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Essay

Selbstverständnis und Traditionsbildung der Bundeswehr

von Dr. Martin Rink

Das Erbe des 20. Juli 1944 und das Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“

Der Aufbau von Streitkräften in der Bundesrepublik war umstritten. Die Bundeswehr wurde in klarer Abgrenzung von der Zeit des Nationalsozialismus aufgebaut. Militärgeschichtlich gesehen gab es allerdings Kontinuitätslinien, vor allem da die Führungskräfte der Bundeswehr ihre militärische Anfangsprägung und Ausbildung schon vor 1945 erhalten hatten. Neu war das Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“, der sich zur Verteidigung der Freiheitsrechte des Grundgesetzes verpflichtete. Die Berufung auf den militärischen Widerstand gegen Hitler und das Attentat vom 20. Juli 1944 war anfangs umstritten und setzte sich erst allmählich als Traditionsstrang der Bundeswehr durch.

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20. Juli 1961: Blick auf das während einer Feierstunde enthüllte Namensschild der Bundeswehrkaserne in Sigmaringen, die nach dem Widerstandskämpfer Claus Schenk Graf von Stauffenberg benannt wurde. picture alliance/dpa
20. Juli 1961: Blick auf das während einer Feierstunde enthüllte Namensschild der Bundeswehrkaserne in Sigmaringen, die nach dem Widerstandskämpfer Claus Schenk Graf von Stauffenberg benannt wurde.

Bundeswehr und Selbstverständnis – ein Dauerthema

Am 12. November 2025 begeht die Bundeswehr ihren 70. Geburtstag. Den 45 Jahren der „alten“, westdeutschen Bundeswehr zwischen 1955 bis 1990 stehen mittlerweile 35 Jahre der Bundeswehr im vereinten Deutschland gegenüber. Zur Bundeswehrgeschichte hinzuzurechnen ist aber auch die Zeit der Vorplanungen im sogenannten Amt Blank. Unter der Ägide des von Bundeskanzler Konrad Adenauer am 17. Oktober 1950 ernannten Sicherheitsbeauftragten und sodann ersten Verteidigungsministers Theodor Blank (1905–1972) entstanden zwischen 1951 und 1956 wesentliche Grundzüge der neuen westdeutschen Streitkräfte. Damit nimmt die Gesamtgeschichte der Bundeswehr genauso viel Zeit ein wie die der deutschen Armeen zwischen 1871 und 1945 zusammen.

 

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Vor dem Hintergrund des vorangegangenen Dreivierteljahrhunderts verstand sich die Bundeswehr als ein Neuanfang. Allerdings mischte sich in das proklamierte Neue auch vieles vom Alten: Schließlich war der politische Soldat bereits vom NS-Staat gefordert worden. Neu an der Bundeswehr war also nicht der Primat der Politik als solcher, sondern die klare Bindung all ihrer Angehörigen an die Normen und die Werteordnung des Grundgesetzes. Die Soldaten der Bundeswehr sollten dessen freiheitliche Ordnung bereits im militärischen Dienst erleben können, aber auch als Staatsbürger in einer demokratischen offenen Gesellschaft nach westlichem Muster.

Das Selbstverständnis des proklamierten Leitbildes vom „Staatsbürger in Uniform“ zeigen zwei Schlüsseldokumente von 1950 und 1957, die Himmeroder Denkschrift und das Handbuch Innere Führung. Beide widmeten sich in jeweils unterschiedlichem Kontext der Frage, wie militärische Schlagkraft mit dem Schutz der Freiheitlichen Demokratischen Grundordnung und den Grundrechten der Soldaten vereinbar waren. Eine Vergleichsfolie bot dabei der Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 gegen Adolf Hitler. Allerdings war die Traditionswürdigkeit der Widerständler auch nach dem Krieg anfangs umstritten. Deswegen rang man in der Zeit des Aufbaus der Streitkräfte um die Fragen „Befehlstreue gegenüber dem Staat“ oder dem „Recht zum Widerstand gegen einen Unrechtsstaat“.

