Nach dem ersten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Vereinigung Südostasiatischer Staaten (ASEAN) mit der Europäischen Union im Dezember vergangenen Jahres in Brüssel titelte die indonesische Tageszeitung Jakarta Post: „Das Ende des EU-Diktats“. Diese neue Selbstwahrnehmung wurde auch durch das Statement des indonesischen Präsidenten Joko Widodo sichtbar, der die EU zu Gleichheit und gegenseitigem Respekt aufforderte und betonte: „Es darf keine Partei mehr geben, die über den anderen bestimmt und davon ausgeht, dass mein Standard besser ist als Ihrer.“ Währenddessen schwiegen die Vertreter der EU größtenteils zu den sonst oft angeprangerten Menschenrechtsverletzungen in Südostasien. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte die strategische Partnerschaft sowie das gemeinsame Engagement für Multilateralismus und Völkerrecht. Außerdem kündigte sie drei gemeinsame Projekte an: einen Energiedialog, mehr Handelsabkommen und ein zehn Milliarden Euro schweres Investitionspaket für Infrastrukturprojekte im Kontext der „Global-Gateway“-Initiative. Es wurde deutlich, dass die Länder Südostasiens keine Bittsteller mehr sind und mit starker eigener Verhandlungsposition daherkommen, der die EU mit attraktiven Angeboten – nicht Mahnungen oder Lippenbekenntnissen – begegnen muss.
„Bambusdiplomatie“ als strategische Handlungsoption
Südostasien hat in den vergangenen Jahren an geostrategischer Bedeutung gewonnen, nicht nur im Großmächtekonflikt zwischen China und den USA, sondern auch als Zielregion für Deutschland und Europa, um die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von China zu reduzieren und die Bestrebungen nach Diversifizierung und De-risking umzusetzen. Daher hat man in diversen Strategiepapieren, wie den deutschen Leitlinien zum Indo-Pazifik 2020 oder der Europäischen Indo-Pazifik-Strategie 2021, sowie durch eine strategische Partnerschaft der EU mit der ASEAN versucht, die Verbindungen mit der Region zu stärken. Doch bisher ist von den Versprechen der EU, beispielsweise neue Handelsabkommen, Energie- und Infrastrukturinvestitionen durch JETP (Just Energy Transition Partnership) in Vietnam und Indonesien oder „Global-Gateway“-Projekten, kaum etwas Konkretes umgesetzt worden. Andere Partnerländer wie Japan, Südkorea, Australien oder Indien sind vor Ort schon viele Jahre aktiv, Südostasien sichert sich dadurch strategische Handlungsoptionen. Zu einem selbstbewussteren Auftreten der Region gehört auch, dass man sich nicht zu einer Seitenwahl zwingen lässt – ob zwischen den USA und China im globalen Handelsstreit oder zwischen Russland und dem sogenannten Westen.
Die Interessen und Abhängigkeiten der Länder Südostasiens sind vielfältig und die Region schließt kleine, hoch entwickelte Stadtstaaten wie Singapur (circa fünf Millionen Einwohner), aber auch riesige Inselstaaten wie Indonesien mit 250 Millionen Einwohnern ein, genau wie zwei der ärmsten Länder der Welt: Laos und Kambodscha. Die intergouvernementale Regionalorganisation ASEAN versucht daher die Interessen zu vereinen, was bei dieser heterogenen Staatengruppe oft nur dem kleinsten gemeinsamen Nenner entspricht. Dies wird der Institution und den Mitgliedsländern oft als Schwäche ausgelegt. Die ASEAN war historisch antikommunistisch ausgerichtet, aber spätestens seit Ende der 1990er-Jahre besteht die Tradition, „nicht alle Eier in einen Korb zu legen“, sich also nicht für eine Seite zu entscheiden und so unabhängig von und äquidistant zu den Großmächten zu bleiben. Idealerweise kann man so die eigenen Vorteile maximieren und sich durch unterschiedliche Bündnisse gegen Risiken einer einseitigen Abhängigkeit absichern. In der Region verwendet man auch den Begriff „Bambusdiplomatie“, insbesondere für das außenpolitische Verhalten von Thailand und Vietnam, und vergleicht sich so mit den Eigenschaften des Bambus: biegsam, aber gleichzeitig stark, widerstandsfähig und langlebig.
