Geschichtsbewusst: Sehr geehrter Herr Schuster, am 12. Mai 2025 blicken wir zurück auf die sechzigjährige Geschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf dieses Jubiläum?
Josef Schuster: Wir erleben in diesen Tagen, wie wichtig die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen und die Bildung dieser engen Partnerschaft der Bundesrepublik mit dem jüdischen Staat war. Ohne diese historische Grundlage, die wir auch der Initiative einzelner Politiker wie Konrad Adenauer oder David Ben-Gurion verdanken, wären die Herausforderungen unserer Zeit kaum zu bewältigen. Ich bin also dankbar für die engen Beziehungen.
Wie beurteilen Sie, jenseits der offiziellen politischen Kontakte, den zivilgesellschaftlichen Austausch zwischen den beiden Ländern und welche Bedeutung kommt ihm Ihrer Ansicht nach zu?
Der Austausch jenseits der dafür notwendigen politischen Kontakte ist der eigentliche Kitt zwischen den beiden Ländern. Er ist enorm wichtig und muss gerade in diesen Zeiten weiter gefördert werden. Schüleraustausche, Jugendbegegnungen oder andere Programme dürfen niemals politischen Spannungen zum Opfer fallen. Dass es seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder wegen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes Probleme mit Genehmigungen für Besuche, beispielsweise von Schülern, Lehrkräften oder Hochschulangehörigen nach Israel gibt, ist nicht gut.
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Ezer Weizmann sprach 50 Jahre nach Kriegsende und 30 Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen am 16. Januar 1996 als erster israelischer Staatspräsident nach der Wiedervereinigung vor dem Deutschen Bundestag, der damals noch in Bonn tagte. Er hielt seine Rede in hebräischer Sprache und erinnerte an die Millionen Kinder und Erwachsene, die die Deutschen ermordet hatten. Offen sprach er davon, wie schwer ihm der Besuch falle. Wie sehr bestimmt aus Ihrer Sicht heute, beinahe 30 Jahre nach dieser Rede, die Erinnerung an die Shoa die deutsch-israelischen Beziehungen und wie blicken gerade die jüngeren Israelis auf die deutsch-jüdische Geschichte?
Gerade junge Israelis haben einen viel unverkrampfteren Blick auf Deutschland, als wir uns manchmal denken. Sie haben großes Interesse daran, das heutige Deutschland kennenzulernen und auf Spurensuche nach ihren Vorfahren zu gehen. In Israel wird Deutschland auch als Partner Israels, in dem Bestreben die Erinnerung an die Schoa wachzuhalten, gesehen. So bedeutend die Schoa für die deutsch-israelischen Beziehungen ist, dürfen wir zudem niemals vergessen, dass wir mit Israel auch unsere demokratischen und gesellschaftlichen Werte teilen.
2015 äußerten Sie angesichts des 50. Jahrestags der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland bei der Jüdischen Woche in Leipzig, die Stimmung gegenüber Israel sei derzeit in Deutschland nicht gut. Wenn Sie nun zehn Jahre zurückblicken, wie beurteilen Sie Ihre damaligen Worte? Was hat sich Ihrer Meinung seither verändert und wie ordnen Sie die Reaktionen in Deutschland auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 ein?
Nach dem 7. Oktober 2023 müssen wir vieles neu bewerten. Die Solidarität der politischen Spitzen hier in Deutschland war erstmal hoch und sie war aus meiner Sicht auch ehrlich. Ähnlich habe ich es in der breiteren Gesellschaft wahrgenommen. Im Zeitverlauf wurde dann leider vieles brüchig. Ich hatte das erwartet, gerade angesichts der stark emotionalisierenden Bilder aus Gaza und einer großangelegten Propagandawelle, vor allem über Social Media. In den Vereinten Nationen hätte ich mir eine klarere Position der Bundesrepublik gewünscht, ohne Frage. Klar wurde auch, dass 10 Jahre nach meiner Aussage in Leipzig sich eine negative Grundhaltung gegenüber Israel in der Mitte unserer Gesellschaft bis hin zu großen Teilen der medialen Landschaft zu verfestigen droht. Israel ist das am meisten kritisierte Land in der deutschen Presse – vor den Diktaturen unserer Welt.
Können Sie etwas dazu sagen, wie die wachsende politische Polarisierung in der Bundesrepublik und der Zuspruch, den die AfD erfährt, in Israel wahrgenommen werden?
Meine Wahrnehmung ist, dass Israel aus guten Gründen sehr zurückhaltend mit der Bewertung innerer Zustände anderer Länder ist. Klar ist aber auch, dass nationalistische Tendenzen in Deutschland und eine Verachtung der Erinnerungskultur – also Punkte, die ich ganz klar mit der AfD verbinde – in weiten Teilen in Israel große Irritationen hervorrufen. Auch in Israel gibt es hingegen radikale Kräfte, die leider politisch an Bedeutung gewonnen haben. Das sind beunruhigende Tendenzen, die zeigen, dass wir in beiden Ländern bei allen inhaltlichen Unterschieden mit ganz ähnlichen gesellschaftlichen Herausforderungen zu kämpfen haben.
Friedrich Merz äußerte in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen am 10. Februar 2025, unter seiner Führung werde der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unbehelligt nach Deutschland reisen können. Gegen Netanjahu liegt ein Strafbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen angeblicher Verbrechen im Gazakrieg vor. Tut Merz das Richtige?
Friedrich Merz hat gesagt, es sei unvorstellbar, dass ein Repräsentant Israels nicht mehr in die EU einreisen könne. Dem stimme ich zu.
Die Fragen stellte Dr. Christine Bach.