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Rezension

Eine neue deutsche Frage?

von Dominik Geppert

"Angesichts der wachsenden Entfremdung von den USA und der Bedrohung durch Russland befürwortet Münkler die Selbstermächtigung Europas zu einer eigenständigen strategischen Kraft."

Herfried Münkler: Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Rowohlt Berlin, 2025.

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Die deutsche Frage, so ist für gewöhnlich zu hören, gibt es nicht mehr. Sie sei ein für alle Mal beantwortet – und zwar auf dreifache Weise. Mit der Westbindung der Bundesrepublik sei die Zeit antidemokratischer Sonderwege beendet. Die Wiedervereinigung habe die Frage der deutschen Grenzen auch im Osten geklärt. Und die europäische Integration habe das Problem deutscher Übermacht auf dem Kontinent supranational eingehegt. Der emeritierte Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler vertritt in seinem neuesten Buch die Gegenthese. Für ihn gibt es eine neue deutsche Frage. In ihr spielen demokratische Normen, die Akzeptanz von Grenzen und die europäische Einigung zwar ebenfalls eine Rolle. Im Kern aber geht es um Geopolitik.

 

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Die Herausforderung besteht aus Münklers Sicht darin, dass sich die Bundesrepublik als größtes und wirtschaftlich potentestes Land der Europäischen Union zwischen drei geopolitischen Optionen entscheiden muss. Sie könne entweder die Westbindung fortsetzen, mit dem atlantischen Wirtschaftsraum als Zentrum und den Vereinigten Staaten von Amerika als mal mehr, mal weniger wohlwollendem Hegemon. Oder sie könne sich als Teil eines eurasischen Großraums nach Osten orientieren, Russland nicht nur als Rohstofflieferant nutzen, sondern auch als militärische Vormacht anerkennen und die eigene Rolle als ökonomisch hochentwickelter, aber politisch einflussloser Randsaum eines eurasischen Imperiums akzeptieren. Als dritte Variante nennt der Autor einen eigenständigen Weg Europas zwischen Ost und West – mit Deutschland als ausgleichender Macht in der Mitte, die politische Führungsverantwortung übernimmt und den Kontinent zusammenhält.

 

Deutschland in der Bredouille

Die Problemlage, die Münkler beschreibt, ist uralt. Entsprechend weit holt er in seiner ideenhistorischen Einordnung aus. Als Vordenker des Konzepts einer europäischen Mitte, die sich gegen Bedrohungen von außen behauptet, nennt er den politischen Publizisten Constantin Frantz. Dieser hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts die europäische Mission der Deutschen darin erblickt, in Anknüpfung an das Alte Reich vor 1806 ein multinationales Imperium als Schutzraum der kleinen Nationen zu errichten und gegen das Vordringen nationalstaatlicher Ordnungsmodelle zu verteidigen. Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Buch aus dem Ersten Weltkrieg gehört für Münkler ebenfalls in die geopolitische Traditionslinie einer unabhängigen, freilich bei Naumann nationalstaatlich organisierten, Mitte als möglichst blockadefestem Wirtschaftsraum, der sich vor Angriffen aus Ost und West zu schützen suchte.

Die Denkschule einer Ausrichtung nach Osten reicht bis zur preußischen Juniorpartnerrolle gegenüber Russland zurück. Sie bestimmte noch die Vorstellungswelt Wilhelms I. als deutscher Kaiser und lässt sich, wenn man will, sogar aus dem ganz geheimen Zusatzprotokoll des von Bismarck ausgehandelten Rückversicherungsvertrages herauslesen. Der Rapallo-Vertrag zwischen der Weimarer Republik und Sowjetrussland aus dem Jahr 1922 und die klandestine Kooperation der Reichswehr mit der Roten Armee gehören ebenfalls in diese Traditionslinie, viel mehr noch die Politik strikter Gefolgschaft gegenüber Moskau, die das SED-Regime nach 1945 über vier Jahrzehnte praktizierte und die heute ihren Nachhall in der Anbiederung der extremen Rechten und Linken in Deutschland an die Putin-Diktatur findet.

