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Einzeltitel

„Zukunftsorientierte Zusammenarbeit im Wissen um die Vergangenheit“

Stellungnahme junger Experten aus Deutschland und Polen zum 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges

Erklärung jüngere führender Experten aus dem Umfeld der Adenauer-Stiftung zu Geschichte und Europa unter der Schirmherrschaft von Władysław Bartoszewski, Tadeusz Mazowiecki, Bernhard Vogel und Richard von Weizsäcker.

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I. Der Krieg

Vor 70 Jahren begann mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 der

Zweite Weltkrieg, der den absoluten Tiefpunkt in den oft spannungsreichen deutschpolnischen Beziehungen bezeichnet. Wenige Tage vorher, am 23. August 1939, hatten Hitler und Stalin in einem Pakt mit einem geheimen Zusatzabkommen Mittelosteuropa, also auch Polen in Interessensphären aufgeteilt. Polen wurde zum ersten Opfer des Weltkriegs, zum Laboratorium für nationalsozialistische Siedlungs- und Großraumpläne und für sowjetische Expansionsbestrebungen.

Es besteht kein Zweifel, dass Deutschland diesen Krieg entfesselt hat und das Deutschland

für ihn die Verantwortung trägt. Vom ersten Tag an war dieser Krieg kein „normaler“ Krieg,

sondern wurde von deutscher Seite mit unglaublicher Brutalität und unter systematischer

Missachtung des Völkerrechts geführt. Das Ende der unmittelbaren Kriegshandlungen in

Polen 1939 brachte keine Verbesserungen, sondern verschlimmerte im Gegenteil noch das

Leid der polnischen Zivilbevölkerung. Vertreter der polnischen Intelligenz, des polnischen

Staates und der Kirchen wurden von den deutschen Besatzern massenweise inhaftiert oder

ermordet, weitere Teile der polnischen Bevölkerung zur Zwangsarbeit verurteilt.

Hunderttausende von Polen wurden enteignet und aus ihrer angestammten Heimat in andere

Teile des Landes vertrieben, viele überlebten diese Vertreibungen nicht. Die einheimische

Bevölkerung, von den Nazis als „Untermenschen“ qualifiziert, musste den deutschen

Besatzern als Sklaven dienen und sollte mittelfristig vertrieben oder vernichtet werden.

Besonders schwer war das Los der polnischen Juden. Sie wurden in Ghettos

zusammengepfercht, zur Zwangsarbeit eingesetzt und schließlich ermordet. Innerhalb von

fünf Jahren wurde die jahrhundertealte, reiche jüdische Tradition in Polen brutal und

rücksichtslos durch die deutschen Besatzer ausgelöscht.

Die Geschichte Polens unter deutscher Besatzung ist auch die Geschichte des polnischen

Widerstandes. Der verzweifelte Aufstand der jüdischen Bewohner des Warschauer Ghettos

1943 gilt weltweit als Beispiel eindrucksvollen Heldenmuts. Die Erhebung der polnischen

Heimatarmee im Warschauer Aufstand 1944, der sich militärisch gegen die Deutschen und

politisch gegen die Sowjetunion richtete, ist ein europäisches Symbol des heroischen

Kampfes gegen die Besatzer vor allem im Namen der Freiheit und der nationalen Würde. Die

Erinnerung an die deutschen Untaten während Krieg und Besatzung, die Erinnerung an den

Holocaust, aber auch an den polnischen Widerstand ist unsere gemeinsame Aufgabe als

Deutsche und Polen. Diese Erinnerung muss gerade auch den Deutschen schmerzlich

bewusst bleiben. Denn die tiefe Scham über diesen Teil der deutschen Geschichte und der

feste Willen des „Nie wieder“ gehören zu den geistigen Fundamenten der Bundesrepublik,

auf denen sich Versöhnung und ein neues Zusammenwirken entwickeln konnten.

Das Deutsche Reich hatte in der Sowjetunion, die später eine gewaltige Last des Kampfes

gegen Nazi-Deutschland trug und große Opfer brachte, zunächst einen wichtigen

Verbündeten. Der Hitler-Stalin-Pakt erleichterte Hitler, den Krieg gegen Polen zu führen,

und eröffnete der Sowjetunion den Weg zur Besetzung und Annexion Ostpolens sowie zur

Eingliederung von Teilen Finnlands, der Baltischen Staaten, Bessarabiens und der Nord-

Bukowina in die Sowjetunion, wobei es auch dort zu Massendeportationen der einheimischen

Bevölkerung und zu Massenmorden wie in Katyn kam. Der totalitäre Sowjet-Kommunismus

konnte in der Folge seine Herrschaft in Mitteleuropa bis an die Elbe hin ausdehnen. Auch

dies war eine Folge des Zweiten Weltkriegs.

