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Länderberichte

Im Antlitz der Geschichte

Tiefere Ursachen und Lösungsansätze des Streits um Erika Steinbach

Analyse des polnisch deutschen Streites um die BdV-Vorsitzende und CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach, bei dem es letztlich um einen Kampf um die Interpretationshoheit der Geschichte und die Wahrnehmung auch des polnischen Schicksals geht. Die Zuwendung zum Schicksal des Nachbarlandes, das mit am schrecklichsten durch den deutschen Krieg und seine Folgen geschlagen wurde, ist ein Schlüssel zur Befriedung des Streits.

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Die politischen Ursachen für den Streit um Erika Steinbach sind relativ leicht zu überblicken. In Polen ist sie persona non grata, ein rotes Tuch, weshalb die polnische Regierung immer darauf gedrängt und bestanden hat, Erika Steinbach draußen vor zu halten. Dem hat die deutsche Regierung nicht eindeutig widersprochen, sondern sogar signalisiert, dass man dem polnischen Wunsch entsprechen wolle, um des lieben Friedens willen. Weil sich der Bund der Vertriebenen (BdV) und seine Präsidentin Steinbach bei ihrem Zukunftsprojekt, dem „Sichtbaren Zeichen gegen Vertreibungen“, nicht in die zugedachte Rolle schicken wollten und die polnische Regierung mit Unterstützung der Linken und Liberalen in Deutschland auf den Rückzug Steinbachs beharrte, kam es zum Eklat. Steinbach musste sich gezwungener Maßen zurückziehen aus dem Projekt. Im BdV ist man nun verbittert, fühlt sich ungerecht behandelt, ja verraten. In weiten Teilen von CDU/CSU ist man verärgert, in welcher Weise mit der Bundestagskollegin Steinbach und dem berechtigten Anliegen der Vertriebenen umgegangen wird. Bei den Linken herrscht dagegen wie in Polen Genugtuung, dass man diese Personalie erledigt hat.

Exemplarisch dafür steht ein Beitrag der Polen-Korrespondentin der linksalternativen taz, Gabriele Lesser, vom 11. März. Darin wirft sie einigen nicht näher genannten deutschen Publizisten und Politikern wie Bundestagspräsident Lammert vor, durch aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, die dem bevollmächtigten des polnischen Premiers für internationalen Dialog, Prof. Bartoszewski, angehängt worden seien, das Ziel zu verfolgen, „ein Zerrbild von Polen und seiner angeblich falschen Wahrnehmung der Vertriebenenpräsidentin zu zeichnen“ und Bartoszewski „öffentlich abzukanzeln“.

Lammert hatte sich in seiner Eigenschaft als Bundestagspräsident in einem öffentlichen Schreiben am 7. März an Prof. Bartoszewski gewandt mit dem „herzlichen Wunsch, unser gemeinsames Interesse an freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen auch und gerade bei Meinungsverschiedenheiten in der Wortwahl und Tonlage deutlich werden zu lassen.“ Er kritisierte eine zum Teil „unvollständige, manchmal irreführende oder grob dämonisierende Berichterstattung“ über Frau Steinbach, verwahrte sich gegen den in Polen kursierenden Ausdruck „blonde Bestie“ in Bezug auf „diese engagierte Frau“ sowie gegen die Qualifizierung Andersdenkender in diesem Streit als „Narren“, die sich „blöd“ stellten.

Prof. Bartoszewski insistierte in seiner öffentlichen Antwort an Lammert vom 11. März, die allerdings nur in Polen erschien, auf dem Vorwurf einer „falschen Auslegung der Geschichte“ durch Steinbach. Mit einigen Zitaten verlieh er seinem Eindruck Nachdruck, „dass man in Deutschland zu leicht die Polen gegenüber negative Haltung der Bundestagsabgeordneten Frau teinbach vergisst“. Bereits zuvor hatte Bartoszewski Frau Steinbach öffentlich als „Anti-Polin“ und den Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung in Polen, Thomas Urban, als ihren „Ghost-Writer“ gebrandmarkt. In seinem Schreiben weist Bartoszewski auf „eine fehlende Demut angesichts der gemeinsamen Geschichte seitens mancher Vertreter der Bundesrepublik Deutschland“ hin und beruft sich auf „die Wahrheit“ als Bedingung für einen ehrlichen Dialog.

