Während dieses zynischen Krieges - eines Krieges von einem Ausmaß, das Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat - sterben zweifellos Heldinnen und Helden, Städte werden zerstört, Schicksale zerbrechen. Obwohl Strategen diesen Krieg seit Langem vorausgesehen hatten, wollte bis zuletzt niemand glauben, dass ein Konflikt solchen Ausmaßes tatsächlich möglich sein würde.
Die präsentierte Studie „Bildung in den vorübergehend besetzten Gebieten“ lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt dieses Krieges - auf die psychologische Okkupation. Sie zeigt, wie russische Propaganda, Militarisierung und die bewusste Kultivierung von Angst systematisch auf Kinder wirken, die in den vorübergehend besetzten Gebieten aufwachsen.
Heute wachsen Kinder in diesen Gebieten in einer Umgebung auf, in der die ukrainische Identität nicht nur verdrängt, sondern durch auferlegte russisch-imperiale Narrative ersetzt wird. Das einzige zugelassene Modell ist eines, in dem die Idee der „russischen Welt” nicht nur Ideologie, sondern alltägliche Realität ist und das Denken bereits im frühen Alter prägt.
Die Gebiete, die die Ukraine zum Preis schmerzlicher und unwiederbringlicher Verluste ihrer Verteidigungskräfte zurückzuerobern versucht, sind bereits vom Virus des russischen Imperialismus infiziert.
Selbst die physische Befreiung garantiert ohne systematische Arbeit an der Wiederherstellung des Bewusstseins, der Sprache und der Identität keine echte Reintegration.
Hauptschlussfolgerungen des Berichts:
- Die russischen Behörden haben die ukrainischen Bildungsprogramme vollständig durch die russischen Standards (FGOS) ersetzt. In diesen wird die Erziehung zum Patriotismus als Bereitschaft zum Krieg verstanden.
- In den Schulen existieren Kadettenkorps und Kosakenklassen. Es werden Lager des Typs „Wojin“ (zu Deutsch: „Kämpfer“) eröffnet, in denen Jugendliche eine militärische Ausbildung erhalten, den Umgang mit Waffen lernen und „ideologische Wachsamkeit“ einüben.
- Bereits im frühen Alter werden Kinder in Bewegungen wie „Junarmija“ und „Bewegung der Ersten“ eingebunden und besuchen „Lektionen des Mutes“ sowie „Gespräche über das Wichtige“, die de facto Elemente der Propaganda darstellen.
- Lehrkräfte und Eltern stehen unter Druck und die Schulen sind zu Räumen der Angst und Kontrolle geworden.
- Russland erzieht systematisch eine loyale Generation, der die ukrainische Identität entzogen wurde und die auf zukünftige Konflikte vorbereitet wird.
- Während der Präsentation wurde betont, dass die Militarisierung des Bildungswesens keine lokale Maßnahme ist, sondern Teil einer langfristigen Strategie Russlands zur Schaffung eines „neuen Menschentyps“ in den besetzten Gebieten.
- Dies ist eine Form der kognitiven Unterwerfung, die darauf abzielt, Kindern das Recht zu nehmen, kritisch zu denken, ihr Land zu lieben und die Wahrheit zu ergründen.
Herausforderungen und Ideen für die zukünftige Reintegration
Während der Präsentation vertieften sich die Teilnehmenden in das Thema der kognitiven Okkupation, also des systematischen, gezielten Einflusses auf das Bewusstsein von Kindern und Jugendlichen, die in vorübergehend besetzten Gebieten leben. Die Diskussion umfasste mehrere zentrale Aspekte:
- Neuropsychologische Wirkmechanismen
Es wurde erörtert, wie Angst, Isolation und wiederholte Botschaften stabile Reaktionsmuster in der kindlichen Psyche formen, insbesondere in den ersten Lebensjahren bis etwa zum dritten Lebensjahr, wenn der Einfluss der Umwelt am stärksten ist.
- Der Effekt der „psychologischen Ansteckung“ in Gruppen
Es wurde hervorgehoben, dass Kinder in Gemeinschaften emotionale Zustände, Verhaltensmuster und Einstellungen schnell übernehmen - vor allem jene, die über Bildung, Medien und den Alltag vermittelt werden. Es wurde darauf hingewiesen, dass einige Kinder aus den besetzten Gebieten Interviews nach ihrer Evakuierung als Verhöre wahrnahmen. Dies zeigt ein hohes Maß an Misstrauen, Angst und psychischer Anspannung, die in einem Umfeld ständiger Kontrolle und Druck entstanden sind – ein deutlicher Hinweis auf die Tiefe der kognitiven Traumatisierung.
- Spiel als Instrument zur Verhaltensmodellierung
Die Teilnehmenden betonten das Potenzial spielerischer Methoden – nicht nur zur Diagnose, sondern auch zur Wiederherstellung. Durch Spiel können Kinder den Ausstieg aus einem traumatischen Umfeld simulieren, sichere Szenarien erleben und alternative Verhaltensmuster entwickeln.
- Der digitale Raum als Einflussfaktor
Es wurden Herausforderungen im Umgang mit Kindern im Online-Bereich diskutiert, wo Propaganda oft unkontrollierten Zugang zum Bewusstsein hat. Dabei wurde die Notwendigkeit neuer Trainingsformate, Inhalte und Unterstützungsangebote betont.
- Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes
Um effektiv mit Kindern aus den besetzten Gebieten zu arbeiten, ist laut den Teilnehmenden die Einbindung von Fachkräften aus den Bereichen Psychologie, Pädagogik und Neurowissenschaft sowie von Personen mit praktischer Erfahrung in diesem Feld erforderlich.
Diskutiert wurden Trainingsprogramme, digitale Ansätze sowie der Austausch mit Studierenden aus den besetzten Gebieten, die derzeit in Odessa studieren.
- Politische Bildung und Selbstorganisation
Es wurde das Defizit an politischer Bildung in der Ukraine kritisiert. Zugleich wurde die Bedeutung horizontaler Netzwerke, Selbstorganisation und interdisziplinärer Zusammenarbeit – zwischen Psycholog:innen, Pädagog:innen, Politikwissenschaftler:innen und Sportorganisationen – betont.
- Sport und Politik
Ein eigenes Diskussionsthema war die Militarisierung des Sports in den besetzten Gebieten. Dabei wurde betont, dass Sport nicht außerhalb der Politik steht, da Sportstrukturen als Instrument der Einflussnahme dienen können.
Zukunft und Deokkupation
Es wurden Strategien der kognitiven Deokkupation sowie die Rolle von Bildung, Sport und Kultur diskutiert. Eine zentrale Botschaft lautete: „Jede individuelle Handlung zählt.” Zudem wurde über den prüfungsfreien Zugang zu ukrainischen Hochschulen für Kinder aus den besetzten Gebieten gesprochen sowie über Verluste, Träume und diejenigen, die noch immer davon träumen, an Universitäten in St. Petersburg zu studieren.
So wurde die Veranstaltung zu einer Plattform für offenen Austausch, Erfahrungstransfer und die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses dafür, wie Bildung zu einem Instrument des Widerstands, der Heilung und der zukünftigen Reintegration werden kann.