 

Der Widerstand gegen Hitler aus militärisch-funktionaler Sicht

Der versuchte Staatsstreich vom 20. Juli 1944 fiel in die Zeit, in der es klar wurde, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war: Zwei Wochen nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 begann die Rote Armee ihre Operation Bagration. Mit der Einnahme Weißrusslands, Teilen des Baltikums und Ostpolens zerschlug diese Operation die Heeresgruppe Mitte der Wehrmacht. Nach der Katastrophe von Stalingrad um die Jahreswende 1942/43 und dem Zusammenbruch des Afrikakorps im Mai 1943, dem Scheitern der Offensive bei Kursk im Sommer 1943 und mit dem Vorrücken der Westalliierten in Italien war der Krieg für das Deutsche Reich nun militärisch aussichtslos. In den folgenden Kriegsmonaten fielen jeweils eine Viertelmillion Soldaten pro Monat.[1] Zudem hatten sich die schon seit Kriegsbeginn 1939 verübten Massenmorde des NS-Regimes nunmehr zu einer systematischen Mordmaschinerie gesteigert.

Die Generalstabsoffiziere des Heeres gehörten zu dem Personenkreis, der über das militärische Desaster am besten informiert war. Sie, die der massiven Aufrüstung seit 1935 steile Karrieren verdankten, waren sich der militärischen Niederlage klar bewusst. Gleichzeitig fühlten sie sich im darwinistischen NS-System von den Ressortegoismen der Luftwaffe Hermann Görings und der Waffen-SS Heinrich Himmlers zunehmend zurückgesetzt und empfanden die auf Adolf Hitler als Person zugeschnittene Spitzengliederung zu Recht als chaotisch-dysfunktional. In ihrer unmittelbar nach dem Krieg verfassten Schrift über die Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft brachte Hannah Arendt diese „Substanzentleerung der regulären Armee“ durch die nationalsozialistische Politik auf den Punkt. Zur moralischen Katastrophe kam ein „Verfall der beruflichen Standards“[2]. Entsprechend gründete der Widerstand gegen Hitler auch in einem militärisch-professionellem Unmut über die Herrschaftstechnik des Diktators, abseits aller Kompetenzstränge in alle Bereiche hineinzubefehlen.[3]

Der für das Sachgebiet der militärischen Spitzengliederung zuständige Generalstabsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg begann seine Vorträge dementsprechend mit der sarkastischen Einlassung „die Kriegsspitzengliederung der Wehrmacht sei noch blöder, als die befähigsten Generalstabsoffiziere sie erfinden könnten, wenn sie den Auftrag bekämen, die unsinnigste Kriegsspitzengliederung zu erfinden.“[4] Die militärische Seite des Widerstands verknüpfte also militärisches Zweckmäßigkeitsdenken mit dem Ekel gegenüber der Ungeheuerlichkeit der – von Teilen der Wehrmacht und ihrer Elite mitverübten – Verbrechen. Letztlich waren es wenige Widerständler; die Masse der Wehrmacht stand abseits oder blieb dem Regime treu. Das Scheitern des Attentatsversuchs vom 20. Juli führte nicht nur zur direkten Übernahme des Ersatzheers durch Heinrich Himmler, sondern zu einem über neun Monate langen Endkampf mit einer von der NS-Elite von den Deutschen und ihren Soldaten geforderten „Pflicht zum Untergang“.[5] Maßgeblich wurde die Frage nach dem ab 1934 geleisteten Eid, mit dem sich die Soldaten zum unbedingten und persönlichen Gehorsam gegenüber Hitler verpflichtet hatten.

 

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Das Stauffenberg-Attentat auf Hitler und der Widerstand gegen das NS-Regime

Prof. Dr. Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, spricht im Video über Motivation und Ziele der Beteiligten sowie den Ablauf und die Folgen des Umsturzversuchs.

