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Essay

Populismus

von Prof. Dr. Uwe Backes

Konturen, Triebkräfte und Gefahren eines facettenreichen politischen Phänomens

Populismus ist ein schwer zu fassender Begriff, der in öffentlichen Debatten meist vereinfachend gebraucht wird. Im Bemühen um eine stabile Definition betonen Wissenschaftler als Hauptmerkmal die Gegenüberstellung von „wahrem Volkswillen“ und „korrupter Elite“. Dass populistische Parteien in Deutschland und Europa derzeit wachsende Erfolge erzielen, begründet der Autor mit der abnehmenden Integrationskraft gemäßigter politischer Kräfte und der mangelnden Repräsentation von Themen, die große Teile der Wählerschaft bewegen.

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Das Wort „Populismus“ ist in der politischen Alltagssprache mit so vielfältigen und teils widersprüchlichen Inhalten verknüpft, dass mitunter spöttisch von einem begrifflichen Wackelpeter die Rede ist. Kritiker geißeln Aschermittwochsreden nahezu jeder politischen Partei als „populistisch“. Politikwissenschaftler sind daher bemüht, den Begriff so zu definieren, dass aus dem Pudding eine stabile Masse wird. Allerdings gehen diese Definitionen weit auseinander – je nachdem, ob ideologische Merkmale, Ansprache- und Argumentationsformen (Diskurse, Narrative) oder Verhaltensmuster (Strategien) im Mittelpunkt stehen. Wer die akademischen Debatten der letzten beiden Jahrzehnte verfolgt, wird dabei unschwer strukturelle und inhaltliche Gemeinsamkeiten mit Diskussionen erkennen können, wie sie lange davor um Konzepte wie Extremismus und Radikalismus kreisten. Meist ging es im Kern um Anfechtungen grundlegender demokratischer Werte und Spielregeln und die damit verbundene Gefahr für den Bestand freiheitlicher Demokratien.

 

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„Weicher“ Populismus und „harter“ Extremismus“?

Im Verhältnis zum Extremismus wird oft die Janusköpfigkeit des Populismus betont, der demokratiekompatible (Betonung der Volkssouveränität, Akzeptanz der Mehrheitsregel) mit demokratieinkompatiblen (wie der antipluralistischen Unterminierung von Minderheitsrechten) Elementen verbinde (Cristóbal Rovira Kaltwasser/Cas Mudde). „Populismus“ gerät auf diese Weise begrifflich zum „verminderten Subtyp“ des Extremismus, zu einer milderen Form mit – so könnte man schlussfolgern – geringerem Gefährdungsgrad. So sinnvoll diese analytische Differenzierung erscheint, so problematisch ist ihre terminologische Konsequenz. Denn ein Gebäude kann bereits dann einstürzen, wenn nur eine einzige seiner tragenden Säulen fällt. Zudem mag der antipluralistische Impuls des Populismus die Büchse der Pandora öffnen, aus der noch andere Übel entweichen.

Die – griffige, von vielen akzeptierte – Konzeptualisierung des Populismus als „dünne Ideologie“ ermöglicht jedenfalls keine scharfe Trennung zwischen „weichem“ Populismus und „hartem“ Extremismus: Die weitaus meisten der heute agierenden rechtsextremistischen Gruppierungen, einschließlich vieler NS-affiner, lehnen die Demokratie im Sinne von Volkssouveränität und Mehrheitsregel nicht in jeder Form ab, sondern propagieren eine „wahre Demokratie“, die meist einem ethnokulturellen Reinheitsgebot folgen soll. Dies mag teilweise erklären, warum Parteien dieses Typs nicht selten mehr innerparteiliche Demokratie praktizieren, als es klischeehafte Annahmen von deren Hang zu autoritär-hierarchischen Strukturen vermuten lassen (vgl. die Beiträge in: Reinhard Heinisch/Christina Holtz-Bacha/Oscar Mazzoleni). Und umgekehrt sind gemeinhin als eher „soft“ geltende Formationen, so z.B.  Geert Wilders‘ „Freiheitspartei“ in den Niederlanden, mitunter nach dem Führerprinzip organisiert.