Die Frage der Wahrheit über die Geschichte deutet auf die tieferen Ursachen dieser Auseinandersetzung hin, die weniger leicht zu ergründen sind. Der Blick auf diese Ursachen gibt eine Ahnung davon, wie tief die Nacht noch immer in den deutsch-polni-schen Beziehungen ist, wenn es um die Lasten der Geschichte geht, die nicht selten zu Ausnahmezuständen und Funktionsstörungen in den Beziehungen führen, wie wir sie gerade erleben.

Die Probleme lassen sich festmachen an dem Umgang mit der Kriegs- und Nachkriegszeit, am Festhalten an den Kollektivbegriffen von Tätern und Opfern, Schuld und Sühne, am bleibenden Schmerz der Erinnerung und des Verlustes, an der Missachtung oder ungenügenden Beachtung des Leides des jeweils anderen und an den Ansprüchen auf Wiedergutmachung dessen, was nicht wieder gut zu machen ist.

Wer heilen will, der muss die ganze Wunde behandeln, nicht nur einen Teil. Indem jedoch seit nunmehr einem Jahrzehnt die ungelösten historischen Konflikte auf die Symbolfigur Erika Steinbach projiziert werden, verschlimmert sich der Wundbrand und verhärten sich die Fronten. Dabei ist es fast egal, was Steinbach tatsächlich sagt und tut. Viel entscheidender ist, was man ihr in den Mund legt, wofür sie steht, welches Bild man sich in Polen von ihr gemacht hat. In Polen richtete sich dementsprechend der Kampf parteiübergreifend und frontal gegen Steinbach und ihr Projekt eines „Zentrums gegen Vertreibungen“.

Worum es dabei aus polnischer Perspektive aber eigentlich geht, geht im Lärm des Kampfes und im Rauch der verbalen Kanonenschüsse weitgehend unter. Alles konzentriert sich auf das Für und Wider des Gedenkens der Vertreibungen, der Vertriebenenverbände und ihrer Galionsfigur. Was man in Polen gerade verhindern will, ein "zu einseitiges" Gedenkens in Deutschland durch die starke Fokussierung auf die deutschen Opfer, vor allem auf die Vertriebenen, wird durch die Auseinandersetzung noch zusätzlich befördert: Die Diskussionen kreisen um die Vertreibungen, statt um das dreifach verwundete polnische Volk.

Das wird in Polen von vielen Menschen als tiefgehende Missachtung empfunden, als historische Ungerechtigkeit, sogar als ein erneutes hegemoniales Streben Deutschlands auf historischer Ebene, dem man sich mit aller Macht widersetzen müsse. Es geht insofern um einen Kampf um die Interpretationshoheit der Geschichte im

20. Jahrhundert, das nicht primär als Jahrhundert von Vertreibungen, sondern als Zeit totalitärer System verstanden werden solle.

20 Jahre nach der freiheitlichen Revolution in Europa, die ihren Ausgang maßgeblich in Polen hatte mit dem polnischen Papst und der Solidarność, 20 Jahre nachdem endlich die Fesseln der sowjetischen Fremdherrschaft abgeworfen werden konnten, die ein Ergebnis des von Deutschland geführten Weltkrieges waren, gehe Deutschland hin und rücke „seine“ Opfer, „seine“ Vertriebenen und „seinen“ Mauerfall ins Zentrum des Gedenkens, heißt es in Polen. Was wisse man aber in Deutschland über das Schicksal der Polen, wo habe das schwere Los der Polen seinen Ort im deutschen Gedenken, fragt man sich teils verschämt, teils indigniert und verärgert im Nachbarland. Sei es

nicht Polen gewesen, das von seinen Jahre von der Landkarte genommen wurde und kaum wiedererstanden sich dem Willen Hitlers bis 1945 und Stalins und seiner Nachfolger bis 1989 unterwerfen musste? Seien es nicht die Polen gewesen, die als „slawische Untermenschen“ von den Deutschen zu Hunderttausenden, ja Millionen ermordet, vertrieben und versklavt wurden. Sei es nicht wiederum Polen gewesen, dass nach dieser Apokalypse erneut zum Spielball der Mächtigen wurde, auf der Landkarte wie ein Stück Papier verschoben ,und mit dem Papier die Menschen? Hätten nicht die Polen danach in der Tiefkühlkammer des Kalten Krieges frieren müssen, während die deutschen Peiniger zumindest im westlichen Teil ihres Landes die Chancen der Freiheit nutzen und genießen konnten. Seien nicht schließlich die Polen zu Millionen aufgestanden und hätten die Freiheit erkämpft und den ersten Stein aus der Mauer herausgeschlagen? Wo bleibe all dies im Gedenken der Deutschen?