UN-Abstimmungsverhalten der ASEAN-Staaten: „Bambusdiplomatie“ par excellence
Die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine zeigen sich auch in Südostasien mit steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen, die geopolitischen Auswirkungen des Krieges in Europa aber sind in der Region weniger präsent. Daher fehlt in den meisten ASEAN-Ländern das Verständnis der Bevölkerung, warum der Krieg in Europa eine sogenannte Zeitenwende hervorgerufen hat und dass die westlichen Partnerländer sich gemeinsame Zeichen der Solidarität auch von der ASEAN wünschen. Für viele Südostasiaten ist der Krieg ein regionaler Konflikt und man möchte sich aufgrund von nationalen und regionalen Interessen nicht auf eine Seite schlagen. Auch wenn der russische Angriffskrieg gegen die Grundprinzipien der Regionalorganisation verstößt – darunter der Respekt vor nationaler Souveränität, Unabhängigkeit und Gleichheit, territoriale Integrität und friedliche Streitbeilegung – konnte man sich nicht auf ein einheitliches Abstimmungsverhalten der ASEAN-Staaten einigen und bei den in der Abbildung dargestellten Abstimmungen wurden unterschiedliche Positionen eingenommen.
Abb. 1: Abstimmungsverhalten der Länder Südostasiens in den UN
Betrachtet man das Abstimmungsverhalten zur ersten Resolution in der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNGA), haben die ASEAN-Länder diese größtenteils unterstützt, ohne jedoch klare Worte gegen den Aggressor zu finden. Auch das offizielle Statement der ASEAN nennt Russland nicht, sondern führt lediglich aus, dass man zutiefst besorgt über die Situation sei und alle Parteien zu Zurückhaltung und einer diplomatischen Lösung aufrufe. Einzig Singapur benennt Russlands Krieg als illegal und unprovoziert und trägt die Sanktionen gegen Russland mit. Im März 2022 stimmten acht der zehn ASEAN-Mitglieder (Brunei, Kambodscha, Indonesien, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur und Thailand) für die Resolution, welche den sofortigen, vollständigen und bedingungslosen Rückzug Russlands aus dem Gebiet der Ukraine fordert. Nur zwei ASEAN-Mitglieder – Laos und Vietnam – enthielten sich, was durch ideologische, historische und auch rüstungspolitische Verbindungen mit Russland zu erklären ist. Dasselbe Bild zeigte sich ein Jahr später in der UNGA-Abstimmung vom 23. Februar 2023.
Die Abstimmung über die Suspendierung Russlands vom UN-Menschenrechtsrat zeigte ein deutlich anderes Bild, da sich nur Myanmar, die Philippinen und Timor-Leste dafür – Vietnam und Laos dagegen – aussprachen und die restlichen Länder sich enthielten (Brunei, Kambodscha, Indonesien, Malaysia, Singapur und Thailand). Ein Beweggrund für dieses Abstimmungsverhalten könnte sein, dass sich die ASEAN stets für die Inklusivität aller Formate einsetzt und diplomatische Bemühungen mit den Konfliktparteien als Grundvoraussetzung für Frieden betrachtet. Daher verfolgte auch Indonesien während seiner G20-Präsidentschaft das Ziel, Russland nicht auszuschließen, obwohl dies von den G7-Staaten offensiv gefordert wurde.
Die ASEAN nimmt bei keiner Abstimmung eine geeinte Position ein und die südostasiatischen Länder wechseln sogar teilweise das Abstimmungsverhalten – so votierte Thailand mit Laos und Vietnam gegen die dritte Resolution der Vollversammlung, bei der es um die völkerrechtswidrige Annexion der besetzen Gebiete in der Ukraine ging. In Thailand sprachen sich vor allem jüngere Teile der Bevölkerung für Solidarität mit der Ukraine aus, doch über alle Schichten und politischen Akteure hinweg fielen auch die Narrative einer Einkreisung Russlands durch die NATO auf fruchtbaren Boden. Bemerkenswert ist auch das Abstimmungsverhalten Kambodschas, das sonst als Satellitenstaat der Volksrepublik China gilt und sich dennoch meistens pro-ukrainisch ausgesprochen hat. Die Junta in Myanmar hat öffentlich eine Russland unterstützende Position eingenommen, die Vertreterin bei der UNGA gehört allerdings zur Exilregierung (Myanmar National Unity Government) und stimmte gegen Russland.