 

Kompatibilität mit unterschiedlichen ideologischen Strömungen

Für die meisten Autoren ist Populismus mehr als „Demagogie“ oder bloße Machteroberungsstrategie. Sie verbinden den Begriff mit einem ideologischen Kern, der mit unterschiedlichem „Fruchtfleisch“ umhüllt sein kann. Den Kern bildet die Gegenüberstellung einer „verrotteten politischen Klasse“ und eines Volkes, dessen als uniform gedachte Interessen einzig und allein von der populistischen Partei authentisch vertreten werden. Dieses Konzept gewinnt seinen Charme vor allem aus der Fähigkeit, ein breiteres Spektrum von Parteien zu umschließen, als es ein strikteres Extremismuskonzept vermag. Zudem erfasst es eine der „Pathologien“ des „demokratischen Zeitalters“: die Mobilisierung von Volksmehrheiten gegen politische, kulturelle oder soziale Minderheiten – ein Phänomen, das Liberale schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Gefahr für den Konstitutionalismus erkannten („Tyrannei der Mehrheit“).

Allerdings bedarf es, um Grauzonen und Übergangsbereiche zwischen „radikalen“ (noch demokratiekompatiblen) und „extremen“ Formationen zu durchleuchten, differenzierterer analytischer Kategorien, denn auch das Verwischen von Grenzen und die Fähigkeit zu ungewöhnlichen Bündnissen mit Akteuren außerhalb des Parteiensystems darf den Blick auf Unterschiede im ideologisch-programmatischen Profil nicht trüben. So kennt die empirische Forschung nicht nur „rechte“ und „linke“ Populismen, sondern auch Varianten, die dazwischen liegen oder Elemente beider Welten verbinden (die italienische Fünfsternebewegung gilt z.B. als „politisches Chamäleon“). Das Verhältnis zum Putin-Regime etwa spaltet weichere wie härtere Formationen rechts außen (Wondreys 2023). Parteien, für die der Antisemitismus von zentraler Bedeutung ist (wie die deutsche NPD, seit Juni 2023 „Die Heimat“), stehen anderen gegenüber, die sich zu Garanten des Existenzrechts des Staates Israel erklären (wie die deutsche AfD). Stellt das Christentum für die einen ein bedeutender positiver Bezugspunkt dar (wie bei der polnischen PiS oder der spanischen Vox), verwenden andere das „christliche Abendland“ vorwiegend als propagandistisches Instrument im Kampf gegen „den Islam“. Während einige den Kräften des freien Marktes hohes Vertrauen entgegenbringen, zeigen andere die Bereitschaft zu vehementen Eingriffen in den ökonomischen Wettbewerb. Bestreiten viele Rechtspopulisten die These vom menschengemachten Klimawandel, sehen andere (wie Finnlands Finanzministerin Riikka Purra, Die Finnen/Perussuomalaiset) in ihm eine ernste Bedrohung.

Mehr oder weniger ausgeprägte Europaskepsis eint rechts- und linkspopulistische Parteien, wobei die einen den Austritt aus der EU, die anderen die Transformation der EU von innen heraus propagieren. In ihren politischen Positionsbestimmungen legen viele der als populistisch geltenden Parteien allerdings ein hohes Maß an opportunistischer Anpassungsbereitschaft gegenüber einer sich verändernden politische Nachfrage auf dem Wählermarkt an den Tag. Weder der Grad des Populismus noch der des Radikalismus oder Extremismus kann diese Fähigkeit erklären. Offenbar sind Populismus wie Extremismus mit unterschiedlichen ideologischen Strömungen kompatibel, sogar solchen, die nicht generell als demokratiefreundlich oder -feindlich zu charakterisieren sind. Wenn wir auf das Etikett nur Populismus schreiben, wissen die „Konsumenten“ nicht genau, ob sich in der Flasche Bier, Whisky oder Limonade befindet.

 