In Polen geht die Befürchtung um, die auch im Brief Bartoszewskis ihren Ausdruck findet, dass dieses polnische Schicksal immer mehr in den Hintergrund gerät, bestenfalls noch in den allfälligen Gedenktagsreden Erwähnung findet, aber nicht ernsthaft wahrgenommen und gewürdigt wird. Der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej machte die polnischen Befürchtungen einmal mit folgendem Beispiel deutlich: Er stellte sich das offizielle Gedenken zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs am 1. September 2039 vor. Der Bundespräsident lege einen Kranz am Mahnmal des Holocaust nieder; dann werde der deutschen Opfer und der Vertriebenen gedacht; der Rest – insbesondere die Opfer der östlichen Nachbarn – bliebe im Schweigen.

Schlimmer aber noch : In Polen wird damit gerechnet, dass mit dem Fokus auf das Schicksal der Vertriebenen, die Frage der Verantwortung für dieses Geschehen sich trivialisiert auf Polen richten werde. Diese beiden Ängste, die in den Vorwurf der Neuinterpretation der Geschichte münden und für die Erika Steinbach als negative Ikone

steht, bestimmten die Temperatur der polnischen Debatten in den letzten Jahren

und wirken auch hinter dem aktuellen Streit. Solange sie nicht durch die Realität widerlegt werden, sind größere Veränderungen kaum zu erwarten.

Dies mag man für übertrieben halten, unberechtigt sind die Befürchtungen aber keineswegs. Das zeigt ein bezeichnendes Beispiel: die peinlichen, weil vorurteilsgetränkte und falschen Äußerungen des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe „Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler“ der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme. Er sagte jüngst in einem Interview: „Die Polen brauchen in jeder Phase der Geschichte einen Blitzableiter. Das ist zurzeit Frau Steinbach. … In dem Moment, da das Thema Steinbach erledigt ist, würden sich die Polen eine neue Hassfigur suchen“ (Rheinischer Merkur Nr. 9, 2009, S. 5). Wenn Fromme dann weiter auch noch den

Warschauer Ghetto-Aufstand 1943 mit dem Warschauer Aufstand 1944 verwechselt, denkt manch einer in Polen, der dies liest, an ein Interview des Politikers in der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita vom 12. Dezember 2006 zurück, in dem er „zunächst Hitler und dann Polen“ als „Täter“ für die Vertreibungen verantwortlich machte. Und schon sieht man sich im eigenen Pauschalurteil eines von Unkenntnis geprägten „längst überholten und polenfeindlichen Geschichtsbildes“ der dem BdV nahe stehenden Vertriebenen bestätigt.

Das Gedenkjahr 2009 wird von daher auch ein Lackmustest dafür sein, wie man mit solch unsäglichen Äußerungen und den polnischen Befürchtungen in Deutschland umgeht. Schon kursieren dort Broschüren über die Chronologie des Mauerfalls, in denen polnische Akteure im Gegensatz zu anderen Landesvertretern überhaupt nicht auftauchen. Dass diese Befürchtungen sich aber als Vorwurf vor allem gegen Erika Steinbach richten, gegen die legitime Vertreterin der Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler in Deutschland, ist insofern nicht berechtigt, als Steinbach erstens nicht zuständig ist für die Geschichtspolitik Deutschlands und zweitens nach Prüfung ihrer Reden nicht so einfach unter das Pauschalurteil eines „falschen, polenfeindlichen Geschichtsbildes“ subsumiert werden kann. Aber sie vertritt natürlich das Anliegen der Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler, in der Bundeshauptstadt einen Ort der Erinnerung und der Mahnung an das Verbrechen der Vertreibungen zu schaffen. Wer will ihr das als Präsidentin des BdV verdenken?