Begründungsversuche für die Uneinigkeit der ASEAN bei den Abstimmungen reichen also – neben nationalen Interessen – von Desinformation in der Region und fehlender regionaler Abstimmung der ASEAN-Mitgliedsländer bis hin zu diplomatischen Beeinflussungsversuchen durch China und Skepsis gegenüber den USA und Europa. Doch trotz der Uneinigkeit wurde im Verlauf des ersten Kriegsjahres die Sprache etwas klarer, beispielsweise in den Gipfelerklärungen der G20-Länder auf Bali unter indonesischem Vorsitz und der Staats- und Regierungschefs der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) in Bangkok unter thailändischem Vorsitz, welche beide im November 2022 stattfanden. Das Abschlussdokument der APEC übernahm die Textpassage zum Krieg in der Ukraine vom G20-Gipfel. Beides wurde von regionalen Expertinnen und Experten als diplomatischer Erfolg bewertet: Der russische Angriffskrieg wurde mehrheitlich verurteilt und die negativen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft wurden aufs Schärfste kritisiert. Der Kompromiss aber war, dass ein Zusatz im Dokument „andere Ansichten und unterschiedliche Bewertungen“ eingestand. Nach Einschätzung der Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Thailand zeigt dies, „dass alle APEC-Mitglieder – inklusive Russland – trotz unterschiedlicher Positionen zum Krieg weiterhin miteinander kooperieren werden. […] Diese Entwicklungen in Bali und Bangkok werden in der Region von manchen als Balanceakt und Erfolg der ASEAN-Länder zelebriert.“ Eine unklare Positionierung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verleihe Macht und Autonomie, so die sicherheitspolitische Expertin Claudia Major. Viele Länder, die die Sanktionen nicht mitgetragen haben, werden vom Westen umgarnt und profitieren gleichzeitig durch den Import von billigem russischen Gas und Rüstungsgütern. Diese Sichtweise lässt sich auch für Südostasien mit den verstärkten Reisen der deutschen Bundesregierung im vergangenen Jahr belegen: Zahlreiche Bundesminister und auch der Bundeskanzler reisten nach Vietnam und Indonesien, im Februar 2023 flog sogar der Bundespräsident nach Malaysia und Kambodscha. Die deutsche Bundesregierung verlor also trotz des Anspruchs einer wertegeleiteten Außenpolitik nicht das Interesse an der Zusammenarbeit mit Südostasien, obwohl Länder wie Vietnam nicht „mit dem Westen“ abgestimmt hatten.
Nationale Abhängigkeiten als Vulnerabilität
Durch die globalen Folgen des Krieges werden auch nationale Abhängigkeiten und Interessen der verschiedenen ASEAN-Länder erkennbar, die man als Gründe für die diplomatische Flexibilität anführen kann, beispielsweise die vietnamesische Rüstungs- und die indonesische Energiepolitik.
Wenn man das Abstimmungsverhalten Vietnams in den Vereinten Nationen betrachtet, das sich als eines von 35 Ländern weltweit enthielt, ist dies auch auf historische Abhängigkeiten zurückzuführen, die sich während der Zeit der Sowjetunion unter kommunistischen Ländern gebildet hatten. Vietnam ist ein kommunistischer Einparteienstaat und hat historisch enge Verbindungen zu Moskau. Ferner hat das Land seit 2012 eine strategische Partnerschaft mit der Russischen Föderation. Eine solche hat Vietnam sonst nur mit der Volksrepublik China, Indien, Südkorea und seit April 2023 auch mit Australien. Vietnam verhält sich in seiner Außenpolitik grundsätzlich pragmatisch und sieht dies ebenso als Stärke wie als Garantie seiner Unabhängigkeit. Zudem ist Moskau der wichtigste Partner in den Energie- und Rüstungsbeziehungen: Rund 80 Prozent der vietnamesischen Rüstungsimporte stammen aus Russland. Interessanterweise verwendet Vietnam diese Waffen als Abschreckung gegenüber dem im Südchinesischen Meer immer aggressiver auftretenden China. Daher bedrohen die stetig enger werdenden Bande zwischen Peking und Moskau auch die Sicherheit Vietnams und es besteht erhebliches Interesse an einer Diversifizierung der Rüstungszulieferer, so die Einschätzung von Florian Feyerabend, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Vietnam.