Erklärungsansätze für den Erfolg

So unterschiedlich die Populismen, so verschieden sind die Gründe ihres politischen Erfolgs. Entscheidend ist die Fähigkeit, eine politische Nachfrage zu befriedigen, auf die Wettbewerber im Parteiensystem nicht mit einem attraktiven Angebot reagieren (können). Wie diese Nachfrage entsteht, ist Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Lange Zeit dominierten Ansätze, die sozial-ökonomische Faktoren wie die Krisen und den „unerbittlichen Konkurrenzkampf“ des „kapitalistischen Systems“, die strukturellen Verwerfungen des Wandels von der industriellen zur „postindustriellen Gesellschaft“ oder die Schattenseiten fortschreitender Globalisierung hervorhoben. In Zeiten mit sinkender Kaufkraft und steigenden Arbeitslosenzahlen gewinnen solche Ansätze an Plausibilität. Populistische Parteien erzielten Erfolge oft aber auch in Perioden konjunkturellen Aufschwungs und wachsender Erwerbseinkommen. Folglich traten kulturelle Erklärungsfaktoren wie der „Wertewandel“ (Materialismus/Postmaterialismus) oder die Konfliktlinie zwischen „Kosmopoliten“ und „Kommunitaristen“ in den Vordergrund (zur Kritik: Frank Decker 2022). Die Überbetonung kultureller Faktoren kritisierte wiederum der Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow. Diese seien vielmehr mit sozial-ökonomischen untrennbar verbunden. Das zeige sich, sobald man nicht nur den Rechtspopulismus, sondern auch den Linkspopulismus in den europaweiten Vergleich integriere. Denn Linkspopulisten seien besonders in solchen Ländern (wie Griechenland und Italien) erfolgreich, wo die Unternehmen überwiegend auf die Befriedigung der Binnennachfrage zielten und Immigranten nur schwer in den Genuss von Sozialleistungen gelangten, während Rechtspopulisten vor allem in exportstarken Ökonomien (wie Deutschland oder den Niederlanden) reüssierten, in denen der Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen relativ offen sei.

Ökonomische, soziale und kulturelle Rahmenbedingungen können einen mehr oder weniger fruchtbaren Boden für den Aufstieg von Populismen bereiten, diesen allein aber nicht erklären. Beachtung erfordern spezifische Akteursfähigkeiten, die es Parteien erst ermöglichen, sich bietende Gelegenheiten effektiv zu nutzen. Charismatische Führung kann hilfreich sein, ist aber – wie die AfD zeigt – keine notwendige Bedingung. Gleiches gilt für Frauen an der Parteispitze, die in einigen Ländern (Dänemark, Frankreich, Finnland, Italien) zumindest zweitweise die Erfolgschancen erhöhten. Offenbar gelingt es weiblicher Führung häufig besser, das Image „harter Hunde“ aufzuhellen. Denn allzu große Nähe zu den Faschismen der Zwischenkriegszeit ist ein seit langem bekannter Wettbewerbsnachteil. Selbst weibliche Wähler scheinen unter solchen Bedingungen in höherem Maße zur Wahl rechtspopulistischer Parteien zu neigen. Jedenfalls scheint sich in Frankreich die Geschlechterkluft („gender gap“) zu verringern. Marine Le Pen hat vorgemacht, wie eine als rechtsextrem verschriene Partei durch Dédiabolisation (Entteufelung) Salonfähigkeit gewinnt und sich für breitere Wählerschichten öffnet. Folglich musste Alice Weidel den Gang nach Paris antreten, um angesichts der Enthüllung angeblicher Pläne massenhafter „Remigration“ von „Passdeutschen“ um Absolution und die Aufrechterhaltung der guten Kooperationsbeziehungen von AfD und Rassemblement National auf europäischer Ebene innerhalb der Fraktion „Identität und Demokratie“ im Europäischen Parlament zu bitten.

 

Repräsentationslücken begünstigen Populismus

Seit Anfang der 1970er Jahre lassen sich in Europa verschiedene Welle populistischer Mobilisierung mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten unterscheiden. Jede Welle war von Wahlerfolgen in einzelnen Ländern geprägt, die oft ähnliche Entwicklungen in anderen auslösten. Dass die Etablierung rechtspopulistischer Parteien auf nationaler Ebene in Deutschland, Spanien und Portugal lange Zeit unterblieb, erklärte man mit der Immunisierungswirkung historischer Erfahrungen mit inhumanen Rechtsdiktaturen. Aber auch in diesen Ländern verzeichnen rechtspopulistische Parteien inzwischen große Erfolge – weil die Prägekraft historischer Erinnerung nachlässt, vor allem aber, weil Ähnlichkeiten zu historischen Vorläufern weniger ausgeprägt erscheinen.

