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Länderberichte

Mexiko kommt nicht zur Ruhe

von Frank Priess
Bombenanschläge in der Hauptstadt – Angespannte Lage in Oaxaca – Unklarheit über Zeremonie der Amtsübergabe – López Obrador mit „Schattenkabinett“.

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Seit dem „fürchterlichen Jahr 1994“ mit seiner Wirtschaftskrise, dem Zapatistenaufstand in Chiapas und der Ermordung eines PRI-Präsidentschaftskandidaten hat Mexiko nicht so turbulente 10 Monate erlebt wie seit Beginn des Jahres 2006. Das ist jedenfalls die Meinung von Jorge Volpi, einem bekannten mexikanischen Publizisten und Beobachter der politischen Szenerie. An Anhaltspunkten für die Bestätigung dieser These mangelt es in der Tat nicht. Den letzten lieferten in der Nacht vom 5. auf den 6. November mehrere Bombenanschläge, die die mexikanische Haupstadt erschütterten. Betroffen waren die Installationen des Wahlgerichts TRIFE, das Parteihauptquartier der PRI und eine Bankfiliale. Obwohl „nur“ Sachschaden entstand und sich bisher niemand unmittelbar zu den Terrorakten bekannte, haben sie symbolische Bedeutung für ein eigenartiges Klima der Gewalttoleranz und sinkender Hemmschwellen kurz vor der Amtsübernahme des neugewählten Präsidenten Felipe Calderón am 1. Dezember und zum Ausklang der sechsjährigen Amtszeit von Vicente Fox.

Oaxaca: Mexikos Probleme unter dem Brennglas

Das deutlichste Anschauungsmaterial liefert der seit rund vier Monaten andauernde und aus einem Lehrerstreik entstandene Konflikt im Bundesstaat Oaxaca. Unbestreitbare soziale Probleme, überkommen autoritäre Politikstrukturen, Kazikentum und Korruption lieferten den Nährboden für eine Protestbewegung, die vor allem die Provinzhauptstadt vollständig lahmlegte. Von funktionierenden Institutionen dort ist schon lange nicht mehr die Rede, eine bunte und zum Teil überaus gefährliche Mischung innerhalb der sogenannten „Volksversammlung des Volkes von Oaxaca“ (sic!), APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca) übt für alle sichtbar Selbstjustiz: Man „urteilt“ vor Volksgerichten mutmaßliche „Verbrecher“ ab, man stürmt und räumt die Büros staatlicher Verwaltungsstellen, man kontrolliert an Barrikaden den freien Durchgang der Bürger. Währenddessen tagen die Vertreter des demokratischen Staates im Verborgenen, ebenso wie die Gerichte.

Zwischenzeitlich trug die APPO den Konflikt auch in die Bundeshauptstadt, wo in der Umgebung des Senatsgebäudes auf offener Straße kampiert wird – eine Art des Protestes, die man hier ja gewöhnt ist, spätestens seit es Anhängern des gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador im Namen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit mehr als sechs Wochen lang gestattet wurde, die Hauptverkehrsachse der Stadt lahmzulegen, als Zeichen „gewaltfreien und pazifistischen Widerstandes“. Diese Art des Rückzuges des Rechtsstaates – auch von seiten der Bundesregierung - mit dem Versuch schierer „Deeskalation“ und friedlicher Konfliktlösung zu erklären, ist dabei mehr als euphemistisch – vielmehr pflastert sie den Weg in eine sich möglicherweise immer schneller drehende Gewaltspirale.

Die Forderung nach dem Rücktritt von Gouverneur Ulises Ruiz in Oaxaca – einer der letzten sogenannten PRI-Dinosaurier und enger Gefolgsmanns des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Roberto Madrazo schon zu dessen Zeiten in Tabasco - hat natürlich auch Auswirkungen auf die Präsidentschaft von Felipe Calderón: Sollte es in einem Bundesstaat gelingen, durch – teilweise gewaltsame – Protestaktionen einen demokratisch gewählten Repräsentanten aus dem Amt zu hebeln, könnte dies ermutigen, Gleiches auch auf nationaler Ebene zu versuchen. Diese Perspektive läßt auch Calderóns Partei PAN davor zurückschrecken, den Schulterschluss mit der PRI aufzugeben und ein Amtsenthebungsverfahren gegen Ulises Ruiz zu betreiben.

