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Länderberichte

Inflation Reduction Act: Nur einer von vielen Anreizen

Warum die eigentlichen Wettbewerbsvorteile der USA nicht im Subventionswettlauf liegen

Auf der politischen Ebene schrillten beim „Inflation Reduction Act“ (IRA) in Europa die Warnglocken. Für so manches ausländische Unternehmen in den USA überwiegen hingegen die Vorteile. Die milliarden-schweren Subventionen sind aber keineswegs der einzige Investitionsanreiz. Bereits seit Jahren sind die Vereinigten Staaten auch aus anderen Gründen attraktiv.

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Die lautstarke Empörung über den „Inflation Reduction Act“ hat sich auf europäischer Seite merklich gelegt. Erst war die Aufregung groß und wurde Brüssel aufgefordert, umgehend mit Gegenmaßnahmen nachzuziehen. Dann mehrten sich die Stimmen, die sich anerkennend über das auf Investitionsanreizen und Steuererleichterungen basierende Gesetzespaket äußerten. Und aus der Industrie war schließlich zu hören, dass deutsche Unternehmen vom „Inflation Reduction Act“ auch profitieren könnten. Nachdem sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und US-Präsident Joe Biden im März grundsätzlich darauf verständigen konnten, europäischen Herstellern in den USA den Zugang zu Subventionen für die Produktion von Elektroautos zu ermöglichen, haben sich die Befürchtungen vor einem regelrechten transatlantischen Handelskrieg endgültig zerstreut. Viele Wirtschaftsexperten halten die Ängste vor einer Deindustrialisierung Europas und einer massenweisen Abwanderung europäischer Arbeitskräfte in die USA inzwischen für übertrieben.

 

Kein Grund zur Panikmache

Die Lage hat sich auch deshalb wieder etwas beruhigt, weil die Wirtschaft in Europa insgesamt besser durch die kalten Monate gekommen ist als noch im Herbst angenommen. Die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute rechnen dank nachlassender Inflation und rückläufiger Energiepreise für das laufende Jahr jetzt nicht mehr mit einer Rezession, sondern mit einer geringfügigen Steigerung des Bruttoinlandsprodukts von 0,3 Prozent. Für 2024 wird ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent erwartet. Zwar werde die Bauwirtschaft in Deutschland weiterhin unter steigenden Finanzierungskosten und einer Verteuerung von Baumaterialien leiden; die Lieferengpässe der Industrie würden aber nachlassen. Die Zahl der Arbeitslosen werde in diesem Jahr vorübergehend steigen, 2024 dann aber wieder auf 2,40 Millionen sinken. Für das nächste Jahr rechnen die deutschen Wirtschaftsinstitute in ihrer Frühjahrsprognose auch mit mehr Erwerbstätigen.[1] Ohne Energie und Baubranche hat das produzierende Gewerbe nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Februar überraschend sogar um 2,4 Prozent zugelegt. Besonders erfreulich sind die Ergebnisse für die Automobilindustrie: Sie konnte ihre Produktion im Monatsvergleich um 7,6 Prozent steigern. Auch chemische Erzeugnisse und die Mineralölverarbeitung verzeichneten ein deutliches Plus.[2]

Insgesamt scheint Deutschland die Konjunktur- und Energiekrise der letzten Monate mithin glimpflich zu überstehen. Dass in Deutschland „die Lichter ausgehen“ und Firmen mit Aussicht auf die milliardenschweren Subventionen aus dem „Inflation Reduction Act“ jetzt reihenweise in die USA abwandern, ist angesichts der einigermaßen positiven Prognose wohl nicht zu erwarten. Dagegen spricht auch, dass Deutschland als Innovationsstandort insgesamt besser abschneidet als die USA. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls der im November von der Information Technology & Innovation Foundation (ITIF) veröffentlichte „Transatlantic Subnational Innovation Competitiveness Index“ (TASICI).[3]

