Country Reports
Zunächst ließ es die Regierungsfraktion offen, ob die regierende Partei nochmals auf einen eigenen Kandidaten verzichtet, so wie im ersten Wahlgang. Ebenso unklar war die Haltung der Regierungspartei für den Fall, dass am 8. Mai wieder nur ein Kandidat, nämlich Nikol Pashinyan, zur Wahl antritt. Dessen Wahl könnte nur mit Hilfe von Stimmen der „Republikaner“ ermöglicht werden, die mit 58 von insgesamt 105 Stimmen über eine Sperrmajorität verfügen.
Am Nachmittag des 2. Mai kündigte die Republikanische Partei an, zum zweiten Wahlgang am 8. Mai definitiv keinen eigenen Kandidaten aufstellen zu wollen. Sollte ein anderer Kandidat von mindestens einem Drittel der anwesenden Abgeordneten vorgeschlagen werden, so würden sie diesen mit unterstützen! Dies träfe auch für den Fall zu, wenn es sich bei dem Kandidaten wieder um Nikol Pashinyan handele! Offenkundig versuchen die Republikaner, das Heft des Handelns wieder in die Hand zu bekommen. Es bleibt offen, ob dies den Republikanern angesichts der andauernden Proteste mit solchen parlamentarischen Volten auch gelingt.
Regierungspartei zwischen Baum und Borke
Gleichwohl haben sie nicht mehr alles in ihrer Hand. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sind geblieben. Trotzdem scheint alles anders geworden zu sein. Möglicherweise setzt die Regierungspartei darauf, den Oppositionskandidaten am 8. Mai erneut durchfallen zu lassen. Die dann unvermeidlichen Neuwahlen würden die „Republikaner“ maßgeblich mit vorbereiten, da sie den Zugriff auf den größten Teil der institutionellen Infrastruktur haben.
Aber eine wirkliche Strategie ist auf Seiten der „Republikaner“ auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Offenkundig sitzt der Schock immer noch sehr tief. Mit dieser Entwicklung hatte keiner gerechnet. „Nikol, Du hattest recht“, war die resignierende Antwort des zurückgetretenen ehemaligen Präsidenten Sersch Sargsyan in Richtung seines Konkurrenten. Kurzzeitig verhandelten die Republikaner mit Nikol Pashinyan dahingehend, ihm am 1. Mai einige notwendige Stimmen zu leihen, vermutlich gegen das Zugeständnis, weiterhin die Regierungsgeschäfte wesentlich in der Hand zu behalten.
Neuwahlen wollten sie eigentlich vermeiden, weil in der derzeitigen Situation und angesichts der anhaltenden Massenproteste im ganzen Land deren Chancen, wiederum die absolute Mehrheit zu erringen, sehr gering sein dürften. Die „Republikaner“ waren in den letzten 15 Jahren so etwas wie die armenische Staatspartei. Aber dieser Nimbus scheint nicht mehr zu tragen. „Sersch muss weg“ war der Protestruf der Demonstranten vor ein paar Tagen. Nun geht es um mehr. Eine Strategie der Republikaner ist nicht zu erkennen. Sie scheinen auf Zeit zu spielen, müssen aber feststellen, dass sich diese gerade fundamental zu ändern scheint.
Den gegenwärtigen Helden der Opposition zu unterstützen wäre ein klares Zugeständnis an die Demonstranten außerhalb des Parlaments.
Opposition will gleichwohl einen „Neuanfang“
Nikol Pashinyans Agenda hingegen scheint klar zu sein. Er will die Macht der „Republikaner“ beenden, ob über den Weg von Neuwahlen oder durch weiteren Druck von der Straße. Im Moment arbeitet er an einer konzertierten Aktion bestehend aus beiden Elementen. Weiterhin demonstrieren Tausende Armenier in der Hauptstadt Eriwan und anderen Zentren des Landes. Zwischenzeitlich blockieren die Demonstranten auch die privaten Wohnhäuser der Abgeordneten der „Republikaner“, um diese zu zwingen, am 8. Mai ihre Stimme dem Oppositionskandidaten zu geben. Strategisch wichtige Straßen wie die zum Flughafen werden blockiert. Nikol Pashinyan hat angekündigt, im Falle seiner Wahl zum Ministerpräsidenten am 8. Mai gewissermaßen einen „geordneten“ und gut vorbereiteten Übergang für Neuwahlen anzustreben. Als Ministerpräsident von Republikaners Gnaden stehe er nicht zur Verfügung. Allerdings hat nach der Verfassungsreform der Ministerpräsident enorme Kompetenzen und könnte beispielsweise versuchen, ein Wahlgesetz so zu ändern, dass in der Tat eine mittelfristige Vorbereitung von Neuwahlen möglich wäre. Damit könnten für deren Vorbereitungen deutlich mehr gesellschaftliche Kräfte hinzugezogen werden.
Regierung und Opposition nicht an Konfrontation mit Russland interessiert
Aber in Armenien spielen bei derartigen innenpolitischen Vorgängen sehr schnell außen- und sicherheitspolitische Überlegungen mit. In der Parlamentsdebatte am 1. Mai wurde Nikol Pashinyan von den Republikanern gefragt, wie er zur Mitgliedschaft Armeniens in der Eurasischen Union stehe. Hier wollten sie ihn argumentativ stellen, nachdem er während der Demonstrationen zumindest angedeutet hatte, diese Mitgliedschaft in dem von Russland dominierten Wirtschaftsbündnis anzuzweifeln. Im Parlament ruderte er zurück und bestätigte, dies nicht ändern zu wollen. Den status quo der Mitgliedschaft in der Eurasischen Union wolle er nicht antasten. Bleibt abzuwarten, ob dieses Thema wieder auf die Tagesordnung kommt im Falle seiner möglichen Wahl zum Ministerpräsidenten.
Es fällt auch auf, dass zwar viele Demonstranten zuweilen das Wort „Maidan“ im Munde führen, Nikol Pashinyan jedoch darauf verzichtet. Zu sensibel ist allein die Nennung dieses Wortes mit Blick auf die von der Mehrheit der Armenier akzeptierte Schutzmacht Russland. Wenn in der internationalen Berichterstattung über die aktuellen Ereignisse in Armenien davon die Rede ist, Armenien und Russland seien „Verbündete“, so ist dies gewiss nicht falsch.
Aber diese Diktion allein ist nicht ausreichend um zu erklären, was damit gemeint ist. Es dürfte kaum strittig sein, dass in Russlands geostrategischem Interesse Armenien eine Rolle spielt und aus Sicht des kleineren Partners dessen Sicherheitsbedürfnis nur durch Moskau gewährleistet werden kann. Aber die Kritik an Russlands Verhalten im für die Armenier als existentiell empfundenen Konflikt mit Aserbaidschan um Berg Karabach ebbt seit einigen Jahren nicht ab, nachdem klar geworden war, dass Russland auch an den Erzfeind in Baku Waffen liefert. In dieser Kritik sind sich auch Regierung und Opposition einig. Auch wenn es bei den Armeniern naturgemäß unterschiedliche Auffassungen gibt bezüglich des Verhältnisses zu Russland und manche Politiker mehr auf den problematischen „großen Bruder“ setzen als andere: Sowohl der Regierung als auch den meisten oppositionellen Kräften gilt hier Äquidistanz als probates Mittel. Freilich muss die von Fall zu Fall immer wieder neu definiert werden. Im Moment gibt es keine Anzeichen dafür, dass Russland an einer Eskalation der innenpolitischen Situation in der Republik Armenien interessiert ist.