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Die Bundeswehr als Armee in der Integration

Die seit 1950 laufenden Vorüberlegungen und sodann im Amt Blank institutionalisierten Vorplanungen für die neuen westdeutschen Streitkräfte mündeten in einem windungsreichen Prozess im Gründungsakt am 12. November 1955. In der Bonner Ermekeilkaserne als Sitz des Verteidigungsministeriums erhielten an diesem Tag die ersten 101 Soldaten ihre Ernennungsurkunden, nur wenige trugen zu diesem Zeitpunkt bereits Uniform. Erst am 22. Februar 1956 erhielt die westdeutsche Armee den Namen „Bundeswehr“. Gleichwohl blieb die Bezeichnung „Wehrmacht“ noch längere Zeit gebräuchlich, und zwar als generischer Ausdruck für „Streitkräfte“ allgemein. Damit blieb die so notwendige Abgrenzung von der Wehrmacht schon sprachlich anfangs undeutlich. Auch biographisch hatte die Führungselite der Bundeswehr die Wehrmacht durchlaufen und blickte auf Dienstzeiten in der Reichswehr sowie in den Kontingentsheeren zurück, die im Deutschen Kaiserreich von den Bundesstaaten gestellt wurden. Diese Kontinuitäten sowie fortwirkende Vorstellungen vom traditionellen Soldatentum machten die junge westdeutsche Streitmacht anfangs in mancher Hinsicht zu einer „BundesWehrmacht“.[6] Dies betonten kritische Stimmen in der westdeutschen Presse und Öffentlichkeit, und natürlich auch die DDR-Propaganda.

Weil die Bundesrepublik einen Alleinvertretungsanspruch in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches erhob, stellte sich für sie, anders als für Österreich und die DDR, das Problem der beanspruchten Kontinuität in der Staatsnachfolge bei gleichzeitiger Diskontinuität zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft besonders deutlich. Vor dem Hintergrund des mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen verbundenen Zivilisationsbruchs stellte sich die Bundesrepublik als „Zivilmacht“ dar. Die Einbettung der Bundeswehr verband sich daher mit vier Integrationsforderungen. Die Bundeswehr sollte erstens als Parlamentsarmee dem Primat der Politik unterstehen, zweitens als Wehrpflichtarmee eng in die Gesellschaft integriert sein, drittens als Bündnisarmee eng mit den westlichen Partnern verzahnt sein und viertens als Gesamtstreitkräftelösung bestehen.[7] Das zeigen die beiden Leitdokumente von 1950 und 1957.

 

Die Himmeroder Denkschrift und das Handbuch Innere Führung

Gemeinhin gilt die im Oktober 1950 abgehaltene Tagung im Eifelkloster Himmerod als der Anfang der Aufstellungsplanung der Bundeswehr. Zwar zeigt die jüngere Forschung die Bedeutung der vorangegangenen, in inoffiziellen persönlichen Netzwerken erfolgten Erörterungen über zukünftige westdeutsche Streitkräfte.[8] Gleichwohl bildete die aus der Tagung entstandene Himmeroder Denkschrift ein Leitdokument, das neben organisatorischen Fragen Aussagen zum „Inneren Gefüge“ traf. Dezidiert bekundete das Dokument, dass die „Voraussetzungen für den Neuaufbau“ der neuen westdeutschen Truppe „von denen der Vergangenheit so verschieden [seien], daß ohne Anlehnung an die Formen der Alten Wehrmacht heute grundlegend Neues zu schaffen ist.“ Ein apolitisches Expertentum lehnten die in Himmerod zusammengezogenen Fachleute dezidiert ab. Sie forderten, dass die Soldaten wie die Armee als Institution „aus innerer Überzeugung die demokratische Staats- und Lebensform zu bejahen“ hätten bei gleichzeitiger „innere[r] Festigkeit gegen eine Zersetzung durch undemokratische Tendenzen (Bolschewismus und Totalitarismus)“.[9]

 

Wolf Stefan Traugott Graf von Baudissin (* 8. Mai 1907 in Trier; † 5. Juni 1993 in Hamburg) war maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr und insbesondere an der Entwicklung der Inneren Führung beteiligt. Bundeswehr/Munker
Wolf Stefan Traugott Graf von Baudissin (* 8. Mai 1907 in Trier; † 5. Juni 1993 in Hamburg) war maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr und insbesondere an der Entwicklung der Inneren Führung beteiligt.