Der Bericht vergleicht deutsche Bundesländer und US-Bundesstaaten nach drei Kategorien: Arbeitskräfte in wissensbasierten Wirtschaftssektoren (Bildungsniveau, Zuwanderung, Jobs in Wissenschaft und Technik, Produktivität des verarbeitenden Gewerbes); Globalisierung (Hightech-Exporte und ausländische Direktinvestitionen) sowie Innovationsfähigkeit (Haushalte mit Breitband-Internetanschluss, Zahl der Beschäftigten in bzw. Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Neugründungen von Unternehmen, Zahl der Patente, Fortschritte bei der Reduzierung von Kohlendioxidemissionen und Risikokapital-Investitionen nach Regionen).

Wenig überraschend ist, dass Massachusetts dank seiner führenden Universitäten und Forschungsinstitute sowie vieler hoch qualifizierter Arbeitskräfte allen voran im Bereich Biotechnologie international das Feld anführt. An zweiter Stelle kommt nach dem TASICI-Index auch im Vergleich zu Regionen in Kanada und Italien der Bundesstaat Kalifornien. Insgesamt liegen die deutschen Bundesländer aber leicht vor den Vereinigten Staaten. Von insgesamt 96 untersuchten Regionen gehören Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Bayern, Hessen und Bremen zu den zehn Spitzenreitern.

Einerseits muss sich Deutschland als Innovationsstandort nach dieser Untersuchung mithin keineswegs hinter den USA verstecken; gleichzeitig ist in Washington längst nicht jeder davon überzeugt, dass die mit dem „Inflation Reduction Act“ beschlossenen Subventionen und Steuergutschriften tatsächlich Wettbewerbsvorteile bringen. So vertritt Adam Posen, Präsident des Peterson Institute for International Economics (PIIE), die These, dass der „Schutz und die Förderung der in den USA angesiedelten Produktion vor ausländischer Konkurrenz“ nicht nur „unnötig“ sei für den Erfolg der Industriepolitik, sondern deren „wertvollen Zweck zunichtemachen“ würde.[4]

 

Subventionswettlauf als Strohfeuer 

Trotz „des ganzen Rummels“ um den „Inflation Reduction Act“ und den „CHIPS and Science Act“ würden die damit beschlossenen Maßnahmen „das US-Wirtschaftswachstum oder die Schaffung von Arbeitsplätzen wie bei jeder fiskalischen Expansion nicht über einen anfänglichen Ausgabenzuwachs hinaus beschleunigen“, argumentiert Posen. „Buy American“ habe zwar eine „breite populistische Anziehungskraft“, weil damit eine Wirtschaft suggeriert werde, „die „amerikanische Arbeiter an die erste Stelle setzt“, sich selbst genügt und alles produziert, was sie braucht“. Höchstwahrscheinlich würden die milliardenschweren Programme, so Posen, aber weder die Wettbewerbsfähigkeit der USA erhöhen noch die Einkommensungleichheit verringern.

Nicht nur würde die Biden-Administration „einen Subventionswettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und der EU anheizen“, sondern für Schlüsselindustrien, in denen es keine US-amerikanischen Hersteller gibt, darunter bei Batterien und anderen Technologien für Elektrofahrzeuge, jetzt auch gegenüber verbündeten Staaten ähnliche Auflagen einführen, wie sie für ausländische Firmen in der Volksrepublik China bestehen. Posen fordert von der US-Regierung neben umfangreichen öffentlichen Investitionen in Forschung und Infrastruktur stattdessen „die Förderung des globalen Wettbewerbs und der Verbreitung von Technologien in relevanten Branchen wie Batterien, Cyberabwehr und Impfstoffherstellung“.

