Die Diagnose der deutschen Gesellschaft durch den Arzt Josef Schuster ist gleichermaßen nüchtern und richtig. Sein Befund: „Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land“. Der Präsident des „Zentralrats der Juden in Deutschland“ gehört nicht zur Garde der tonangebenden Funktionäre und Politiker. Schuster ist kein Jurist oder Sozialwissenschaftler, der unmittelbar nach dem Studium in einen Verband eingetreten ist, um dort rasch die Stufenleiter zu erklimmen – ohne dabei die Wirklichkeit des Lebens kennenzulernen. Oder eines Berufspolitikers, der die Ochsentour über Orts- und Landesverbände machte, und dabei so lange abgeschliffen wurde, dass er oder sie dabei rund und eckenlos, wie ein Kieselstein geschliffen wurde. Josef Schuster dagegen steht mitten im Leben. Er studierte Medizin in seiner Heimatstadt Würzburg. Danach ließ er sich dort zum Facharzt für Innere Krankheiten ausbilden und baute eine internistische Praxis auf. Zusätzlich arbeitete er alle zwei Wochen als Notfallmediziner. Nach 32 Jahren gab Schuster seine Praxis ab. Das hindert den 71-jährige Mediziner nicht, weiterhin regelmäßig bei Rettungseinsätzen Notfallpatienten zu versorgen. Der passionierte Arzt hat auf diese Weise den Querschnitt der Bevölkerung kennengelernt und weiß, was die Menschen brauchen und worunter sie leiden. Das ist Praxis im Wortsinn – kein Politikspeech wie es in der famosen Rede eines Parteichefs anklang, der seine Genossen aufforderte, dahin zu gehen „wo es stinkt“, also wo das Leben pulsiert und es den Menschen mitunter schlecht geht – wobei allzu viele Politprofis, vom Wahlkampf abgesehen, längst vergessen haben, wo die Bürger der Schuh drückt, geschweige denn, wie Arbeitsschweiß und Armut riechen. Schuster dagegen kennt das Dasein der Normalbürger und ihre existentiellen Sorgen. Aus diesem Grund genießt er wie kaum ein zweiter in Deutschland hohe Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung.
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Das vorliegende Buch enthält eine Auswahl von Reden und Interviews zwischen dem 7. Oktober 2023 – dem Tag, an dem Kämpfer der islamistischen Terrorverbände Hamas, Islamischer Dschihad und Mitläufer, israelische Ortschaften am Rande des Gazastreifens überfielen. Dabei ermordeten sie mehr als 1100 vorwiegend Zivilisten, missbrauchten hunderte Frauen, tausende Bewohner, darunter Kinder wurden verwundet, 250 Geiseln ins arabische Gebiet verschleppt, wo die meisten gefoltert und ermordet wurden – und dem Beginn des Jahres 2025. In dieser existentiellen Krise, die weiterhin weltweite Auswirkungen hat, gibt Schuster den deutschen Juden eine Stimme. Er drückt aus, was Juden und Christen ängstigt und plagt. 75 Prozent der knapp 100 000 Hebräer werden von Furcht geplagt. Vor körperlicher Gewalt, vor Misshandlung, Bedrohung, Unterdrückung, Mobbing. Das ist sind keine eigebildeten „Judenleiden“, sondern reale Straftaten, die nur in seltenen Fällen verfolgt werden. Josef Schuster ist nicht der Mann, die Ursachen diplomatisch zu verbrämen, um sich Lieb Kind zu machen. Der Arzt analysiert und nennt das Krankheitsbild beim Namen: militanter Antisemitismus. Der Bodensatz der in Deutschland über Dekaden bestehenden Judenfeindschaft erfuhr in den letzten Jahren trotz Aufklärung eine stetige Belebung und eine vehemente Verstärkung durch eingewanderte Islamisten aus arabischen und islamischen Ländern, Hasspredigten in radikalen Moscheen und eine entsprechende Erziehung sowie eine anwachsende linksradikale, antiisraelische Strömung. Der Verfassungsschutz warnt seit Jahren vor diesen Tendenzen, verantwortliche Politiker stimmten zu – und taten wenig dagegen. Das Pogrom des 7. Oktober, die furchtbarste judenfeindliche Aktion seit der Schoa, diente den unterschiedlichen Judenfeinden als Initialzündung: der überkommene rassistische Antisemitismus, der islamistische Judenhass und der sich links titulierender Antizionismus potenzierten sich. Die Antisemiten von Linksaußen bis Rechtsextrem, speziell die Islamisten, versuchten nach der Mordorgie des 7. Oktober ihre Genugtuung mit der übrigen Gesellschaft zu teilen. Süßigkeiten wurden verteilt. Josef Schuster reagierte kämpferisch – und tut es bis heute. Er bettelte nicht um Mitleid. Vielmehr hielt er der deutschen Gesellschaft den Spiegel vor. Wenn ihr das zulasst, dann leiden nicht nur die Juden. Dann gehen Freiheit und Menschenwürde allenthalben kaputt. Denn ihr lasst zu, dass die vom Wiener Philosophen Karl Popper gepriesene „offene Gesellschaft“ vor euren Augen zerstört wird. Jeder, der Schuster erlebt hat, weiß dessen ausgeglichenes Wesen zu schätzen. Aber hier verlor der Arzt seine Geduld. Denn die Bedrohung der jüdischen Gemeinschaft ist eine Attacke auf unser aller Freiheit. Zumal Putins Russland, ermutigt durch die Tatenlosigkeit der westlichen Demokratien, durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine unsere Länder in die Zange nimmt.
Josef Schuster hat bereits während der XV. Documenta in Kassel 2022 vor dem Missbrauch der Freiheit für antisemitische Hasspropaganda gewarnt. Die Mahnung wurde von der grünen Staatsministerin Claudia Roth zunächst in den Wind geschlagen. So lange, bis ihr nichts mehr übrigblieb, als dem unübersehbaren Unheil Einhalt zu gebieten. Später wurde in ihrem Haus der Versuch unternommen, die Juden, mit anderen Opfergruppen über einen Kamm zu scheren. So sollte die Einmaligkeit des Nazi-Völkermordes ausgehöhlt werden. Dagegen protestiert Schuster deutlich: „Die Schoa, der industrielle Massenmord […] duldet keine Relativierung.“ Er betont die Konsequenzen: „Ein bestimmtes Milieu will von der Verantwortung für Israel nach der Schoah nichts wissen.“ Der Präsident des Zentralrats hat sich im Gegensatz zu vielen Politikern nicht damit abgefunden, dass linksradikale Agitatoren an Universitäten vielfach das Ruder übernommen haben, die Orte von Forschung und Lehre zerstören, Juden und Andersdenkende einschüchtern, während manche Forscher- und Experten von eigenen Gnaden diese Hasskundgebungen mit dem Krieg in Nahost rechtfertigen wollen.
Josef Schuster weiß, dass die Juden allein Deutschlands Demokratie und Freiheit nicht retten können. Aber sein Selbstwertgefühl ist groß genug zu erkennen, dass die Hebräer durchaus die Glaubwürdigkeit und er selbst die moralische Kraft und das Ansehen in der Bevölkerung besitzen, die Bürger vor der antisemitischen- und damit der allgemeinen Krise unserer Demokratie zu warnen und so bei der Bewahrung von deren Integrität zu helfen.
Dieses Buch beweist, dass wir mehr Menschen mit einem moralischen Kompass brauchen, der jenem Josef Schusters gleicht.
Rafael Seligmann ist Historiker, Politologe, Schriftsteller und Journalist. Im September wird sein Buch: „Keine Schonzeit für Juden“ erscheinen.