Die Westbindung der Bundesrepublik, die Konrad Adenauer ins Werk setzte, ist demgegenüber in der Geschichte des geopolitischen Denkens eher flach verwurzelt. Sie verdankt sich der geopolitischen Revolution, die der Ost-West-Konflikt nach 1945 auslöste. Den Grund für die Fragilität des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges sieht Münkler nicht nur in einer durch die Folgen der Globalisierung und den Aufstieg Chinas veränderten Weltlage. Er weist auch politischen Fehlentscheidungen und gegensätzlichen Mentalitäten in Europa und den USA eine Teilschuld zu.

 

Illusionen der Europäer

Die Amerikaner verloren Münkler zufolge in hektischen Kehrtwenden ihre langfristigen Interessen aus den Augen: nach dem 11. September 2001 zunächst in den Militärinterventionen im strategisch nachrangigen Mittleren Osten, dann in der Fixierung auf die Rivalität mit China. Darüber vernachlässigten sie die Beziehung zu Europa und ließen zu, dass eine Achse Peking-Moskau entstand. Die Europäer hingegen hätten sich in einer „generalisierten Sorglosigkeit“ aus der Weltpolitik verabschiedet, die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges verprasst und sich in einer von globalen wirtschaftlichen Verflechtungen bestimmten Welt immerwährenden Friedens sicher gewähnt. Die USA schwächten den Westen, so Münkler, „indem sie kurzfristigen Herausforderungen den Vorzug gegenüber langfristigen geopolitischen Entwürfen gaben; die (meisten) Europäer haben die Allianz des Westens vernachlässigt, indem sie auf ultralange Trends setzten, die sich dann aber doch nicht realisierten, und sie glaubten, Zeit im Überfluss zu haben“ (S. 265).

Münkler hat sein Buch fertiggestellt, bevor die krassesten Überdehnungen der imperialen Präsidentschaft in Donald Trumps zweiter Amtszeit sichtbar wurden. Seither sind auch erhebliche normative Differenzen zu konstatieren: Viele Europäer sehen Trumps Amerika auf direktem Weg in eine autoritäre und korrupte Oligarchie, wenn nicht Schlimmeres, während EU-Europa manchen in den USA als abschreckendes Beispiel für eine verweichlichte, von Migranten überflutete Wohlfahrts-Dystopie postnationalen Zuschnitts erscheint.

Aus der Sicht des russischen Regimes ist die EU mit ihrer Betonung von liberalem Individualismus und menschenrechtlichem Universalismus ebenfalls ein ideologisches Feindbild. Hinzu kommt jedoch, wie Münkler betont, ein zäh verfolgtes geopolitisches Ziel des russischen Diktators, das bei Lichte betrachtet bis zu Putins Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 zurückreicht: das transatlantische Bündnis zu sprengen, die USA aus Europa hinauszudrängen und einen unter Moskaus Führung stehenden eurasischen Machtblock zu etablieren. Vor diesem Hintergrund deutet Münkler den Überfall auf die Ukraine als ersten Schritt in einem größeren Plan. Er sieht darin eine strategische Wendung Russlands Richtung Westen, für die Putin und andere Ideologen des Eurasismus auch bereit seien, Einflussverluste in Zentralasien und eine wachsende Abhängigkeit von China hinzunehmen.

 

Selbstermächtigung Europas und Deutschland als „dienender Anführer“

Angesichts der wachsenden Entfremdung von den USA und der Bedrohung durch Russland befürwortet Münkler die Selbstermächtigung Europas zu einer eigenständigen strategischen Kraft. Hierzu sei jedoch nicht nur eine tiefgreifende Reorganisation der EU mit dem Ziel einer Entbürokratisierung und Stärkung der politischen Handlungsfähigkeit erforderlich. Nötig sei auch eine grundsätzliche „Neubestimmung des geostrategischen Verhältnisses zum globalen Süden“, aus dem Europa künftig die Rohstoffe und Energieträger beziehen müsse, auf die es angewiesen sei (S. 179).