Immerhin sind sich mittlerweile alle Parteien mehr oder weniger einig, Ulises Ruiz einen freiwilligen Rückzug nahezulegen, wobei dies durch die ganz besondere lokale Situation in Oaxaca selbst erschwert wird. Ein kaum zu entwirrendes Interessengeflecht lokaler Akteure interagiert hier und hat die nationale Politik längst zur Geisel genommen. Ehemalige PRI-Gouverneure, die Führung der nationalen Lehrergewerkschaft, PAN-Abgeordnete mit PRI-Vergangenheit – alle drehen mit am großen Rad des Konflikts. Auch gibt es vor Ort immer mehr Zeichen für einen Einfluss der PRD auf die Aktionen der APPO. Der lokale PRD-Abgeordnete Flavio Sosa ist mittlerweile der populärste und sichtbarste Kopf der Organisation. Schon vor Wochen warnten Sicherheitskräfte vor dem Einfluß von Guerillagruppen und Provokateuren in einer Auseinandersetzung, die mittlerweile 14 Tote gefordert hat, unter ihnen einen nordamerikanischen Journalisten.

Dass die Bundespolizei nach 160 Tagen in einer Stärke von rund 4.500 Mann am 29. Oktober die Kontrolle über wichtige Punkte der Hauptstadt des Bundesstaates zurückgewonnen hat – von einer flächendeckenden Befriedung kann nach wie vor nicht gesprochen werden – ist maximal ein Etappenziel. Nach siebenstündigen teils gewalttätigen Auseinandersetzungen gelang es, den zentralen Platz Oaxacas und wichtige Verkehrsknotenpunkte wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen. Der Widerstand der APPO hat sich jetzt auf das Universitätsgelände verlagert, wo man auch eine Radiostation nach wie vor in der Gewalt hat, ferner schüren Massenkundgebungen und andere Aktionen das Feuer. So störten APPO-Anhänger am vergangenen Sonntag die Messe des Erzbischofs in der Kathedrale von Mexiko-Stadt – er hatte zuvor die Beendigung des rechtlosen Zustandes in Oaxaca ausdrücklich begrüßt. Präsident Vicente Fox seinerseits sprach nach der Polizeiaktion sogar davon, in Oaxaca sei der „soziale Friede wiederhergestellt“. Davon allerdings ist der Bundesstaat weit entfernt – und auch der Präsident muß sich Verantwortung dafür zurechnen lassen, dass der Konflikt überhaupt so weit eskalieren konnte.

Neues von AMLO

Vor diesen bilderträchtigen Ereignissen verlieren andere politische Entwicklungen im Lande fast an Wahrnehmung, auch wenn sie von nachhaltiger Bedeutung sind. So erlitt der ehemalige Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) ausgerechnet bei den Gouverneurswahlen in seinem Heimatstaat Tabasco eine herbe Schlappe, bei denen er sich über die Maßen engagiert hatte. Der PRD-Kandidat Cesar Raúl Ojeda Zubieta unterlag seinem Gegenspieler von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), Andrés Granier Melo, deutlich und mit mehr als zehn Prozent Unterschied. Nicht nur die Hauptstadtpresse wertete dies als persönliche Niederlage AMLOs. Noch bei den Präsidentschaftswahlen lag er in Tabasco um rund 170.000 Stimmen vor dem PRI-Kandidaten Roberto Madrazo, den gewählten Präsidenten Felipe Calderón schlug er dort im Verhältnis von 15:1. Die nationale Regierungspartei PAN ist in Tabasco traditionell bedeutungslos: nicht eine einzige Gemeinde des Bundesstaates wird von ihr regiert, bei den Gouverneurswahlen entfielen auf ihren Kandiaten knapp drei Prozent.

Schon frühzeitig hatten viele Beobachter nicht verstanden, warum die PRD in diesem Falle auf einen reichen Unternehmer als Kandidaten gesetzt hatte, der so ziemlich das genaue Gegenteil des Volkstribunen AMLO verkörperte. Bereits zum dritten Mal versuchte er jetzt vergeblich, die Führung des Bundesstaates zu übernehmen. Uneinigkeit kennzeichnete die Reihen der PRD während des Wahlkampfes: 260 ihrer Mitglieder, unter ihnen Abgeordnete, Ex-Senatoren und Abgeordnete, Ortsvorsitzende und frühere Bürgermeister gaben eine klare Wahlempfehlung zugunsten des PRI-Kandidaten Granier Melo ab. Auch im Falle Tabascos allerdings war der Wahlkampf von gegenseitigen Beschuldigungen manipulierter Wahlen begleitet gewesen. Folgerichtig kündigte der unterlegene Kandiat an, das Ergebnis anzufechten.