In Indonesien gibt es sowohl positive als auch negative indirekte Folgen des Krieges: Einerseits ist Indonesien das größte Kohleausfuhrland der Welt und drittgrößter Produzent hinter China und Indien und profitiert daher von der gestiegenen weltweiten Nachfrage nach Kohle und weiteren Rohstoffen wie Eisen, Stahl und Palmöl. Andererseits benötigt das Land nach wie vor große Mengen Öl für den eigenen Energiebedarf – Öl machte 2021 noch 31 Prozent des nationalen Energiemix aus. Die höheren Preise beim Ölimport führen aktuell zu Schwierigkeiten für die indonesische Politik bei den Energiesubventionen, durch die man versucht, die Preise für die Bevölkerung niedrig zu halten. Auch die Grundnahrungsmittelpreise, beispielsweise für Nudeln, Mehl oder Speiseöl, sind gestiegen, da sich der Krieg negativ auf die Produktion von Weizen in der Ukraine und Russland sowie auf die indonesischen Importe von Düngemittel aus Russland auswirkt. Gleichzeitig besitzt auch die indonesische Luftwaffe weiterhin russische Ausrüstung – beispielsweise Su-27-Bomber –, versucht sich jedoch aktuell breiter aufzustellen, etwa mit französischen Rafale-Kampfflugzeugen. Die beiden kurzen Fallbeispiele zeigen die vielschichtigen Auswirkungen, die der Ukrainekrieg in Südostasien nach sich zieht, aber auch Abhängigkeiten und nationale Interessen, die das Abstimmungsverhalten der ASEAN-Länder beeinflussen. Die negativen Folgen der COVID-19-Pandemie auf globale Wertschöpfungs- und Lieferketten werden durch die Konsequenzen der Sanktionen noch verstärkt. Im Bereich fossiler Energieträger oder bei Dünge- und Nahrungsmitteln, aber auch für die Inflation und Verschuldung gilt: Weltweite Ungleichheiten verschärfen sich durch die Sanktionen und deren Auswirkungen auf den Weltmarkt. Außerdem ist Russland als drittgrößter Rüstungsexporteur in ganz Südostasien aktiv und schafft dadurch mittel- bis langfristig sicherheitspolitische Abhängigkeiten, die nur durch alternative Angebote der Rüstungsindustrie abgeschwächt werden könnten. Südkorea und Frankreich haben dieses Problem erkannt und bieten neben Australien und den USA der eigenen Waffenindustrie Anreize für Investitionen in und Handel mit Südostasien an. Deutschland hatte zuletzt vor mehr als zehn Jahren eine Lieferung von 61 Leopard-2-Panzern nach Indonesien bewilligt und aktuell wird über deutsche U-Boote verhandelt. Das Interesse der Region an rüstungspolitischer oder verteidigungspolitischer Zusammenarbeit mit Deutschland oder anderen europäischen Ländern ist grundsätzlich hoch, daher könnte auch dieser Bereich für eine engere Zusammenarbeit in Betracht gezogen werden.
Sicherheitspolitische Neutralität und weniger Multilateralismus
Die Länder Südostasiens setzen formell auf Multilateralismus und haben sich innerhalb der ASEAN dem Prinzip der Neutralität verschrieben, auch im globalen Mächteringen um den Indopazifik. Doch die ASEAN steht mit dem gescheiterten Fünf-Punkte-Plan für Myanmar, uneinheitlichem UN-Abstimmungsverhalten zum Krieg in der Ukraine und ausbleibender politischer oder ökonomischer Integration selbst auf dem Prüfstand. Der Trend in der Region Südostasien weg von Multilateralismus ist nicht zu übersehen und es geht mehr hin zu minilateralen Zusammenschlüssen, beispielsweise dem Quadrilateral Security Dialogue (QUAD) und dem trilateralen Sicherheitsbündnis AUKUS (bestehend aus Australien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten) – bei denen die ASEAN nicht beteiligt oder vorab konsultiert wurde. Damit ist das Prinzip der ASEAN-Zentralität, das die Regionalorganisation als wichtigste Plattform für die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen und in der Interaktion mit externen Mächten definiert, quasi ausgehebelt. Das schafft ein Kapazitätsproblem für Europa, das sich bisher gerne auf die ASEAN-Partnerschaft konzentriert hat, aber noch wenig mit den einzelnen Ländern oder in regionalen Partnerschaften kooperiert.