Wenn die Vereinigten Staaten und Europa „diskriminierende Subventionen für die Produktion bewilligen und nur China es sich leisten kann, mit ihnen zu konkurrieren“, bedeute dies nach Auffassung des PIIE-Präsidenten „für den Rest der Welt, dass ihre Entwicklungsbestrebungen keine Rolle spielen: Nur denjenigen, die jetzt an der Spitze stehen, wird es erlaubt sein, die Höhen der technologischen Produktion zu erklimmen“. Posen schließt nicht aus, dass große Kohlenstoffemittenten, darunter Schwellenländer wie Brasilien, Indien, Indonesien und Mexiko, unter Umständen auch China, einen „Bieterkrieg zwischen den transatlantischen Herstellern“ vom Zaun brechen könnten. Dieser werde aber „nicht dazu führen, dass die beste Technologie den Zuschlag erhält oder dass sie sich am schnellsten durchsetzt“. Für die auch von den USA angestrebte Reduzierung von Kohlendioxidemissionen sei der „Subventionswettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und der EU“ deshalb „in Wirklichkeit ein gefährlicher Rückschlag“.

Deutschland solle „Subventionswettläufe anderen überlassen“, meinen auch die an der jüngst vorgelegten Frühjahrsprognose beteiligten Institute.[5] Demnach seien Subventionen mit dem Ziel, energieintensive Industrien am Standort zu halten, „keine tragfähige Lösung“. Denn damit würden andere Wirtschaftsbereiche zusätzlich belastet. „Im Ergebnis wäre damit gesamtwirtschaftlich der Wettbewerbsfähigkeit nicht gedient“, warnen die Autoren der Gemeinschaftsdiagnose. Entgangene Spezialisierungsvorteile und höhere Bürokratiekosten würden den Standort Deutschland ihrer Auffassung nach insgesamt sogar schwächen.

EU-Subventionen und industriepolitische Förderprogramme zum Aufbau von Produktionskapazitäten in der Mikroelektronik sieht das Gutachten ebenfalls kritisch. Einerseits erhöhe sich dadurch in der Chipindustrie das Risiko globaler Überkapazitäten. Darüber hinaus „drohen Produktionskapazitäten nach dem Auslaufen von Subventionen wieder ins Ausland verlagert zu werden“. Grundsätzlich sei fraglich, „ob sich mit Finanzhilfen für Unternehmen positive Wachstumseffekte erzielen lassen“. Langfristig bestehe für staatlich subventionierte Firmen jedenfalls die Gefahr, die Steigerung ihrer Innovationsfähigkeit und Produktivität im Wettbewerb zu vernachlässigen.

Für sich genommen könnten sich der „Inflation Reduction Act“ und die in Reaktion darauf von der EU geschnürten Förderpakete nach den kritischen Stimmen auf beiden Seiten des Atlantiks mithin als kostspieliges konjunkturpolitisches Strohfeuer entpuppen. Also viel Aufregung um nichts? Mitnichten! Der Wettbewerb um Standortvorteile wird aber erst dann greifbar, wenn andere Aspekte mit in die Gleichung aufgenommen werden.

Unternehmen treffen Investitionsentscheidungen nach einer ganzen Reihe an Faktoren. Neben Inflation und Energiepreisen, der Verfügbarkeit talentierter und gut ausgebildeter Fachkräfte, Kaufkraft und Konsumlaune, Rechtssicherheit, (digitaler) Infrastruktur und staatlicher Förderung spielen auch die Lohnstückkosten, Produktivität, Nettoumsatzrendite und Genehmigungsverfahren eine gewichtige Rolle. Für deutsche Unternehmen sind die USA nach diesen Kriterien schon seit vielen Jahren ein überaus attraktiver Standort.

 

Lohnstückkosten und Produktivität

Abgesehen von einer kleinen „Delle“ im Jahr 2016, sind die deutschen Direktinvestitionen in den USA bereits seit Ende der Finanzkrise 2011 von damals 251 Milliarden USD innerhalb eines Jahrzehnts kontinuierlich auf 637 Milliarden USD gestiegen. Die Zahl der in den USA ansässigen, mehrheitlich von deutschen Gesellschaftern und Aktionären gehaltenen Unternehmen hat sich seit 2019 – trotz Trump und Covid – von 4.750 auf inzwischen 5.600 vergrößert. Deutschland zählt damit hinter Japan (2021: 721 Milliarden USD) und vor Kanada (607 Mrd.) sowie dem Vereinigten Königreich (565 Mrd.) bereits seit Jahren zu den größten Investoren in den Vereinigten Staaten.

Schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine, der Verabschiedung des „Inflation Reduction Act“, rapide gestiegenen Energiepreisen und hoher Inflation waren die USA nicht nur für Chemiekonzerne wie Evonik, deutsche Automobilunternehmen, Zulieferer und Verpackungshersteller oder Firmen für Dämmstofftechnik überaus attraktiv, sondern auch für Anbieter erneuerbarer Energie. RWE Clean Energy (onshore wind, solar energy, battery storage; künftig auch floating offshore wind) macht in Amerika bereits seit 15 Jahren hervorragende Geschäfte. Ein wichtiger Grund sind die Produktivität und die Lohnstückkosten. Obwohl beide Länder bei den Arbeitskosten des produzierenden Gewerbes bis Ende 2021 praktisch gleichauf lagen, schneitet Deutschland in beiden Bereichen deutlich schlechter ab als die USA.

Von den 28 Ländern, die im IW-Arbeitskostenvergleich[6] vom Oktober untersucht wurden, kam Deutschland bei den Lohnstückkosten auf den siebten Platz. In Europa verzeichneten unter anderem Frankreich, Norwegen und das Vereinigte Königreich noch höhere Lohnstückkosten als Deutschland. In den USA lagen diese hingegen 26 Prozent unter dem deutschen Niveau. Gleichzeitig war die Produktivität in den Vereinigten Staaten 37 Prozent höher als in Deutschland. Mit einem Plus von 42 Prozent war nur Dänemark 2021 noch produktiver. Auch Belgien, Schweden und die Niederlande lagen beim Produktivitätsranking mit großem Abstand vor Deutschland. Frankreich, das Vereinigte Königreich, Japan und Italien konnten hingegen nicht mit dem deutschen Niveau mithalten.

Um ihre Lohnstückkosten zu senken, müsste die deutsche Industrie angesichts vergleichsweise hoher Arbeitskosten ihre Produktivität weiter steigern. Da besonders arbeitsintensiv, steht vor allem der Maschinenbau hier vor erheblichen Herausforderungen. Stattdessen sind die Lohnstückkosten der deutschen Industrie im ersten Halbjahr 2022, also unmittelbar vor Unterzeichnung des „Inflation Reduction Act“, gegenüber dem Vorjahreszeitraum mit 4,9 Prozent stärker gestiegen als in den meisten anderen Ländern Europas. Auch in den USA fehlen Arbeitskräfte und wurden im vergangenen Jahr die Löhne und Gehälter erhöht. Von steigenden Lohnstückkosten blieb die US-Wirtschaft mithin keineswegs verschont.[7] Im Vergleich kann sie dank hoher Produktivität ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit aber verteidigen. 

 

Fachkräftemangel unter anderen Vorzeichen

Fast alle deutschen Unternehmen in den USA (93%) geben nach einer AHK-Umfrage vom Januar[8] an, innerhalb der nächsten drei Jahre mehr investieren zu wollen. 42 Prozent der Umfrageteilnehmer möchten die Zahl ihrer Beschäftigten bis 2027 um bis zu 20 Prozent vergrößern, 40 Prozent rechnen sogar mit einem Mitarbeiteraufwuchs von über 20 Prozent. Nicht nur wollen sie bis 2025 deshalb in zusätzliche Büroflächen investieren, sondern vor allem in die Digitalisierung (37%) und neue Maschinenparks (35%). 22 Prozent planen zusätzliche Investitionen in ihre Cybersicherheit. Gleichzeitig markiert der Fachkräftemangel auch in den USA – noch vor Inflation und Lieferketten – für die deutschen Unternehmen die größte Herausforderung. 87 Prozent der von der AHK befragten Firmen geben an, Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung zu haben. Einerseits ist der Arbeitsmarkt damit auch in den USA die Achillesverse des produzierenden Gewerbes. Beim Vergleich mit Deutschland bestehen aber Unterschiede.