Letztendlich geht es also bei der aktuellen Auseinandersetzung um den Umgang mit der Geschichte an sich, nicht um Steinbach. Streiten kann und muss man über die Art des Gedenkens, nicht allen Ernstes um die

Berechtigung dieses Gedenkens. So sind die polnischen Fragen eigentlich ,an die Regierungen in Berlin und Warschau gerichtet, die die Verantwortung für die Geschichtspolitik haben, und an die Darsteller der Geschichte, die Historiker, Publizisten, Filmemacher und Aussteller, die Geschichtsbilder prägen. Der Kampf gegen Steinbach lenkt vom eigentlichen Problem ab. Mit ihrem Ausschluss aus dem Beirat der Stiftung „Flucht, Vertreibungen, Versöhnung“ ist für Polen insofern nichts gewonnen.

Ein wirklicher Schlüssel zur Lösung des Problems liegt wie es scheint in der Zuwendung zum Schicksal Polens, das mit am schrecklichsten durch den deutschen Krieg und seine Folgen geschlagen wurde. Er

liegt in der Kenntnisnahme und öffentlichen Bewusstmachung der polnischen Opfer, in der Ehre, die man Ihnen erweist. Hier gibt es viel Unwissen in Deutschland, das auf Versäumnisse hindeutet, die ausgeglichen werden müssen. Einiges in dieser Richtung wird in diesem Jahr des Gedenkens passieren. Darüber hinaus gehende Anstrengungen sind aber notwendig. Nur auf diese Weise kann man die Traumata versuchen zu heilen, die in Polen auch 20 Jahre nach Kriegsende (sic!) virulent sind.

In dieser Hinsicht gibt es im Übrigen eine gewisse Parallelität zu den Traumata der Vertriebenen, die durch den Streit um Steinbach nicht wahrgenommen wird. Deshalb wäre es auch sehr zu Wünschen gewesen, wenn die vom Bundestag per Gesetz beschlossene Stiftung „Krieg, Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ geheißen hätte.

Ein zweiter Schlüssel zur Lösung des Streits ist der kritische historische Dialog. Denn hinter den Beschuldigungen gegen Steinbach, den BdV und Deutschland stehen Geschichtsbilder und Ideologien, die die historischen Konflikte eher verbergen als klären. Dies lässt sich an zwei Hauptvorwürfen festmachen: erstens in Deutschland sollen „die Täter zu Opfern“ gemacht werden, indem vor allem der Opfer des „Tätervolkes“ gedacht werde; zweitens in Deutschland

werde "ein falsches und polenfeindliches Geschichtsbild" gepflegt, was vor allem in der Infragestellung des ursächlichen Zusammenhanges von deutschem Vernichtungskrieg und Vertreibung und der Beschuldigung Polens als „Vertreiberstaat“ deutlich werde. Beiden Argumenten muss historisch und politisch widersprochen werden, denn sie führen auf gefährliche Abwege.

Klar und eindeutig ist die Verantwortung Deutschlands für den Krieg, für all die Gräueltaten und Opfer. Auch über mögliche Schieflagen im deutschen Gedenken, über blinde Flecke, muss man diskutieren. Die Täter-Opfer-Schablone greift aber auf die verhängnisvolle Kollektivschuldthese zurück und stellt insofern nicht nur eine undifferenzierte Geschichtssicht, sondern auch eine Verletzung der Menschenrechte dar, weil sie die Würde des einzelnen Menschen missachtet. Es ist unmenschlich und grotesk Millionen deutscher Kriegs- und Nachkriegsopfer vom Kleinkind bis zum Greis undifferenziert als „Täter“ zu bezeichnen und ihr persönliches Leid zu ignorieren oder hintanzustellen, weil sie einem „Tätervolk“ oder einer „Tätergeneration“ angehören. Dies sind Begriffe aus dem Wörterbuch des Unmenschen, ja totalitäre Schemata. Sie öffnen Unrecht und Diffamierung Tür und Tor und vergiften die Auseinandersetzung. Wer sie politisch ins Feld führt, schließt sich selbst aus dem rechtsstaatlich demokratischen Grundwertekonsens aus. Für diese Begrifflichkeit gilt, was der polnische Literaturhistoriker Jan Józef Lipski im Zusammenhang der Vertreibung über den polnischen Nationalismus gesagt hat: er sei „ein Zeichen ethischen Verfalls und im übrigen zugleich politischer Dummheit“.

So disqualifiziert sich die gegen das einjährige Kind eines Besatzungssoldaten und Schlesiers namens Erika Steinbach gemünzte Parole des polnischen Außenminister „sie kam mit Hitler und ging mit Hitler“ selbst. Auch ist es eben ni cht wahr, dass sich „die Vertriebenen“ in einer besonders hervorgehobenen Weise schuldig gemacht hätten.