II. Die Folgen: Antagonismen und Aussöhnung

Nach dem Krieg raubte die vor allem von der Sowjetunion betriebene und mit den

Siegermächten vereinbarte Westverschiebung Polens Millionen von Polen und Deutschen

ihre Heimat und war eine schwere Hypothek für das künftige Verhältnis unserer beiden

Völker. Die grausame Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihren angestammten

Siedlungsgebieten mit den damit verbundenen Gewalttaten vertiefte die Spaltung weiter.

Zorn und Trauer von Polen über die selbst erlebten Grausamkeiten und Demütigungen und

das erlittene schwere Leid schlugen nun teilweise in Gewalt gegen die Deutschen um.

Wieder war es die Grenzziehung, diesmal die an Neiße und Oder, die die gegenseitigen

Beziehungen vergiftete und auf beiden Seiten Antagonismen und Feindschaft hervorrief. Die

Diktatur und Unfreiheit im Osten, die sich in der Folge des Krieges auch über Polen und den

östlichen Teil Deutschlands ausbreiten konnte, und der West-Ost-Gegensatz im Kalten Krieg

verschärften diese Situation. Dennoch gelang über die folgenden Jahrzehnte schrittweise eine Aussöhnung, sogar über die Blockgrenzen des Kalten Krieges hinweg. Gegen weite Teile der eigenen Bevölkerung wagte die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer Ostdenkschrift 1965 den ersten wichtigen Schritt. Sie fasste eine Anerkennung der Grenze ins Auge, um den damaligen „Zustand einer so gut wie völligen Entfremdung und gegenseitiger Furcht und Haßgefühle“ mit Blick auf eine künftige Friedensordnung zu überwinden.

Kurz darauf folgten die polnischen katholischen Bischöfe, die ohne Absprache mit dem

kommunistischen Regime mit den mutigen Worten „wir vergeben und bitten um Vergebung“

die Hand zur Versöhnung ausstreckten, die von ihren deutschen Glaubensbrüdern dankbar

ergriffen wurde. Mit der Ostpolitik Willy Brandts wurde die de facto Anerkennung der Oder-

Neiße-Grenze und das Bemühen um einen unter den gegebenen politischen Koordinaten

möglichen Modus vivendi offizieller Teil der weiteren deutschen und polnischen Politik.

Wir feiern dieses Jahr auch das zwanzigjährige Jubiläum des Falls des „Eisernen Vorhangs“.

Ohne die polnische Solidarność und ihr unerschrockenes Eintreten für Freiheit und

Demokratie wäre der politische Umbruch weder in Polen noch in einem anderen Land des

damaligen Ostblocks zum damaligen Zeitpunkt möglich gewesen. Somit ist die

Wiedervereinigung Deutschlands 1990 auch eine Folge des polnischen Widerstands gegen

den Kommunismus.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Befreiung Europas vom Kommunismus erreichte

die deutsch-polnische Aussöhnung eine neue Qualität: Der bewegende Friedensgruß

zwischen dem polnischen Premier Tadeusz Mazowiecki und dem deutschen Bundeskanzler

Helmut Kohl bei der Messfeier am 12. November 1989 in Kreisau und der zwischen den

beiden Regierungen anschließend ausgehandelte Grenzvertrag stellten die bilateralen

Beziehungen symbolisch und faktisch auf eine neue Grundlage. Die Nachkriegsgrenzen

wurden durch den Grenzvertrag vom 14. November 1990 endgültig auch völkerrechtlich

bestätigt. Viele Städte und Gemeinden etablierten aber über die Grenze hinweg

Partnerschaften im jeweiligen Nachbarland. Unter anderem aus dem Wissen um die eigene

historische Verantwortung und um die Bedeutung guter nachbarschaftlicher Beziehungen in

allen Bereichen unterstützte die Bundesregierung die polnischen Bemühungen um einen

Beitritt zur NATO und Europäischen Union.

III. Partner in Europa

Siebzig Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und zwanzig Jahre nach dem Ende

des Kommunismus und der Spaltung in Europa sind Polen und Deutschland Partner in der

NATO und der EU. Die Pfeiler unserer Partnerschaft sind unsere gemeinsamen Werte, die

bedingungslose Absage an jede Form von Totalitarismus, Diktatur oder Chauvinismus und

das unbedingte Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und

sozialer Marktwirtschaft. Uns verbindet der Konsens über die Unumkehrbarkeit der

gemeinsamen Grenze und über die Unantastbarkeit der nach 1945 entstandenen

Eigentumsregeln.