PIIE-Präsident Adam Posen kritisiert völlig zu Recht[9], dass mit Investitionen in Produktionskapazitäten für sich genommen keine neuen Arbeitsplätze entstehen, sondern diese lediglich von einem Ort zum anderen verlagert würden: „Um an einem Ort Arbeitsplätze zu schaffen, muss eine handverlesene, öffentlich subventionierte Investition die Arbeitskräfte mit den entsprechenden Fähigkeiten von anderen US-Arbeitgebern abziehen (...).“ Sollten die Beschäftigten nicht dazu bereit sein, für einen anderen Job an einen neuen Ort umzuziehen, müsse die Zuwanderung erhöht werden, was, so Posen, „im heutigen politischen Klima äußerst unwahrscheinlich“ sei. Vor vergleichbaren Herausforderungen stehen auch die Volkswirtschaften in Europa. Ein Grund dafür, warum die deutschen Unternehmen in den Vereinigten Staaten weiterhin auf zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzen, hat einerseits mit der schieren Größe des Arbeitsmarktes zu tun, dann aber auch mit dem überaus harten Wettbewerb der Standorte untereinander.

Evonik beispielsweise hat sich auch deshalb für eine neue Fertigungsanlage in Indiana und – trotz attraktiver Konkurrenzangebote – gegen andere mögliche US-Standorte entschieden, weil die Universität in Lafayette den Zugriff auf gut ausgebildete Ingenieure verspricht. Volkswagen betreibt seit über einem Jahrzehnt eine Fabrik in Chattanooga/Tennessee, will für seine neue Konzernmarke Scout jetzt aber in South Carolina investieren. Zuvor hatte das Unternehmen mehr als 70 Standorte in einem Dutzend Bundesstaaten geprüft. South Carolina erhielt den Zuschlag nicht nur wegen üppiger Fördermittel, sondern auch wegen der 75.000 Menschen, die in dem Bundesstaat schon jetzt in der Automobilindustrie (unter anderem für BMW) arbeiten. Je nach Branchen, Nähe zu namhaften Universitäten, Ausbildungsniveau und Lebensqualität wirkt sich der allgemeine Fachkräftemangel in den USA also keineswegs einheitlich aus und ausländische Investoren können unter den 50 Bundesstaaten immer noch geeignete Standorte finden.

 

Hohe Nettoumsatzrenditen

Viel spricht dafür, dass die bis Ende vergangenen Jahres feststellbaren rückläufigen Gewinnmargen US-amerikanischer Firmen vorübergehender Natur sind. Im letzten Quartal 2022 war die Reingewinn-Marge der im S&P-500-Index gelisteten größten Unternehmen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 1,1 auf 11,3 Prozent gesunken.[10] Damit liegt die Marke von wenigen Branchen abgesehen aktuell aber immer noch über den Werten vor Beginn der Covid-Pandemie.

Auch für ausländische Investoren sind die Vereinigten Staaten bereits seit Jahren ein überaus profitabler Markt. Trotz steigender Lohnstückkosten und Arbeitskräftemangel bleiben die Firmen überdies optimistisch. Nicht nur erwarten nach der AHK-Umfrage 85 Prozent der in den USA ansässigen deutschen Unternehmen in diesem Jahr erneut steigende Nettoumsätze; entscheidender ist noch, dass zusätzlich auch die Gewinnerwartung hoch ist. Deutsche Anbieter haben sich vor allem im Süd- und Nordosten sowie im Mittleren Westen der USA niedergelassen. Für die drei Regionen erwarten 54 Prozent der befragten Unternehmen 2023 beim Gewinn nach Steuern ein moderates, 13 Prozent ein starkes und fünf Prozent ein sehr starkes Wachstum.