Die Großmächte USA und China konkurrieren im indopazifischen Raum schon Jahrzehnte lang miteinander und die Länder Südostasiens versuchen auch im sicherheitspolitischen Bereich, eine Seitenwahl zu vermeiden. Hoang Thi Ha aus Singapur rät, Vorschläge wie die von den USA geführte Free and Open Indo-Pacific Strategy (FOIP) oder die Global Security Initiative (GSI) Chinas nicht vorbehaltlos zu unterstützen, sondern nach Bereichen mit konvergierenden Interessen zu suchen und die Region offen, inklusiv und regelbasiert zu gestalten. Sie warnt vor einer Auflösung der ASEAN-zentrierten regionalen Sicherheitsarchitektur, welche nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine eine starke Bipolarisierung zwischen den gestärkten US-geführten Bündnissen und der fest verankerten chinesisch-russischen Achse erfährt. Ein philippinischer Sicherheitsexperte sieht ebenso eine schwindende Bedeutung des Multilateralismus: „Die Entstehung und anschließende Institutionalisierung von minilateralen Gruppierungen unter Führung der USA mit einer eindeutigen militärischen Dimension ist zum Teil Ausdruck der zunehmenden Besorgnis über China und des schwindenden Vertrauens in die Rolle der ASEAN als Motor der regionalen Integration.“ Innerhalb der ASEAN ist die sicherheitspolitische Integration wenig fortgeschritten und zwei der Mitgliedstaaten sind offizielle US-amerikanische Alliierte: Thailand und die Philippinen. Die Philippinen haben sich seit der Wahl des neuen Präsidenten Ferdinand Marcos Jr. wieder stärker ihrem Bündnis mit den USA zugewandt. Im Februar 2022 wurde der rotierende Zugang zu vier neuen Militärbasen ermöglicht – obwohl die Verfassung eine dauerhafte Stationierung fremder Truppen verbietet. Eine davon ist nur knapp 650 Kilometer von Taiwan entfernt. Japan ist ebenfalls eine neue rüstungs- und sicherheitspolitische Kooperation mit den Philippinen eingegangen, ebenso wie Australien und Frankreich. Deutschland hat zwei Drohnen an die philippinische Küstenwache geliefert. Der Economist vergleicht die Bedeutung der Philippinen für die USA sogar mit der von Polen für die NATO. Auch wenn im Südchinesischen Meer die meisten Anrainerstaaten und ASEAN-Mitglieder Gebietsstreitigkeiten mit China haben, vermeiden sie auch hier die direkte Kritik an dem Nachbarn. Als Vietnam im Jahr 2020 den rotierenden Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gemeinsam mit Deutschland innehatte, verzichtete man aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeiten und Handelsbeziehungen darauf, das aggressive Verhalten der Chinesen auf Fischerbooten im Südchinesischen Meer im Sicherheitsrat auf die Agenda zu setzen. Auch wenn Europa sicherheitspolitisch keine Rolle in der Region spielt, werden symbolischer Beistand und Einsatz für die Einhaltung des Völkerrechts – wie beispielsweise die Entsendung der Fregatte Bayern – von den meisten ASEAN-Ländern wahrgenommen und wertgeschätzt. Europäische und multilaterale Fahrten zur Aufrechterhaltung der Freiheit der Seewege werden begrüßt, da sie weniger provokant daherkommen als die der USA. Gleichzeitig erwartet niemand in Südostasien ein stärkeres sicherheitspolitisches Engagement Europas.
Attraktive Angebote an Südostasien –kein Diktat
Die Fallbeispiele zu Sicherheitspolitik, Energie- und Rohstoffabhängigkeiten zeigen die Komplexität der Entscheidungen in Südostasien. Ein Diplomat aus Singapur bestätigt, dass der Umgang mit der Rivalität zwischen China und den USA bei vielen Ländern der ASEAN nicht zu einer Seitenwahl, sondern zu Koalitionen und Partnerschaften mit vielen verschiedenen Akteuren sowie dem Streben nach möglichst großer Autonomie führt. Was könnten also attraktive Angebote aus Europa sein? Europa genießt laut einer aktuellen Expertenumfrage weiterhin großes Vertrauen in Südostasien und es besteht beiderseitiges Interesse an einer vertieften Zusammenarbeit. Auf die Frage, für welchen vertrauensvollen, strategischen Partner sich die ASEAN als „dritte Partei“ angesichts der Unwägbarkeiten der strategischen Rivalität zwischen den USA und China entscheiden würde, gewinnt die EU deutlich vor Japan und Indien. Bei den größten Herausforderungen der Region – Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Rezession, Klimawandel, Zunahme sozialer Ungleichheit sowie steigende militärische Spannungen und zunehmende Rivalität der beiden Großmächte – gibt es drei Ansatzpunkte für die EU.