Münkler schwebt eine EU variabler Geometrie und verschiedener Geschwindigkeiten vor. Zusätzlich zum Euro- und Schengenraum solle in einem weiteren Kreis ein um Deutschland gruppiertes, stärker integriertes Kerneuropa größerer Mitgliedstaaten geschaffen werden, zu dem neben Frankreich und Polen auch Italien und/oder Spanien sowie ein skandinavisches Land gehören würden, um die Sicherheits- und Außenpolitik der Union für die anderen Staaten mitzubestimmen.

Die Bundesrepublik sieht der Autor dazu berufen, diese Transformation voranzutreiben. Sie soll unter Hintanstellung eng verstandener Eigeninteressen als servant leader die notwendigen Kompromisse zum Wohle des großen europäischen Ganzen schmieden. Die Unsicherheit, ob sich das Land dieser Aufgabe gewachsen zeigen wird, erachtet Münkler als die neue deutsche Frage. Das aktuelle Problem der deutschen Politik in Europa besteht für ihn darin, „dass sie eher abwarten als Entscheidungen treffen will und sich wiederholt als führungsunwillig gezeigt hat, wo politische Führung dringend notwendig gewesen wäre und von anderen auch angemahnt wurde. Das Problem, das die EU mit der deutschen Politik hat, ist deren Zurückhaltung, die Langsamkeit ihrer Entscheidungen, die fast immer zu spät fallen, und ihre große Zögerlichkeit beim Vorgehen gegen äußere Gegner“ (S. 310).

So überzeugend Münklers Problemdiagnose ist, stellen sich bei der Therapie, die er vorschlägt, doch einige Fragen: Überschätzt er nicht die deutsche Populismusresistenz, wenn er die Bundesrepublik zum dienenden Führen berufen sieht, weil die Wahlbevölkerung hierzulande pro-europäischer eingestellt sei als anderswo? Vernachlässigt er in der Analyse der heraufziehenden neuen Weltordnung nicht deren nukleare Dimension, wenn er die strategische Autonomie Europas in dieser Hinsicht vor allem auf die relativ kleine Force de frappe gründet? Unterschätzt er nicht die Bereitschaft und Fähigkeit pro-russischer EU-Mitglieder wie Ungarn und der Slowakei, die von ihm gewünschte Reform zu blockieren? Würden nicht auch andere kleinere Mitgliedstaaten sich weigern, die Entscheidung über Krieg und Frieden an einen Club der Großen in der EU zu delegieren? Kommt nicht auch Großbritannien als Nuklearmacht und der Türkei wegen ihrer Lage am – auch von Münkler als strategisch bedeutsam eingeschätzten – Schwarzen Meer zentrale Bedeutung für die Selbstbehauptung Europas zu?

Wäre es nicht aus all diesen Gründen sinnvoller und realistischer, Europas künftige Außen- und Sicherheitspolitik in zwischenstaatlicher Zusammenarbeit zu organisieren – idealerweise mit den Vereinigten Staaten in der NATO, zur Not auch ohne sie? Derartige Fragen zu stellen, ist leichter, als sie zu beantworten. Dass Herfried Münkler dazu anregt, die Echokammern der herkömmlichen Debatten zu verlassen und den Blick auf die langen geopolitischen Linien zu richten, ist sein großes Verdienst. Man wüsste hierzulande sonst kaum jemanden, der dazu wie er imstande wäre.

 

Prof. Dr. Dominik Geppert ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam.

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Buchcover "Macht im Umbruch" Rowohlt Verlag, Hamburg

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