Hermann Simon, Gründer der Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partners, verweist zur Veranschaulichung auf die durchschnittliche Nettoumsatzrendite der 500 größten Unternehmen weltweit: 2021 lag diese bei 7,9 Prozent. Nach Ländern würden sich die erzielten Gewinnmargen der Global-500-Firmen allerdings enorm unterscheiden. In fünf Ländern, darunter auch die USA, liege der Mittelwert mehr als 2 Prozentpunkte über dem Median. Simon folgert daraus, „dass es in diesen Ländern extrem profitable Firmen gibt, die den Mittelwert nach oben verzerren“. [11] Dort erzielten die „Superstars“ Nettoumsatzrenditen von mehr als 20 Prozent.

Großunternehmen in Deutschland landen mit einer Nettogewinnmarge von 3,8 Prozent international hingegen auf dem vorletzten Platz. Zahlen der OECD und der Bundesbank bestätigten nach dieser Analyse das niedrige Gewinnniveau deutscher Unternehmen. 2021 war die Rendite mit 2,1 Prozent nur für chinesische Konzerne noch geringer. Unter den deutschen Global-500-Unternehmen gebe es auch keine Gewinn-Superstars. Gegen besonders profitable Ausnahmefirmen spreche, dass der Mittelwert für die Nettoumsatzrendite in Deutschland nur 0,8 Prozentpunkte über dem Median liegt.

Die Angaben widerlegten, so Simon, die weit verbreitete Annahme, dass deutsche Großunternehmen bedeutend höhere Gewinne erzielen als kleine Firmen oder der deutsche Mittelstand. Gleichzeitig verdeutlichten die geringen Nettoumsatzrenditen, warum deutsche Aktienunternehmen an den Börsen im internationalen Vergleich „erschreckend“ niedrig bewertet würden.

 

Kurze Genehmigungsverfahren

Keines der bisher genannten Investitionskriterien ist neu. Seit der Unterzeichnung des „Inflation Reduction Act“ finden die Standortvorteile des US-Marktes auch angesichts hoher Energiekosten und Inflation aber größere Aufmerksamkeit. Das Gleiche muss für die Genehmigungsverfahren gelten.

In Deutschland erfordert eine Unternehmensgründung nach einem Ende 2021 vorgestellten Gutachten des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) neun Verfahren, in den USA nur sechs. „Gelänge es“, errechnet das IW, „die Anzahl der notwendigen Verfahren auf das Niveau der USA zu reduzieren, ginge dies mit einem geschätzten Anstieg von durchschnittlich gut 11.000 und damit 15 Prozent mehr Unternehmensneugründungen pro Jahr einher“. [12] Nach den für die Jahre 2018 und 2019 analysierten Zahlen war der Aufwand in Deutschland auch im Vergleich zu anderen Ländern, darunter Großbritannien, zum Teil deutlich höher. Schon eine geringfügige Verkürzung der Genehmigungsverfahren würde in Deutschland nicht nur die Zahl der Neugründungen erhöhen, sondern auch mehrere Milliarden Euro zum Bruttoinlandsprodukt und zu den Direktinvestitionen beisteuern, argumentiert das Institut. Die Problematik hat sich durch den „Inflation Reduction Act“ und den Subventionswettlauf nicht nur zwischen Europa und den USA, sondern auch zwischen den US-Bundesstaaten untereinander, noch deutlich verschärft.

Im Ringen um ausländische Unternehmensansiedlungen überbieten sich die US-Regierung und die Bundesstaaten nicht nur mit opulenten Investitionshilfen, sondern konkurrieren die Standorte auch bei der Geschwindigkeit bis zum Vertragsabschluss. Das neue Scout-Werk für mindestens 4.000 Arbeitskräfte wurde im März angekündigt, und schon Mitte des Jahres sollen in South Carolina die Bauarbeiten beginnen. Der Entscheidungsprozess habe nur zwei Monate gedauert, freut sich Scout-Chef Scott Keogh.[13] Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender von Evonik, versichert einerseits, dass er sich für die neue Fertigungsstätte statt Lafayette/Indiana in Deutschland auch Hanau hätte vorstellen können. Für die Bundesregierung wäre es aber erstens nicht leicht gewesen, ein ähnlich attraktives Angebot zu unterbreiten wie die USA; überdies hätten vergleichbare Investitionshilfen auch mit der EU-Kommission in Brüssel abgestimmt werden müssen, „und das wäre“, so Kullmann, „ein fürchterlich quälender, langer Prozess mit völlig ungewissem Ausgang geworden“.[14]

