministerium aufgeben; er verzichtete auch auf einen sicheren Listenplatz. Entscheidend dafür, ob die CDA noch einmal einen Sprung nach vorne machen kann, wird wohl auch die Mobilisierung der eigenen, relativ festen Wählerklientel sein.

Die Sozialdemokraten können nach dem Rückzug ihres langjährigen Parteivorsitzenden Wouter Bos aus der Politik von der Zugkraft eines neuen Spitzenkandidaten profitieren: Job Cohen. Der promovierte Jurist war nach seiner Tätigkeit an der Universität 1993 zunächst Staatssekretär für Bildung, ab 1998 Staatssekretär für Justiz. Bereits 2003 wurde er für den Fall eines Wahlsiegs der Sozialdemokraten sogar als Kandidat für das Amt des Premierministers gehandelt. Seine Popularität rührt jedoch vor allem aus seiner Tätigkeit als Bürgermeister von Amsterdam seit 2001. In dieser Funktion hatte er sich besonders um ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen ethnischen Gruppen und Religionen in seiner Stadt verdient gemacht, gerade im Nachgang des Mordes am niederländischen Schriftsteller Theo van Gogh. Seine Kritiker werfen ihm hingegen Laxheit im Umgang mit Islamisten und jugendlichen Gewalttätern vor. Damit war er als Gegenentwurf zu Wilders wahr genommen worden und erhielt besonders hohen Zuspruch, als die Debatte noch auf die Probleme der Migration und Integration fokussiert war. Als Schwachpunkt wird seine Unerfahrenheit in wirtschaftlichen und finanziellen Fragen angesehen, die in der TV-Debatte der Spitzenkandidaten deutlich zum Ausdruck kam und sich unmittelbar auf seine Popularitätswerte und die seiner Partei auswirkte. In Amsterdam hinterlässt er einen Schuldenberg.

Vieles spricht also dafür, dass der Führer der Liberalen, der promovierte Historiker Mark Rutte, das Rennen macht. Er war in der gemeinsamen Koalitionsregierung aus CDA, VVD und D66 von 2006 Staatssekretär für Soziales und später für Bildung. Im selben Jahr wurde Rutte Partei- und Listenführer der VVD. In den ersten Jahren musste er viel Kritik – auch aus der eigenen Partei – einstecken. Seine Kandidatur zum Parteichef hatte er damals denkbar knapp mit 51,5% gewonnen. Seine Hauptkonkurrentin war Justizministerin Rita Verdonk, die sich insbesondere durch eine harte Politik gegenüber Zuwanderern vom gemäßigten Rutte abhob. In den folgenden Jahren wurde Rutte immer wieder mangelndes Profil und mangelnde Durchsetzungsfähigkeit nach innen wie nach außen vorgeworfen. Nach diversen Parteiausschlüssen – unter anderem dem von Rita Verdonk – steuerte Rutte die Rechtsliberalen wieder in ruhigeres Fahrwasser und scheint seinem Ziel, die Wahlbasis der VVD zu erweitern, näher gekommen zu sein. In den persönlichen Umfragewerten liefert er sich ein Kopf- an Kopfrennen mit Cohen, wobei er in letzter Zeit einen leichten Vorsprung hat. Seine Aussicht auf eine mögliche Übernahme des Amts des Premierministers hat er allerdings selbst etwas verbaut indem er seine Parteifreundin, die in den Niederlanden sehr populäre EU-Kommissarin, Neelie Kroes, als mögliche Kandidatin ins Spiel gebracht hat. Seiner Partei hat dies in den Umfragen einen weiteren Schub gegeben.

Die zeitweise auch von entsprechenden Umfrageergebnissen genährten Träume von Geert Wilders mit seiner PVV als stärkste Partei aus den Wahlen hervorzugehen, sind geplatzt. In den letzten Wochen rücken die prioritären Wahlkampfthemen sein Markenzeichen, den Kampf gegen den Islam, etwas in den Hintergrund. Immer deutlicher werden auch die undemokratischen Strukturen seiner Partei. Einige seiner handverlesenen Kandidaten mussten sich wegen politischer und rechtlicher Fehltritte aus dem Wahlkampf zurückziehen. Andere Parteimitglieder kritisieren seinen Führungsstil, fordern eine Demokratisierung der bislang ganz auf ihn zugeschnittenen Strukturen und die Umwandlung hin zu einer „klassischen“ Partei mit einer eigenen Jugendbewegung, Parteitagen und innerparteilichen Wahlen(!). Gegen Wilders selbst ist ein Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung und Fremdenfeindlichkeit (unter anderem durch seinen als islamfeindlich eingestuften Kurzfilm Fitna) anhängig, das aber zu Beginn des Wahlkampfes ausgesetzt wurde - was ihm auch eine mögliche politische Bühne raubte. Trotz dieser Entwicklungen könnte der PVV, die in den Umfragen nach wie vor viertstärkste Partei ist, letztlich die Rolle eines Königsmachers zufallen.