Wahr ist hingegen, dass sehr viele der Vertriebenen in besonderer Weise für den Krieg bestraft wurden. Eine besondere Empathie ist ihnen aber kaum zu Teil geworden. Das war im Osten verboten und im Westen lange nicht opportun. Wie die langwierige Diskussion um das Sichtbare Zeichen gegen Vertreibungen zeigt, tun sich auch heute noch viele Deutsche damit schwer.

Die zweite Frage nach der Ursache der Vertreibungen rührt an ein weit verbreitetes Geschichtsdogma: Der deutsche Vernichtungskrieg habe die Vertreibungen notwendig gemacht und gerechtfertigt. Die Vertriebenen hätten eben in besonderer Weise den Preis für den Krieg zu zahlen gehabt. Verantwortlich seien dafür letztendlich Hitler, die Nazis oder eben die Deutschen selbst. Nun ist es in der Historie generell problematisch und meistens unmöglich, monokausale Ursache – Wirkungszusammenhänge nachzuweisen. Die Geschichte ist differenzierter.

Richtig ist, dass das geopolitische Ausgreifen Nazi-Deutschlands nach Osten und die äußerst brutale deutsche Herrschaft im Osten von 1939 bis 1945 mit ihren Vertreibungen, die 1941 nur vorläufig gestoppt wurden und nach dem Kriege weitergeführt werden sollten, ein historisches Präjudiz für die spätere Vertreibung der Deutschen waren. Was die Deutschen aus den Gebieten hinter Oder und Neiße bei Kriegsende und danach erlebten, hatten die Jahre zuvor Hunderttausende von Polen als Vertriebene zu spüren bekommen und die gesamte geschlagene Bevölkerung Polens dazu noch viel mehr: Das ganze Programm rassentheoretisch begründeter Kolonialherrschaft mit Diskriminierung, systematischer Versklavung und Ausrottung. Ab 1945 schlug das Pendel gewaltsamer Neuordnung zurück und zertrümmerte die Grundlagen deutschen Lebens im Osten.

Dies ist der beispiellose Hintergrund vor dem die vielfach von langer Hand herbeigeführten Entscheidungen zur westlichen Erweiterung Russlands und zur Westverschiebung Polens getroffen wurden und vor dem die wiederum in dieser Dimension beispiellosen Vertreibungen der Deutschen stattfanden. Der Zweite Weltkrieg war Grund und unabdingbare Voraussetzung dafür, er gab die Möglichkeit für das eigentlich unmögliche Geschehen. Ursachen im eigentlichen Sinne, die diesem Geschehen nachfolgend Bestand verliehen, waren jedoch politische Entscheidungen angesichts einer spezifischen politisch militärischen Konstellation am Ende des Krieges. Dazu zählen die geopolitischen Ambitionen Stalins, der Wille der Sieger, Deutschland nachhaltig zu schwächen und Polen im Westen für die Verluste im Osten zu restituieren, aber auch entsprechende Bestrebungen tschechischer und polnischer Politiker.

Ja, die Westverlagerung Polens wurde von der polnischen Regierung der Nationalen Einheit (Kommunisten und Exilregierung) unterstützt. Dennoch war sie gerade kein Akt souveräner polnischer Politik, sondern ein Instrument übergeordneter und großräumiger sowjetischer Strategie in der östlichen Hälfte Europas, dem die Westmächte

zustimmten. Dies darf nicht verschwiegen werden.

Mit der Frage nach den Ursachen der Vertreibungen ist die Frage nach der Verantwortung, nach der rechtlichen und ethischen Bewertung verbunden. Geht man davon aus, dass Vertreibungen generell völkerrechtlich Unrecht sind, so ist auch in diesem speziellen Fall zu Fragen: Selbst unter Berücksichtigung des maßlosen Unrechts das von Deutschen verübt wurde, rechtfertigt dies im Gegenschlag viele Millionen Menschen zu vertreiben? Kann das eine Unrecht das andere Unrecht rechtfertigen, so ungleich aufs Ganze gesehen die Maße verteilt sind?

