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Länderberichte

Ungewisse Zukunft

von Dr. Peter R. Weilemann †, Dr. Olaf Wientzek

Belgien nach den Wahlen

Die Ergebnisse der belgischen Wahlen zur Abgeordnetenkammer und zum Senat vom 13. Juni 2010 führen das Land in eine ungewisse Zukunft. In Flandern erreichten die flämischen Nationalisten der N-VA, die auf eine Reform des Staates drängen, einen Erdrutschsieg und stellen fast ein Fünftel der Sitze in der föderalen Kammer.

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In der Wallonie dagegen gewannen die Sozialisten der PS, die mit einer Politik der Besitzstandswahrung antraten und mit 26 Sitzen (2007:20) zweitstärkste Kraft in der belgischen Abgeordnetenkammer wurden. In beiden Landesteilen mussten die anderen etablierten Parteien zum Teil herbe Verluste wegstecken. Mit dem Erfolg der N-VA im Norden und der PS im Süden sind zwei sowohl in Fragen der Staatsreform als auch der Wirtschafts- und Sozialpolitik einander programmatisch entgegen gesetzte Parteien zu den entscheidenden Akteuren geworden. Ein Zeichen, dass sich die Teilung des Landes weiter verstärkt. 7,7 Millionen Wähler waren aufgerufen, ihrer Wahlpflicht nachzukommen. Die Wahlbeteiligung war mit 89,2% allerdings die niedrigste seit 35 Jahren; fast 6% der Stimmzettel waren ungültig.

Ergebnisse

In Flandern erreichte die N-VA 28,2% der Stimmen und wird mit 27 von 150 Sitzen die stärkste Kraft in der belgischen Abgeordnetenkammer. Weit dahinter folgen mit erheblichem Abstand die flämischen Christdemokraten der CD&V mit 17,6% der Stimmen und 17 Sitzen, 6 weniger als noch 2007. Selbst in ihrer Hochburg West-Flandern mussten sich die Christdemokraten der N-VA knapp geschlagen geben. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte fallen die flämischen Christdemokraten unter die 20%-Marke.

Dritte flämische Kraft wurden trotz leichter Verluste die Sozialdemokraten mit 15,0% der Stimmen und 13 Sitzen. Die Liberalen der OpenVld, deren Austritt aus der föderalen Regierung die Neuwahlen erzwang, fallen auf 14,0% der Stimmen. Sie haben nun nur noch 13 Abgeordnete, fünf weniger als im alten Parlament. Der rechtsextreme Vlaams Belang muss ebenfalls erhebliche Verluste einstecken, stellt mit 12,6% noch 12 Abgeordnete (ebenfalls 5 weniger). Groen! gewinnt leicht hinzu und kommt auf 5 Sitze, die Lijst Dedecker kann nur noch einen ihrer vorher fünf Sitze behaupten.

Großer Gewinner in der Wallonie sind die Sozialisten unter Elio di Rupo, die 36,6% der Stimmen erhalten. Der liberale MR wiederum muss schwere Einbußen hinnehmen und kommt mit 24,7% der Stimmen im wallonischen Raum nur noch auf 18 Sitze, fünf weniger als 2007. Die humanistische CDH (14,7%) verlor einen Sitz, während die Grünen von Ecolo (12,8%) ihre 8 Mandate halten konnten. Die neu angetretene liberal-konnservative Kleinpartei PP konnte nur einen Sitz erringen, der Front National scheidet aus der Abgeordnetenkammer aus. Im Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde, in denen Parteien aus beiden Gemeinschaften gewählt werden können, gewinnt der MR mit 19,2% der Stimmen vor der PS mit 16,7%. Stärkste flämische Partei wird in diesem Wahlkreis die N-VA mit 12,2%.

Daneben wurde auch über die Vergabe von 40 der insgesamt 70 Sitze im Senat entschieden: Hier erhielt die N-VA 9, die PS 7, die CD&V, OpenVLD, MR und sp.a jeweils 4, der Vlaams Belang 3, CDH und Ecolo je 2 Sitze. Groen! wird mit einem Sitz vertreten sein.

Ursachen

Die Gründe des Erfolgs der N-VA sind zum einen sicherlich in der Person des Parteiführers Bart de Wever zu suchen, der über ein großes politisches Kommunikationstalent verfügt. Als Spitzenkandidat seiner Partei für den Senat erreichte er über 760 000 Vorzugsstimmen, mehr als Yves Leterme 2007 und mehr als doppelt so viele wie die diesmalige Spitzenkandidatin der CD&V, Marianne Thyssen (rund 315 000). Für das Parlament hatte die N-VA als Spitzenkandidaten den populären Rundfunk-Journalisten, Siegfried Bracke aufgestellt, der bei den Vorzugsstimmen mit 100 000 Stimmen ebenso gut abschnitt wie der scheidende Premier Yves Leterme.