Das im Amt Blank ausgearbeitete Konzept der Führungsphilosophie der Bundeswehr ist eng mit Wolf Graf von Baudissin (1907–1993) verknüpft, der in Himmerod als einer der jüngsten Teilnehmer anwesend gewesen war und im Mai 1951 Mitarbeiter des Amts Blank wurde. Im September 1957, nun als Oberst und Referatsleiter im Verteidigungsministerium, gab er das Handbuch Innere Führung heraus. In seinen bis 1970 erschienenen fünf Auflagen versammelte es Vorträge Baudissins und seiner Mitarbeiter vor dem künftigen Bundeswehr-Führungspersonal. Als Kernelemente der Inneren Führung umriss das Handbuch erstens die „geistige Rüstung“ und damit eine antitotalitäre Grundhaltung und zweitens eine „zeitgemäße Menschenführung“.[10]

Die Ambivalenz zwischen alt und neu durchzog das gesamte Handbuch. Unter Ablehnung des „ewigen Landsknechts“, also des apolitischen Soldaten, beschwor das Handbuch den politisch mitdenkenden „Soldaten im permanenten Bürgerkrieg“. Anders als von seinen Kritikern behauptet, stand Baudissins Konzeption der Inneren Führung im Zeichen der Kriegstüchtigkeit inmitten einer totalen und gleichzeitig hybriden Bedrohungslage: „Der Bolschewismus hat allgemeine Friedlosigkeit gebracht und die ehemals gültigen Unterscheidungen zwischen Krieg und Frieden, Freund und Feind, Front und Heimat, Recht und Unrecht aufgehoben“. Angesichts der „unvorstellbaren Belastungen“ im „heißen Gefecht“ müsse „sich die Ausbildung an der Kriegswirklichkeit messen lassen.“[11]

Das ausgiebig erörterte Problem des Widerstands stellte sich als „sittlich-moralische Frage“ an alle Soldaten. Dies bedeutete „keine Untergrabung der Schlagkraft und keine Bedrohung der Bundesrepublik“. Denn schließlich sei „Widerstand […] kein politisches Normalverhalten, sondern nur dann [erforderlich], wenn der Rechtsstaat zum Unrechtsstaat geworden ist und legale Wege zur Abstellung unerträglicher Mißstände und Gefahren versperrt sind.“[12]

Der Hintergrund dieser Erörterungen im Handbuch Innere Führung war komplexer als bloß eine einfache Handreichung für die Soldaten. Denn indirekt trat hier die Auseinandersetzung mit der sogenannten Radbruchschen Formel zu Tage. Der Rechtswissenschaftler und zeitweilige Justizminister der Weimarer Republik Gustav Radbruch (SPD) hatte in einem im August 1946 erschienen Aufsatz die Frage zwischen gesetzlichem Unrecht und übergesetzlichem Recht miteinander abgewogen. Demnach habe zwar „das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang […], wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist“. Dies gelte jedoch dann nicht mehr, wenn „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ In ganzer Schärfe zeigte dies das ethische Dilemma des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Denn „wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ Der Bezug auf die NS-Herrschaft wurde noch klarer in Radbruchs Kennzeichnung der personalen Herrschaft Hitlers: „Die hervorstechendste Eigenschaft in Hitlers Persönlichkeit, die von ihm aus auch zum Wesenszuge des ganzen nationalsozialistischen ‚Rechts‘ geworden ist, war sein völliger Mangel an Wahrheitssinn und Rechtssinn: weil ihm jeder Wahrheitssinn fehlte, konnte er dem jeweils rednerisch Wirksamen ohne Scham und Skrupel den Akzent der Wahrheit geben; weil ihm jeder Rechtssinn fehlte, konnte er ohne Bedenken die krasseste Willkür zum Gesetz erheben.“[13]

Die Reflexion über den Widerstand im Handbuch Innere Führung bewegte sich auf dieser doppelten Ebene: Einerseits waren vom künftigen westdeutschen Soldaten Dienen und Gesetzestreue zu erwarten; andererseits die Anerkennung der Motive für den Widerstand des 20. Juli. Schließlich hatten die Widerständler aus ihrer Einsicht heraus gehandelt, dass im Rahmen des NS-Systems die Beendigung des Krieges oder der Massenmorde nicht zu erwarten waren. Wo aber – anders als es die militaristische Fassade des NS-Staats glauben machen wollte – die Aushöhlung des Rechts und der Institutionen erfolgt war, konnten auch in militärfachlicher Hinsicht keine zweckmäßigen Lösungen mehr erwartet werden. Da Hitler das Unrecht zum System gemacht hatte, ergab sich das Recht zum Widerstand – ethisch, politisch und militärisch.[14]

Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung, hält bei der Ernennung erster ehemaliger Soldaten der NVA zu Berufssoldaten im Leipzig eine Rede. Aufnahme vom 02.10.1992. Bundeswehr/Detmar Modes
Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung, hält bei der Ernennung erster ehemaliger Soldaten der NVA zu Berufssoldaten im Leipzig eine Rede. Aufnahme vom 02.10.1992.