Diese Kardinalfrage für das sittliche Bewusstsein und die Versöhnung ist, wie der Streit der letzten Jahre zeigt, nicht ausreichend geklärt worden. Die Folgen der Vertreibungen wurden zwar von Deutschland akzeptiert und völkerrechtlich kodifiziert. In Polen ist aber das, was die polnischen Bischöfe 1965 in Bezug auf Krieg und Vertreibung mit dem grandiosen Satz auf den Punkt brachten: „wir vergeben und bitten um Vergebung“ und was Prof. Bartoszewski 1995 im Deutschen Bundestag mit den Worten eingestand, „dass zu den Tätern auch Polen gehörten“, anscheinend bis heute nicht in der Breite nachvollzogen und wirklich bewahrheitet worden. Jan Józef Lipski erklärte den Umgang mit „dem Problem der polnischen Schuld“ 1981 in der Exilzeitschrift Kultura so: „In Polen ist eine solche Darstellung der Dinge unerträglich – und das ist auch unschwer zu verstehen, denn die Verhältnismäßigkeit ist erschütternd ungleich. Man darf sich aber nicht mit der Bagatellisierung der eigenen Schuld abfinden (…). Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben (…). Das uns angetane Böse, auch das größte, ist aber keine Berechtigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst zugefügt haben“. Diese ethische Frage wird zugedeckt durch den vermeintlichen Determinismus von Vernichtungskrieg und Vertreibung und manchmal leider noch immer durch den Grundsatz der Kollektivschuld, der nichts mit Ethik gemeinsam hat. Dieser Diskussion, die weiter gärt, darf man aber gerade um eines wirklichen Friedens, um wirklicher Versöhnung willen nicht aus dem Weg gehen. Denn es gibt keine kollektive Schuld, aber eine kollektive Verantwortlichkeit und Sittlichkeit, die uns alle zu einem humanen Umgang miteinander und in besonderer Weise mit den Opfern verpflichtet, seien sie aus Polen, Deutschland oder anderswoher.

Diese kollektive Verantwortlichkeit und Sittlichkeit ist auch das Anliegen von Prof. Bartoszewski, wenn er in seinem Brief an Bundestagspräsident Lammert schreibt: „Nur das Denken und das Handeln in Übereinstimmung mit universalen Werten schafft Chancen, wahrhaft partnerschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Polen im vereinten Europa aufzubauen.“

Wie passt das aber zu den Anstrengungen, die in Deutschland und Polen unternommen werden, Erika Steinbach als Repräsentantin des BdV, Bundestagsabgeordnete und Vorstandsmitglied der CDU öffentlich unmöglich zu machen und aus dem Bemühen um ein wahrhaft partnerschaftliches Miteinander auszuschließen? Frau Steinbach ist bei aller berechtigten Kritik im Einzelnen keine Extremistin. Der zentrale Vorwurf gegen sie, die Geschichte falsch auszulegen, ist mit einzelnen aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen eher schlecht als recht begründet und lässt sich durch den Verweis auf andere Aussagen ihrerseits zu guten Teilen widerlegen. Die maßlosen Angriffe auf sie werden deshalb in Deutschland von vielen Menschen nicht verstanden und schaden den deutschpolnischen Beziehungen. Der Dialog ist der Anfang von allem; ihn durch apodiktische Verdikte zu unterbinden, die den Dialogpartner ausgrenzen, ist das Ende von Verständigung und Versöhnung für die gerade Prof. Bartoszewski im polnisch-deutschen Verhältnis sehr viel getan hat.

Worum es bei diesem Streit eigentlich gehen muss, ist etwas anderes: "Es geht darum, durch unvoreingenommene, allein von der Suche nach Wahrheit geleitete Forschung ein gerechtes Bild (...) zu gewinnen. Wo Schuld ist, muss sie anerkannt werden, gleich welche Seite sie trifft; wo Polemik die Sicht verzerrt hat, muss sie richtig gestellt werden, wiederum unabhängig davon, um welche Seite es sich handelt. Dabei kann uns nicht die Absicht leiten, uns zu Richtern der Geschichte aufzuwerfen, sondern das Ziel darf einzig sein, besser zu erkennen und damit wahrheitsfähiger zu werden. Nur in einer solchen Haltung (...) können wir (...) neue Ausgangspunkte für das Gespräch gewinnen" (Johannes Paul II. zum Verhältnis der im Glauben getrennten Christen am 31.10.1983 im Brief an Kardinal Willebrands).

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