 

Nähe zum Kunden

Für Evonik-Chef Kullmann gibt es „einen rasanten Subventionswettlauf, den wir in dieser Intensität, Rücksichtslosigkeit und Aggression seit dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht mehr gesehen haben“.[15] Scott Keogh, CEO von Scout, bekräftigte im März vor Journalisten: „Es hat nie eine bessere Zeit gegeben als jetzt, um eine Fabrik in den USA zu bauen.“[16] Gleichzeitig sagen Wirtschaftsexperten wie Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts, dass Nordamerika in erster Linie nicht wegen des „Inflation Reduction Act“ als Investitionsstandort interessant sei, sondern wegen der Nähe zum amerikanischen Absatzmarkt, niedriger Steuern und Abgaben sowie preisgünstiger Energie.[17] Die kürzliche AHK-Umfrage unter den in den USA ansässigen deutschen Unternehmen untermauert diese Einschätzung.

Der mit Abstand (93%) wichtigste Standortvorteil ist für die befragten Firmen demnach die Größe des Marktes und die Nachfrage der hiesigen Konsumenten. Zu den „top 3 reasons for investing in the US relative to other global markets“ zählen daneben die „Nähe zum Kunden“ (71%) und eine stabile Marktentwicklung (44%).[18]

Für knapp über die Hälfte der deutschen Unternehmen haben die Förderprogramme und Steuervergünstigungen der US-Regierung hingegen überhaupt keinen Effekt auf Investitionsentscheidungen. Nur 17 Prozent der befragten Firmen begründen zusätzliche Investitionen mit dem „Inflation Reduction Act“. Die Auflagen der US-Regierung für „Buy American“ spielen bei der Investitionsplanung nach der jüngsten Umfrage eine noch geringere Rolle (14%). Insgesamt werden „Government Incentives“ nur von jedem zehnten deutschen Unternehmen als einer der drei wichtigsten Gründe dafür genannt, in den USA zu investieren statt in einem anderen globalen Markt.

Bei der Nähe zum Kunden und zum Absatzmarkt spielen für ausländische Unternehmen unter den gegebenen Bedingungen trotzdem nicht nur Umsatz- und Gewinnerwartungen eine Rolle. So glaubt Evonik-Chef Christian Kullmann, dass der „Multilateralismus, wie wir ihn kennen“, vorbei sei. Handelshemmnisse und Protektionismus in China, Europa oder den USA würden Defensivmechanismen und Investitionshilfen vorantreiben. Als Unternehmenschef habe er die Verantwortung, diesen Wettbewerb zu nutzen. „Für Vorstandschefs eines multinationalen Konzerns darf es“, so Kullmann, „keinen nationalen Wirtschaftspatriotismus geben.“[19] Die Nähe zum Kunden werde umso wichtiger, je mehr Protektionismus es gebe.

 

Fazit

Ebenso wie die kürzeren Genehmigungsverfahren zählt auch die Nähe zum gigantischen Absatzmarkt nicht erst seit dem vergangenen Jahr zu den Standortvorteilen, mit denen die USA international punkten. Gerade für diese beiden Kriterien hat der „Inflation Reduction Act“ den Wettbewerb um ausländische Investitionen aber erheblich verschärft. Der Fachkräftemangel bremst auch die US-Wirtschaft, sollte in seinen möglichen Auswirkungen aber nicht nur mit der Situation in Deutschland, sondern gesamteuropäisch verglichen werden. Denn analog zu den Unterschieden zwischen den US-Bundesstaaten steht die deutsche Wirtschaft hier nicht nur mit den Vereinigten Staaten, sondern auch mit überaus attraktiven Standorten wie Dänemark, den Niederlanden, Belgien und zum Beispiel Schweden im Wettbewerb um zusätzliche Arbeitskräfte.