Diese Einsichten mussten in der jungen Bundeswehr erst noch vermittelt werden. Entsprechend verzichtete das Handbuch Innere Führung auf eine Verurteilung der zahllosen „bis zuletzt Gehorchenden“. Vielmehr stellte es auf den damals ungenügenden Wissensstand ab. Nun jedoch, im Jahre 1957, hätten alle „hinreichend Gelegenheit“ gehabt, „sich ein zutreffendes Bild vom Nationalsozialismus zu machen.“ Auch diese Aussage blieb eingebettet in die allgemeine antitotalitäre Stoßrichtung. Vor diesem Hintergrund erschien der Widerstand aus drei Gründen als ein Thema „von höchster Aktualität“: Erstens gelte es noch „einen gemeinsamen Standpunkt gegenüber dem Dritten Reich“ zu finden, zweitens lebten „jenseits der Elbe 17 Millionen Menschen weiter in einem Unrechtsstaat“ und drittens schließlich bedrohe „das Totalitäre die freiheitliche Welt“.[15] Dies entsprach dem bundesrepublikanischen Nachkriegskompromiss: Die Abgrenzung vom Nationalsozialismus erfolgte unter gleichzeitiger Akzentuierung der Bedrohungslage im Kalten Krieg.

Das Recht zum Widerstand konnte damit nicht ins Beliebige gestellt werden. Vielmehr musste es einer ethischen Güterabwägung folgen. Wesentlich war dabei die Frage, ab wann von einem Unrechtsstaat die Rede sein konnte. Die Entscheidung hierzu konnte letztlich nur das Gewissen liefern. Daher begann das Handbuch Innere Führung seine Einleitung mit der Erörterung der – bis heute gültigen – Eidesformel für die Soldaten der Bundeswehr. Die „vor der letzten Instanz“ zu leistende Verpflichtung, der „Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen“ verband sich mit der Bereitschaft „das Recht“ zu verteidigen sowie die „Freiheit des deutschen Volkes“. Mit der Freiheit war eindeutig die Ablehnung des NS-Regimes, aber auch das der DDR gemeint. Das beschworene „Recht“ hingegen bezog sich über Dienstvorschriften, Gesetze und das Grundgesetz hinaus letztlich auch auf die Bewahrung des Rechtsgedankens als solchen. Die Verpflichtung auf die „tapfere“ Verteidigung dieser Werte schließlich beinhaltete den im Sinne der westlichen Demokratie politischen Soldaten in einem multidimensionalen Konfliktfeld.[16]

 

Innere Führung und die Autonomie des „Staatsbürgers in Uniform“

Die Einleitung des Generalinspekteurs Adolf Heusinger zum Handbuch Innere Führung betonte das Problem zwischen Verregelung und Freiheit als Anforderung an die ihm unterstehenden Soldaten. Einerseits sei das Handbuch nicht unverbindlich, doch erhebe es andererseits auch nicht den Anspruch, ein für alle Zeit gültiges Dogma zu sein.[17] Das im Jahr 2018 von der Bundeswehr völlig neu herausgegebene Handbuch Innere Führung stellt sich dezidiert in die Kontinuität des 1957 erstellten Vorgängerdokuments. Die erforderlichen Tugenden für die Soldatinnen und Soldaten wie „Treue, Dienst- und Pflichterfüllung, Tapferkeit und Verteidigungsbereitschaft“ bedeuteten nicht blinden Gehorsam. Unter Verweis auf den Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 ergibt sich eine Kontinuität zum Handbuch von 1957.