Wer auch immer am Wahlabend als Sieger hervorgeht, er wird sich auf einen langwierigen Prozess der Regierungsbildung einstellen müssen, um die notwendige Mehrheit von 75 plus x Stimmen zu erhalten. Wie groß der Politikwechsel letztlich dann sein wird ist eine andere Frage.

Dominiert wird der Wahlkampf – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Eurokrise - von wirtschaftlichen Themen: Hier steht neben der Beschäftigungspolitik vor allem die Reduzierung des Haushaltsdefizits und der Staatsverschuldung im Vordergrund - Sparen oder Steuererhöhung. Zum Zweiten geht es um die Zukunft der Sozialsysteme, dabei stehen insbesondere die Fortführung der Reformen des Gesundheitssystems und die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre im Zentrum der Auseinandersetzung. Interessant ist dabei die drei Wochen vor der Wahl veröffentlichte Analyse des Centraal Planbureau (CPB) der Wahlprogramme der Parteien hinsichtlich ihrer wirtschaftspolitischen Auswirkungen. Bei den Ergebnissen fallen die negativen Effekte der Programme von PVV sowie den Sozialisten deutlich auf. Der Studie nach hätten die von der VVD geplanten umfassenden Einschnitte im Sozialbereich und im Gesundheitswesen die bedeutendsten Auswirkungen auf die Haushaltsverschuldung und Beschäftigung. Ähnlich positive Effekte hätten auch die im Programm der CDA vorgesehenen Maßnahmen. In beiden Fällen wird aber ein Rückgang der Kaufkraft prognostiziert.

Daneben spielen im Wahlkampf Kriminalität und Sicherheit eine wichtige Rolle. Das Thema Zuwanderung, Integration und Identität steht nicht mehr so im Vordergrund wie noch vor einigen Monaten, bleibt aber für die Abgrenzung gegenüber Wilders latent virulent. Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik, die der Auslöser für das Auseinanderfallen der Regierung waren, nehmen keinen prominenten Raum ein.

Vereinfacht gesagt haben die niederländischen Wähler die Wahl zwischen zwei strategischen Alternativen. Die eine, mit CDA und VVD als Hauptvertretern, setzt auf Reformen, um die Niederlande zukunftssicher zu machen, und offensichtlich trauen dies die Wähler den Rechtsliberalen diesmal mehr zu als den bislang regierenden Christdemokraten. Das andere Lager setzt den Akzent auf Besitzstandswahrung und Umverteilung; hier finden sich die Sozialdemokraten, die Sozialisten oder auch Groen/Links; selbst die PVV setzt neben ihrer Kernbotschaft zunehmend auf diese Themen.

Es ist wahrscheinlich, dass sich die künftige Regierung um einen dieser Kerne bildet, aber keineswegs zwangsläufig. Zwei Optionen lassen sich vorstellen. Denkbar ist zunächst eine Koalition von Liberalen (VVD und D66) und Christdemokraten (CDA), vergleichbar der Regierung Balkenende III, aber unter Führung der VVD. Sie bräuchte jedoch – nimmt man heutige Umfrageergebnisse - einen zusätzlichen Koalitionspartner. Das könnte die ChristenUnie sein, mit der die Liberalen allerdings Schwierigkeiten haben dürften. Wilders wiederum hat bereits erklärt, ein Minderheitenkabinett aus VVD und CDA stützen zu wollen. Anders als die Sozialdemokraten haben letztere eine Zusammenarbeit mit der PVV nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Andererseits hat der Vorsitzende der Linksliberalen D66, Pechtold, verlauten lassen, dass er eine Regierung mit PvdA, VVD und Groen/Links bevorzugen würde.

Eine solche große Koalition neuen Typs unter Führung der Sozialdemokraten ist bei dem derzeit prognostizierten starken Abschneiden der Rechtliberalen schwer vorstellbar. Fraglich ist, ob umgekehrt ein VVD-Ministerpräsident bereit wäre, sich auf ein solches Bündnis einzulassen, müsste es doch die beiden weit auseinander liegenden Interessen der Hauptkontrahenten des gegenwärtigen Wahlkampfes unter einen Hut bringen. Rutte bezeichnete mehrfach eine Koalition mit den Sozialdemokraten als unwahrscheinlich.

Andere Alternativen, wie ein PvdA- geführtes, „reines“ Linksbündnis dürften selbst unter Einschluss der Sozialisten und der ChristenUnie nicht die notwendige Mehrheit erhalten; aber auch ein Wiederaufleben der bisher regierenden Koalition aus CDA, PvdA und ChristenUnie ist sowohl rechnerisch als auch politisch außerhalb des Wahrscheinlichen.

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