Unabhängig von den Spitzenkandidaten ist der Wahlerfolg der N-VA auch darauf zurückzuführen, dass die Flamen den traditionellen Parteien eine umfassende Staatsreform nicht mehr zutrauen. Dieses Ergebnis ist als ein klares Votum Flanderns gegen die aktuellen Strukturen Belgiens zu werten und als ein deutliches Signal an den Süden des Landes, die Blockadehaltung beim Thema Staatsreformen aufzugeben. Darüber hinaus verfügt die N-VA über ihre Forderungen zur Staatsreform hinaus über ein seriöses politisches Programm das das bürgerliche Lager anspricht. Gleichzeitig gelang es ihr, Stimmen ehemaliger Wähler des separatistischen Vlaams Belang und die Lijst Dedecker zu gewinnen.

Zudem verfügt die NV-A über Regierungserfahrung sowohl auf regionaler Ebene in Flandern, wo sie mit CD&V seit Jahren eine Koalitionsregierung bildet, wie auch für einige Zeit auf föderaler Ebene. Wie die Spitzenpolitiker N-VA mit diesem hohen Vertrauensvorschuss umgehen und welche Lehren sie dabei aus den Erfahrungen des Premierminister Yves Leterme ziehen, wird ein wichtiger Schlüssel für den Erfolge der künftigen Politik sein.

Mit Ausnahme der Sp.A, die aus der Opposition antrat, haben alle übrigen politischen Kräfte in Flandern schwere Verluste hinnehmen müssen. Die CD&V zollte dem Verschleiß in den letzten Regierungen Tribut. Als einzige Partei musste sie in Flandern in der Kampagne fortwährend die durchwachsene Bilanz der Vorgängerregierungen rechtfertigen. Nachdenklich stimmt, dass sich ihre Strategie, beim Thema Staatsreform auf eine differenzierte, verantwortungsbewusste Haltung zu setzen, offenbar nicht ausgezahlt hat. Auch die OpenVLD, die für die in den Augen der Bürger unnötigen Neuwahlen verantwortlich war, wurde abgestraft. Damit erlitten die beiden vormaligen Regierungsparteien eine schwere Schlappe.

In der Wallonie hatte die PS Erfolg mit ihrer Strategie der Besitzstandswahrung im doppelten Sinne Erfolg. Solidarität aller Belgier und damit keine gravierenden Änderungen des Staates sowie Rücksicht auf die kleinen Leute war die zentrale Botschaft. Zudem wird offenbar ihrem Parteiführer di Rupo am meisten zugetraut, bei der Staatsreform ein Gegengewicht auf Augenhöhe zu Bart de Wever zu bilden und zu einschneidende finanzielle Verluste für die Wallonie als Folge einer Staatsreform zu verhindern. Bei den Vorzugsstimmen erreichte Elio di Rupo mit rund 200.000 Stimmen im Hainaut das beste Resultat für die Wallonie.

Der große Verlierer sind auch in der Wallonie die Liberalen. Hier dürfte ihre langjährige Teilhabe an der Regierung Spuren hinterlassen haben. Die Partei verliert gegenüber der PS wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Als einzige Partei plädierte sie für eine umfassende Steuerreform sowie für eine stärkere Rücksichtnahme auf höhere Einkommen. Auch der Popularitätsschwund des zunehmend umstrittenen Spitzenkandidaten des MR, Didier Reynders, der als Finanzminister für eine Konsolidierung der belgischen Staatsfinanzen eingetreten war, dürfte beim schwachen Abschneiden eine Rolle gespielt haben. Am Nachmittag zog Reynders die Konsequenzen und trat als Parteivorsitzender der MR zurück.

Die harte Haltung Joelle Milquets in Fragen der Staatsreform hat sich für das CDH nicht ausgezahlt. Sie hatte mit ihren territorialen Forderungen im ohnehin emotional aufgeladenen Streit um den Wahlkreis BHV zusätzlich Öl ins Feuer gegossen und damit in Flandern der NV-A weiter Stimmen zugeführt und den Kurs der EVP-Schwesterpartei CD&V desavouiert. Eine unbedingte Verweigerungshaltung hinsichtlich der Staatsreform verliert offenbar auch in der Wallonie an Zuspruch.