Beobachter sehen in diesem Scheitern nun auch eine Quittung für die konfrontative Strategie López Obradors auf nationaler Ebene, die dieser gleichwohl fortzusetzen gedenkt. Mittlerweile distanzierte sich nun der historische Führer der PRD, Cuauhtémoc Cárdenas einmal mehr von ihm. Früher hatte er bereits die Entscheidung des Wahlgerichts zugunsten Calderóns ausdrücklich anerkannt, jetzt schrieb er in einem Brief an die Schriftstellerin Élena Poniatowska, die Einrichtung einer Alternativregierung durch López Obrador sei ein „krasser Fehler, mit höchsten Kosten für die PRD und die ganze demokratische Bewegung“. Intoleranz und die Verteufelung jener, die nicht widerspruchslos den Protestweg mitgingen, sehe er in den dogmatischen Aktionen des Ex-Kandidaten und seiner Umgebung. Die Schriftstellerin hatte Cardenas zuvor unterstellt, nur aus Neid nicht zu einer Unterstützung AMLOs bereit zu sein, eine Kritik in die sie auch den Führer der EZLN, Subcomandante Marcos und die Präsidentschaftskandidatin Patricia Mercado einschloss. Die Risse in der internen Unterstützerfront AMLOs zeigen sich auch in einem zunehmend distanzierteren Verhalten der PRD-Gouverneure, die bereits mehrfach ihre Kooperationsbereitschaft mit dem gewählten Präsidenten bekundeten.

Ungeachtet dessen will López Obrador am 20. November, dem Tag der mexikansichen Revolution, auf dem hauptstädtischen Zócalo seine „legitime Präsidentschaft“ beginnen, begleitet von einem Schattenkabinett aus 12 Mitgliedern, die er mittlerweile der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Politische Schwergewichte befinden sich allerdings nicht darunter, vielmehr loyale Gefolgsleute aus seiner persönlichen Umgebung und ehemalige Mitstreiter aus der seiner Regierungszeit in der Bundeshauptstadt. Dazu kommen als „externe Berater“ einige altbekannte Gesichter aus der intellektuellen Szene wie zum Beispiel die Schriftstellerin Elena Poniatowska.

Vorher wurde bereits aus den früheren Beteiligten der Wahlkoalition eine „Frente Amplio Progresista“ gebildet, der neben AMLOs PRD die Parteien PT und Convergencia angehören. Die drei Parteivorsitzenden, Leonel Cota, Alberto Anaya und Luis Maldonado werden gemeinsam die politische Koordinierung übernehmen, zusammen mit den Fraktionsvorsitzenden der drei Parteien im Kongress sowie jeweils einem Gouverneur, einem lokalen Abgeordneten und einem Bürgermeister, die namentlich noch zu benennen sind. Die neue Verbindung wurde mittlerweile beim Wahlinstitut IFE registriert und soll zunächst für die drei Jahre bis zu den Zwischenwahlen 2009 Bestand haben. Eingeschlossen ist auch eine Wahlallianz für die bis dahin erfolgenden Wahlen auf allen Ebenen. Die Gründer wollten nicht ausschließen, dass das Bündnis zu einem späteren Zeitpunkt in eine gemeinsame Partei münden könnte.

Was passiert am 1. Dezember?

Der öffentliche Akt am 20. November dürfte so etwas wie das Vorspiel zur Amtsübernahme Felipe Calderóns am 1. Dezember sein, deren Modalitäten sich noch nicht klar abzeichnen. Zwar betont die Koordinatorin dieses Ereignisses im Calderón-Team, die ehemalige Senatorin Cecilia Romero, alles werde wie geplant im Kongressgebäude San Lazaro über die Bühne gehen und der gewählte Präsident selbst verspricht einen „unterhaltsamen Tag“, gleichzeitig aber stehen noch die Bilder protestierender Parlamentarier im Raum, die es vor einigen Wochen Präsident Vicente Fox unmöglich machten, seinen letzten Bericht zur Lage der Nation im Parlament zu verlesen. Sollten sich solche Szenen am 1. Dezember vor den Augen von Staatsoberhäuptern und Regierungschefs aus aller Welt wiederholen, wäre Mexiko bis auf die Knochen blamiert. Schon die logistischen und Sicherheitsprobleme an diesem Tag bereiten allen Beteiligten heftiges Kopfzerbrechen und bisher ist nicht zu erkennen, dass Verhandlungen hinter den Kulissen eine geordnete Zeremonie garantieren könnten. Die gefährliche Mischung aus dem Protest gegen das Wahlergebnis und den Ereignissen in Oaxaca läßt zudem wenig Gutes vermuten.