Sehr viel deutlicher als in der Aufbauzeit der Bundeswehr erfolgt nun aber eine klare Abgrenzung vom NS-Regime und von der Wehrmacht als Institution; genauso wie gegenüber der Nationalen Volksarmee der DDR. Dies schließt indessen nicht aus, das frühere Angehörige dieser deutschen Streitkräfte aufgrund ihres individuellen Verhaltens eine persönliche Traditionswürdigkeit aufweisen. Dezidiert als Traditionssäule verankert ist dagegen der Militärische Widerstand des 20. Juli 1944.[18]

 

Dr. Martin Rink ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projektbereich Einsatzunterstützung am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam und Lehrbeauftragter an der Universität der Bundeswehr München.

 

Anmerkungen:

[1] Vgl. die Karte und historische Einordnung auf <https://zms.bundeswehr.de/de/mediathek/aktuelle-karte-bagration-1944-5386500>

[2] Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1951/55/ 2017], S. 780–782 (beide Zitate).

[3] Heinemann, Operation Walküre, S. 2, 67–151.

[4] Zit. nach De Maizière, In der Pflicht, S. 74.

[5] John Zimmermann, Der Militärische Widerstand. Eine historische Einordnung <https://zms.bundeswehr.de/de/mediathek/dossier-20-juli-zimmermann-widestand-5800638>

[6] Rudolf J. Schlaffer, in: Reform, S. 342.

[7] Vgl. de Maizière in Entschieden für Frieden.

[8] Thorsten Loch in Die Geschichte der Bundeswehr in 101 Objekten, S. 12–27.

[9] Himmeroder Denkschrift, S. 53–55 (alle Zitate).

[10] Handbuch Innere Führung 1957, S. 154, 169.

[11] Handbuch Innere Führung 1957, S. 34 (Kapitelüberschrift), 42 (weitere Zitate).

[12] Handbuch Innere Führung 1957, S. 83-87, 83 (Zitat).

[13] Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung 5 (1946), August 1946, S. 105-108, hier S. 107 (alle Zitate).

[14] Heinemann, Operation Walküre, S. 257–269.

[15] Handbuch Innere Führung 1957, S. 84 f.

[16] Handbuch Innere Führung 1957, S. 7–13.

[17] Handbuch Innere Führung 1957, S. 5.

[18] Handbuch Innere Führung 2023, S. 129 (1. Zitat), S. 152 f.

 

Literatur:

  • Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1951/55]. 20. Aufl., München u.a. 2017.
  • Böckenförde, Ernst Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation [zuerst 1964]. In: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt am Main 1991, S. 92–114.
  • Die Geschichte der Bundeswehr in 101 Objekten. Hrsg. von Sven Lange und Heiner Möllers. Berlin 2025 (im Erscheinen).
  • Entschieden für Frieden – 50 Jahre Bundeswehr 1955 bis 2005. Hrsg. von Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack und Martin Rink. Berlin 2005.
  • Handbuch Innere Führung. Hrsg. vom Zentrum Innere Führung. Koblenz 2023.
  • Handbuch Innere Führung. Hilfen zur Klärung der Begriffe (Schriftenreihe Innere Führung). Hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung, Führungsstab der Bundeswehr, Referat FüB I 6. [Bonn] [1957], 2. Aufl. 1960.
  • Keßelring, Agilolf und Loch, Thorsten: Himmerod war nicht der Anfang. Bundesminister Eberhard Wildermuth und die Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 74 (2015/1–2), S. 60–96.
  • Nägler, Frank: Der gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65 (Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, 9). München 2010.
  • Neitzel, Sönke: Die Bundeswehr. Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende. München 2025.
  • Radbruch, Gustav: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung 5, August 1946, S. 105–108.
  • Rautenberg, Hans-Jürgen und Wiggershaus, Norbert: Die ‚Himmeroder Denkschrift’ vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 21 (1977), S. 135–206.
  • Reform - Reorganisation - Transformation. Zum Wandel in deutschen Streitkräften von den preußischen Heeresreformen bis zur Transformation der Bundeswehr. Hrsg. von Karl-Heinz Lutz, Martin Rink und Marcus von Salisch. München 2010.
  • Rink, Martin: Die Bundeswehr. 1950/55 bis 1990 (Militärgeschichte kompakt, 6). München 2015.
  • Zimmermann, John: Pflicht zum Untergang. Die deutsche Kriegführung im Westen des Reiches 1944/45 (Zeitalter der Weltkriege, 4). Paderborn u.a. 2009.

 

 

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