Koalitionen

Am Tag nach der Wahl hat der belgische König nach den Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer und des Senats, Patrick Dewael (Open VLD), und Armand De Decker (MR), den scheidenden Ministerpräsidenten Yves Leterme empfangen und ihn mit der Weiterführung der Amtgeschäfte beauftragt. Am Nachmittag empfing er die beiden Wahlsieger, Bart de Wever und Elio di Rupo zu Konsultationen. Nach diesen und noch folgenden Gesprächen mit anderen hochrangigen Politikern wird er einen so genannten Informateur benennen. Dieser führt Sondierungsgespräche mit den Parteiführern und lotet die personellen und programmatischen Grundlagen für mögliche Koalitionen aus. Nach den Gesprächen erstattet der Informateur dem König Bericht und schlägt ihm einen Formateur zur Schaffung einer endgültigen Regierung vor.

Eine zukünftige Regierung wird voraussichtlich nicht ohne die beiden großen Wahlgewinner N-VA und PS gebildet werden können. Bart de Wever hat noch in der Wahlnacht seine Gesprächs- und Regierungsbereitschaft angekündigt. Die CD&V hat trotz der schweren Niederlage, die Bereitschaft erklärt, wieder Regierungsverantwortung zu übernehmen und wird auch bei den anderen Parteien als seriöser Partner geschätzt. Die Liberalen aus Nord und Süd könnten hingegen den Gang in die Opposition antreten. Als wahrscheinliche Variante erscheint somit eine Sechsparteienkoalition, welche die jeweiligen Regierungen auf Gemeinschaftsebene umfassen würde. Auf flämischer Seite wären dies neben der N-VA die CD&V und die Sozialdemokraten, auf wallonischer neben den Sozialisten, das CDH und Ecolo. Für eine bloße Mehrheit wären Ecolo bzw. sp.a. nicht unbedingt notwendig. Eine solche Sechsparteienkoalition würde aber 100 Sitze und damit genau die 2/3 Mehrheit haben, die für eine Staatsreform notwendig wäre. Auf die Stimmen der flämischen Grünen, die eng mit ihrem wallonischen Pendant Ecolo zusammenarbeiten, könnte man in jenem Fall ebenfalls rechnen.

Unklar ist noch, wer das Amt des Premierministers einnehmen wird. Gleichwohl deutet vieles darauf hin, dass nach dem schon während des Wahlkampfs erklärten Verzicht de Wevers, der Vorsitzende der PS, Elio di Rupo, das Amt übernimmt. Für ihn spräche, dass die Sozialisten aus dem Norden und Süden in der neuen Abgeordnetenkammer wie im Senat die stärkste politische Familie sind. Zudem verfügt er über Akzeptanz in den anderen Parteien und eine starke Stellung in der wallonischen Gemeinschaft.

Auch de Wever gab bekannt, einen wallonischen Premier zu stützen, wenn dies zu einer umfassenden Staatsreform führen würde. Denkbar wäre auch, dass ein flämischer Sozialdemokrat, etwa Johan Vande Lanotte den Posten erhielte.

Die zwei zentralen Streitpunkte bei der Regierungsbildung sind zum einen die Staatsreform zum anderen aber die notwendige Politik der Haushaltssanierung und umfassender Wirtschafts- und Sozialreformen. Entscheidend wird sein, ob de Wever und di Rupo sich trotz ihrer diametral entgegen gesetzten Positionen in beiden großen Themen auf eine gemeinsame Linie einigen können und was auf dem Tisch der Kompromisse an Positionen geopfert wird. Die N-VA verfügt über kein Pendant auf wallonischer Seite. Entsprechend wird das Gewicht der Sozialisten, die eng mit ihrem flämischen Pendant sp.a zusammenarbeiten, gerade bei der wirtschaftspolitischen Reformagenda besonders schwer wiegen. Wenn sich die Sozialisten durchsetzen sollten, ist eine Abkehr von der bisherigen Konsolidierungspolitik bei den öffentlichen Finanzen zu erwarten. Die Ungewissheit die mit dem Wahlausgang verbunden ist bezieht sich deshalb nicht nur auf die mittel- bis langfristige Zukunft des Königreiches Belgien sondern auf die Solidität der Wirtschafts- und Finanzpolitik eines wichtigen Mitgliedslandes der Eurozone in den nächsten Monaten.

Welchen Kurs die neue Regierung hier einschlagen wird, dürfte für das Schicksal der Politik der Europäischen Union stärker wiegen als das Programm und Management der belgischen Ratspräsidentschaft, die man bei der erfahrenen Ministerialbürokratie in guten Händen wissen kann. Auf jeden Fall ist davon auszugehen, das die Koalitionsverhandlungen eher im Herbst als bis zum ersten Juli abgeschlossen sein werden und die jetzige Regierung noch einige Zeit im Amt bleiben dürfte.

Eine Überischt der Wahlergebnisse sowie der Sitzverteilung finden Sie in dem pdf oben.

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