Der gewählte Präsident Felipe Calderón feilt derweil weiter am Arbeitsprogramm und seiner Kabinettsmannschaft. Nach einer weitgehend positiv kommentierten Lateinamerika-Reise und einer Station in Kanada steht vor der Amtsübernahme noch eine Reise in die USA auf dem Programm. Hier sorgt derzeit die Kontroverse um den vom US-Kongress beschlossenen und von Präsident Bush bestätigten Grenzzaun für einigen Sprengstoff, mit dem es auch der neue mexikanische Amtsinhaber zu tun bekommen wird. Seine Hoffnung ist, dass sich das Klima nach den mit heftiger Polemik geführten Zwischenwahlen in den USA beruhigen könnte und einvernehmliche Lösungen möglich werden.

Dazu dürfte dann gleichwohl das Sicherheitsbedürfnis der USA gehören, dass die Migrationsthematik in engen Zusammenhang mit grenzüberschreitender Kriminalität und nicht zuletzt dem Agieren der mexikanischen Drogenkartelle stellt. US-Botschafter Toni Garza hatte zur Bestürzung vieler mexikanischer Politiker vor Kurzem von „rechtsfreien Räumen“ südlich der US-Grenze gesprochen, von Städten, in denen es keine staatliche mexikanische Autorität mehr gäbe. Dort gebe es eine „fast völlige Gesetzlosigkeit“, die für die bilateralen Beziehungen ein Risiko darstellten. In vielen Städten der Genzregionen herrschten die Drogenkartelle, mit Unterstützung korrupter Beamter. Die Zunahme von Gewalt und Verbrechen sei „horrend“, gemeinsam müsse man „die Ordnung wiederherstellen“. Und in der Tat ist der Blutzoll, den die Drogenbanden in Mexiko selbst fordern, höher denn je – die Mordraten früherer Gesamtjahre wurden bereits im September deutlich übertroffen. Da half es wenig, dass der mexikanische Generalstaatsanwalt versuchte, die Narco-Gewalt herunterzuspielen: Sie sei lediglich eine Reaktion darauf, dass der Staat die Kartelle so unter Druck gesetzt habe, dass sie unkontrolliert reagierten und um sich schlügen!

__Personalpolitische Weichenstellungen_

Erfreulicher ist da die Bilanz, die Felipe Calderón auf wirtschaftlichem Gebiet von seinem Vorgänger übernehmen kann. Gerade korrigierte das Wirtschaftsministerium die zu erwartende Wachstumsrate für das laufende Jahr auf 4,7 Prozent und damit nach oben, auch in verschiedenen internationalen rankings konnte Mexiko Boden gut machen. Mittlerweile scheint auch die Entscheidung darüber gefallen zu sein, wer künftiger Finanzminister werden soll. Mit Agustín Carstens holte sich Calderón die Nummer drei des Weltwährungsfonds ins Boot, der zunächst seine wirtschaftspolitische Agenda koordiniert. Als Staatssekretär im Finanzministerium trug der in Chicago ausgebildete Doktor der Wirtschaftswissenschaften bereits zwischen 2000 bis 2003 Regierungsverantwortung. Ein klares Signal also speziell an den Unternehmer- und Finanzsektor, dass der makroökonomisch erfolgreiche Kurs der Fox-Regierung seine Fortsetzung finden wird. Den ehemaligen Gouverneur von Guanajuato, Carlos Medina Plascencia, beauftragte der gewählte Präsident mit der Koordinierung eines Langfristvorhabens, dem sogenannten Plan „Mexico 2030“, der in verschiedene thematische Foren, vorbereitet wird. Auch Medina Plascencia dürfte also künftig eine wichtige Rolle spielen, ebenso wie die Wahlkampfkoordinatorin Josefina Vázquez Mota, die für einen noch nicht näher bestimmten Kabinettsp osten gesetzt zu sein scheint.

Ansonsten aber hält sich Calderón weiterhin bedeckt und steht zu seiner Ankündigung, die Kabinettsliste erst am 1. Dezember selbst bekannt geben zu wollen. Sie wird wohl auch davon abhängen, welche Koalitions- und Kooperationskonstellationen sich bis dahin noch bewerkstelligen lassen und welche „Schwergewichte“ sich für das bisher eher jung und unerfahren wirkende Team des neuen Präsidenten noch gewinnen lassen. Eine vielleicht voreilige Kritik aber zieht es sich jetzt schon zu: eine zu starke Dominanz von Vertretern der als extrem „neoliberal“ geltenden Kaderschmiede ITAM, deren Student auch Calderón selbst einmal war. Andere hochkarätige und praxisorientierte Hochschulen und Think tanks, die gern mit Rat und Tat zur Seite stünden, fühlen sich zurückgesetzt und könnten für intellektuelles Oppositionspotential sorgen. Ein Front, die sich leicht begradigen ließe.

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Kontakt

Ing. Hans-Hartwig Blomeier

Hans Blomeier

Leiter des Auslandsbüros Mexiko

hans.blomeier@kas.de +52 55 55664599

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