Gerade bei innovativen Zukunftstechnologien muss sich Deutschland zwar keineswegs vor den USA verstecken; für einen Erhalt der Industrieproduktion in arbeitsintensiven Branchen bleiben die Lohnstückkosten, die Produktivität und die Nettoumsatzrenditen deutscher Unternehmen aber die wichtigsten Stellschrauben. Zusätzliche staatliche Investitionshilfen mögen im weltweiten Subventionswettlauf derzeit nötig sein und kurzfristig Abhilfe schaffen – sie beheben aber nicht das eigentliche Problem: „Die Wachstumsaussichten für die deutsche Wirtschaft gleichen einer Pferdekutsche, bei der die Zahl der Zugtiere sinkt und das Kraftfutter verringert wird, aber mehr Passagiere mitfahren sollen“, kritisiert Stefan Kooths, Vizepräsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Für bessere Standortbedingungen fordert er Investitionen in Bildung und eine bessere Infrastruktur. Deutsche Unternehmen müssten ihre Effizienz steigern. Wichtig sei, so Kooths, dass dringend Ballast abgeworfen wird.


[1] file:///U:/Downloads/gd-gesamtdokument-20230405.pdf

[2] https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-04/industrie-deutschland-produktion-steigerung

[3] https://itif.org/publications/2022/11/14/the-transatlantic-subnational-innovation-competitiveness-index/

[4] https://foreignpolicy.com/2023/03/24/economy-trade-united-states-china-industry-manufacturing-supply-chains-biden/

[5] https://gemeinschaftsdiagnose.de/wp-content/uploads/2023/04/GD_F23-Gesamtdokument_Druckfahne_2.pdf

[6] https://www.gesamtmetall.de/sites/default/files/bilder/iw-trends_lohnstueckkosten_im_internationalen_vergleich_0.pdf

[7] https://de.investing.com/economic-calendar/unit-labor-costs-303

[8] https://img1.wsimg.com/blobby/go/693266b5-9190-49cb-96c9-3e4ab8aff883/downloads/GABO%202023%20Presentation.pdf?ver=1680814079195

[9] https://foreignpolicy.com/2023/03/24/economy-trade-united-states-china-industry-manufacturing-supply-chains-biden/

[10] https://www.vermoegenszentrum.de/wissen/ruecklaeufige-gewinne-bei-us-unternehmen

[11] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eine-gefaehrliche-schwaeche-deutscher-unternehmen-18359927.html

[12] file:///U:/Downloads/Gutachten-IW-Planungs-und-Genehmigungsverfahren%20(1).pdf

[13] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/vw-sieht-durch-subventionswettlauf-neuen-goldrausch-in-amerika-18765391.html

[14] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/indiana-statt-hanau-evonik-baut-lipidwerk-in-den-usa-18788352.html

[15] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/indiana-statt-hanau-evonik-baut-lipidwerk-in-den-usa-18788352.html

[16] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/vw-sieht-durch-subventionswettlauf-neuen-goldrausch-in-amerika-18765391.html

[17] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/usa-lockt-gruene-industrie-mit-milliarden-eu-will-kontern-18739301.html

[18] https://img1.wsimg.com/blobby/go/693266b5-9190-49cb-96c9-3e4ab8aff883/downloads/GABO%202023%20Presentation.pdf?ver=1680814079195

[19] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/indiana-statt-hanau-evonik-baut-lipidwerk-in-den-usa-18788352.html

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Leiter des Länderprogramms Japan und des Regionalprogramms Soziale Ordnungspolitik in Asien (SOPAS)

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21. Juli 2022
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