Im Wirtschaftsbereich könnte der Abschluss neuer Handelsabkommen für beide Seiten gewinnbringend sein, auch im Hinblick auf deutsche und europäische Bemühungen um Diversifizierung. Südostasien überzeugt durch geringe Lohn- und Fertigungskosten und verfügt selbst mit der RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) über das weltweit größte Freihandelsabkommen. Für die Verhandlungen der EU mit Indonesien, den Philippinen und Thailand kommen die bekannten Fragen der Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards auf und es werden pragmatische Ansätze gefordert sein. Einerseits ist die EU dafür beliebt, für Werte und Völkerrecht einzutreten und andererseits wird sie dafür kritisiert, zu sehr auf Konditionalität zu setzen. Darum wird es auch bei den bevorstehenden Verhandlungen der EU mit Indonesien, den Philippinen und Thailand gehen.
Ähnliches gilt für die Klima- und Energiepolitik: Südostasien ist beispielsweise durch Hitzewellen, Überschwemmungen und Stürme von den Folgen des Klimawandels überdurchschnittlich gezeichnet. Einerseits stehen die Initiativen der EU in den Bereichen Klimaanpassung, Energieeffizienz und Infrastrukturinvestitionen für Qualität und Nachhaltigkeit. Andererseits sind die moralischen Vorschriften und normative Standardsetzung in der Region längst unbeliebt oder werden sogar als neue Form von Kolonialismus gesehen. Beispielsweise wurden die Exportverbote der Welthandelsorganisation für indonesisches Nickel oder Palmöl aufgrund der Abholzung des Regenwaldes aus der Region heraus scharf kritisiert. Auch dieser Balanceakt zwischen einer wertebasierten Klimaaußenpolitik und pragmatischen Unterstützungs- und Kooperationsangeboten muss gelingen. Ferner müssen bereits bestehende Programme wie die „Global-Gateway“-Initiative, die Energiepartnerschaften mit Vietnam und Indonesien (JETP) oder der EU Green Deal mit konkreten Projekten versehen und in der Umsetzung besser kommuniziert werden. Sicherheitspolitik ist der dritte Bereich offener Handlungsspielräume für Europa, da die „Bambuspolitik“ Südostasiens vielseitige Beziehungen zu allen Akteuren ermöglicht. Die Unterstützung von maritimer Sicherheit im Südchinesischen Meer hat die EU in mehrere Strategiepapiere aufgenommen, aber wie konkret der europäische Beitrag dazu aussieht, ist noch unklar. Außerdem könnten neue Rüstungskooperationen den Ländern Südostasiens aus der Abhängigkeit von russischen Exporten helfen. Die sogenannte Zeitenwende muss auch in der deutschen und europäischen Politik gegenüber Südostasien ankommen und es bleibt die Frage, ob wir auch selbst sicherheitspolitische Akteure in der Region werden wollen. Wie Jean Paul Sartre schon sagte, ist auch die Entscheidung, sich nicht zu entscheiden, eine Handlung.
Schließlich sollten Deutschland und Europa Verständnis für die „Bambusdiplomatie“ und die multivektoralen Außenbeziehungen der ASEAN aufbringen. Eine wichtige Voraussetzung für alle Kooperationen sind gegenseitiger Respekt und Partnerschaften auf Augenhöhe. Deutschland und die EU sollten die Staaten Südostasiens für ihr Streben nach Neutralität nicht verurteilen, sondern eine vermittelnde Rolle einnehmen und pragmatische Kooperationsmöglichkeiten suchen, die sowohl werte- als auch interessengeleitet sind. Innerhalb der bereits veröffentlichten Strategien zum Indopazifik, der strategischen EU-ASEAN-Partnerschaft und auch mit der künftigen deutschen Chinastrategie gibt es hier einige Möglichkeiten für die deutsche und europäische Politik, die bereits enge Zusammenarbeit mit Südostasien und dem Indopazifik noch zu vertiefen.
Isabel Weininger ist Referentin in der Abteilung Asien und Pazifik und in der Abteilung Personal Ausland der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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