Jedoch lässt sich der Aufstieg populistischer Parteien in vielen europäischen (und außereuropäischen Ländern) nicht mit einem einzigen Faktor erklären, sondern erfordert eine Betrachtung der Wettbewerbsbedingungen der Parteiensysteme in jedem einzelnen Land. Unterschiedliche Wahlsysteme (Mehrheitswahl/Verhältniswahl), subnationale Territorialstrukturen (Zentralismus/Föderalismus) und Demokratieschutzkonzepte können mehr oder weniger große Hürden für Newcomer errichten. Wo Parteien der Mitte oder der gemäßigten Rechten und Linken integrationsstark sind, haben es populistische Konkurrenten schwer. Wo Volksparteien erodieren, eröffnen sich Aufstiegschancen. Erfolge linkspopulistischer Parteien können den Aufstieg rechtspopulistischer begrenzen – eine Hoffnung, die viele Beobachter in Deutschland vor der Europawahl 2024 mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) verbinden.

Länderübergreifend gilt: Erfolgreiche Populismen bedienen eine unbefriedigte Nachfrage, schließen also „Repräsentationslücken“ – während etablierte demokratische Parteien oft dabei scheitern, ihnen durch die kompetente Besetzung von Themen (das meinte der in den USA lehrende Populismusforscher Cas Mudde mit „populistischem Zeitgeist“) Wasser abzugraben. Denn viele Wähler scheinen geneigt, dem Original den Vorzug vor der Kopie zu geben. Zu den mobilisierungsträchtigsten Themen zählt die Migration, die immer dann, wenn sie stark steigt und nicht ausreichend gesteuert werden kann, Wasser auf die Mühlräder des Populismus leitet. Überall in der EU ziehen rechtspopulistische Parteien Wähler an, die eine restriktivere Immigrationspolitik befürworten. Meist ist diese Haltung mit einer überwiegend negativen Einschätzung der Leistungen der europäischen Institutionen auch auf anderen Gebieten verbunden.

Zudem hat die Multiplizierung von Krisen (Euro, Corona, Ukraine-Krieg, Klimawandel) mit erheblichen Folgen für die Lebensqualität und das existentielle Sicherheitsempfinden von Menschen politische Polarisierung begünstigt und die Gelegenheitsstrukturen populistischer Parteien verbessert. Früher als ihre gemäßigteren Konkurrenten haben sie die Vorteile der kommunikativen Revolution genutzt, sich frühzeitig in Sozialen Medien engagiert, um die Kommunikationsbarrieren im Bereich der etablierten Formate zu umgehen – und im Netz ideale Bedingungen vorgefunden, um auf lange Zeit nahezu kontrollfreiem Gelände Ängste, Hass und Ressentiments zu schüren. In den Sumpf der niederen Instinkte können und sollten demokratische Parteien ihren populistischen Konkurrenten nicht folgen. Nur wenn es ihnen gelingt, die erlittenen Vertrauensverluste bei Teilen der Wählerschaft durch Kompetenz und überzeugende politische Performanz zu kompensieren, wird es auf mittlere Sicht möglich sein, den Siegeszug des Populismus zu stoppen und eine Dekonsolidierung demokratischer Verfassungsstaaten (nach dem Muster Polens und Ungarns in der Ära Kaczyński und Orbán) zu verhindern.

Prof. Dr. Uwe Backes ist Stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden

 

Literatur:

  • Backes, Uwe/Moreau, Patrick: Europas moderner Rechtsextremismus. Ideologien, Akteure, Erfolgsbedingungen und Gefährdungspotentiale. Göttingen 2021.
  • Decker, Frank: Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: eine neue Konfliktlinie in den Parteiensystemen?, in: Zeitschrift für Politik 66 (2019), Heft 4, S. 445–454.
  • Heinisch, Reinhard/Holtz-Bacha, Christina/Mazzoleni, Oscar (Hrsg.): Political Populism. Handbook of Concepts, Questions and Strategies of Research. 2. Aufl., Baden-Baden 2021.
  • Manow, Philip: Die Politische Ökonomie des Populismus. Berlin 2018.
  • Mudde, Cas: The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition 39 (2004), Heft 4, S. 541–563.
  • Mudde, Cas/Kaltwasser, Cristóbal Rovira: Populismus. Eine sehr kurze Einführung. Bonn 2019.
  • Oswald, Michael (Hrsg.) (2022). The Palgrave Handbook of Populism, Cham.
  • Pirro, Andrea L. P. (2023). Far right: The significance of an umbrella concept, in: Nations and Nationalism 29, S. 101-112.
  • Wondreys, Jakub (2023). Putin’s puppets in the West? The far right’s reaction to the 2022 Russian (re)invasion of Ukraine, in: Party Politics, Online, Oktober.

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