Stellvertretend für alle anderen, auch nachfolgenden Vertreter der Bundesrepublik

Deutschland bekannte sich Bundespräsident Roman Herzog 1994 in Warschau zur

Verantwortung der Deutschen für die unermesslichen Verbrechen des Dritten Reichs; er

verbeugte sich vor den polnischen Opfern und bat um Vergebung für das, was Polen „von

den Deutschen angetan worden ist“. Der polnische Außenminister Władysław Bartoszewski

beklagte als Vertreter der Republik Polen 1995 in seiner Rede im Deutschen Bundestag das

„Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen

wurden und ihre Heimat verloren haben“. Dabei bekannte er, „dass zu den Tätern auch

Polen gehörten.“

Polen und Deutschland, deren Nachbarschaft durch die Geschichte belastet ist, tragen heute

gemeinsam Verantwortung für die Zukunft des europäischen Kontinents. Die Vertiefung und

Erweiterung der Europäischen Union, die Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse,

die Gestaltung einer verantwortungsbewussten Politik gegenüber den osteuropäischen

Nachbarn und die Weiterentwicklung der europäischen und euroatlantischen

Sicherheitsarchitektur sind u.a. zentrale Aufgaben, die wir nur gemeinsam erledigen können.

Von diesem Weg sollten wir uns nicht durch Kontroversen über die Deutung historischer

Ereignisse abbringen lassen. Die Geschichtsforschung ist die Aufgabe von Historikern, die

Geschichte ständig interpretieren. Darüber hinaus entwickelt jeder Geschichtsinteressierte

und Zeitzeuge seine eigene Sicht auf die Vergangenheit. Die Beschäftigung mit der

Vergangenheit muss aber immer der Wahrheitssuche verpflichtet sein, auch wenn sie

teilweise zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen mag. In einer freiheitlich pluralistischen Gesellschaft ist jeder Versuch zum Scheitern verurteilt, ein einheitliches oder gar gegen andere Länder negativ gerichtetes Geschichtsbild staatlicherseits zu oktroyieren. Erst recht wird dies nicht über die Grenzen des Nationalstaates hinaus gelingen.

Der Grundkonsens, der Deutsche und Polen verbindet, ist stark genug, auch unterschiedliche

Sichtweisen auf die gemeinsame Vergangenheit auszuhalten. Die gewachsene Partnerschaft

darf durch solche Kontroversen nicht gefährdet werden. Die sicherlich notwendigen

Kontroversen sollen nicht unterdrückt, aber im Geiste der Verständigung geführt werden.

Dann stellen sie eine Bereicherung des deutsch-polnischen Dialogs dar. Wir wehren uns aber

dagegen, dass Geschichte selektiv und populistisch instrumentalisiert wird, um bestimmte

politische Ziele zu erreichen, was keineswegs nur die deutsch-polnischen Beziehungen

betrifft. Wer so handelt, nimmt in Kauf, dass die Beziehungen zwischen den Völkern

Schaden nehmen, und lenkt von den eigentlich wichtigen gemeinsamen politischen Zielen

ab. Es ist bedauerlich, dass derartige Versuche häufig Unterstützung von publizistischer Seite finden.

Gleichzeitig gebietet es das Interesse an einer Stärkung der deutsch-polnischen Partnerschaft, das Wissen über die deutsch-polnische Vergangenheit zu vertiefen. Insbesondere die Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg und ihrer Folgen, aber auch der Vor- und Nachkriegszeit und des sich anschließenden schwierigen, aber erfolgreichen Versöhnungsprozesses sollte stärker in den Schulen gelehrt und in Museen oder durch Medien vermittelt werden. Das Wissen übereinander schafft die Basis für weitere Annäherungen und hilft, den auf allen Ebenen notwendigen Dialog jederzeit mit dem gebotenen Respekt und in einem Klima wachsenden Vertrauens zu führen.

Unsere, die dem Krieg nachfolgenden Generationen kennen den Zweiten Weltkrieg nur mehr

aus unterschiedlichen Erzählungen, aber wir sind verantwortlich für das, was in der

Geschichte aus dieser belasteten Vergangenheit wird, wie Bundespräsident Richard von

Weizsäcker in seiner wichtigen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 betonte. Wir

selbst haben noch den Kalten Krieg und seine Folgen kennen gelernt. Deshalb haben wir die

Pflicht der historischen Besinnung und des verantwortlichen Umgangs mit der

Vergangenheit, um daraus Konsequenzen für eine bessere Zukunft zu ziehen. Wir tragen die

Verantwortung dafür, uns selbst und den weiteren Generationen den Wert eines friedlichen

und geeinten Europas zu vergegenwärtigen, eines Europas, das wir gemeinsam gestalten und

miteinander bewohnen wollen.

Die Erklärung liegt gedruckt vor in dem von Stephan Raabe und Piotr Womela herausgegebenen Buch: Der Hitler-Stalin-Pakt und der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Gemeinsame Erinnerung als Grundlage für die Partnerschaft, Warschau 2009.

Leseempfehlung: Dialog mit Polen - Septemberausgabe 2009 der Politischen Meinung

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