Country Reports
Vor dem Gipfel besuchte der spanische Regierungspräsident José María Aznar alle 15 Hauptstädte der Mitgliedstaaten. In bilateralen Vorgesprächen lotete er konsensfähige Positionen, insbesondere bei Fragen einer europäischen Migrationspolitik, aus.
Die geplante Tagesordnung sah vor, über die die Erweiterung der EU, die direkten Hilfen für die Landwirtschaft an die neuen Mitgliedstaaten, sowie über Terrorismusbekämpfung, die eine Priorität der spanischen EU- Ratspräsidentschaft darstellt, zu beraten. Aufgrund der Wahlerfolge rechter Parteien in den vergangenen Monaten beschlossen die Staats- und Regierungschefs, die Migrationspolitik auf die Tagesordnung des Rates zu setzen.
Überschattet wurde der Gipfel von fünf Bombenanschlägen der ETA in Fuengirola, Marbella, Zaragoza, Santander und Malaga mit mehreren Leicht- und zwei Schwerverletzten. Die baskische Terrororganisation stellte damit wieder ihre logistische Schlagkraft trotz umfangreicher polizeilicher Kontrollen unter Beweis.
Der Sevilla-Gipfel wurde auch von den Gewerkschaften genutzt, um gegen die geplante Arbeitsmarktreform der spanischen Regierung zu protestieren. Einen Tag vor dem Gipfel fand ein Generalstreik in ganz Spanien statt. Der Europäische Gewerkschaftsbund unterstützte die Proteste seiner spanischen Mitgliedsverbände. Globalisierungsgegner (ca. 50 000 Personen) organisierten einen Gegengipfel. Besonders kritisiert wurde die europäische Agrarpolitik.
Die Ergebnisse des europäischen Rates von Sevilla blieben hinter den Erwartungen zurück. Wichtige Fragen des Erweiterungsprozesses und der institutionellen Reformen blieben unbeantwortet.
Die Asyl- und Migrationspolitik
Die spanische Präsidentschaft setzte in Konsens mit den 15 Regierungen der Mitgliedsstaaten die Einwanderungspolitik auf die Tagesordnung des Rates.
Ca. 500 000 Personen wandern jährlich illegal in die Union ein. Aznar, Blair und Berlusconi forderten daher im Vorfeld des Gipfels ein hartes Vorgehen gegenüber Drittstaaten, die bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderer kaum kooperieren. Die Europäische Union solle in solchen Fällen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber diesen Ländern besitzen und aussprechen dürfen.
Hiergegen protestierten besonders Schweden und Frankreich. Die freundschaftlichen Beziehungen zu den nordafrikanischen Ländern wollte besonders die französische Delegation nicht gefährden.
Im Abschlussdokument wurde eine gemäßigte Position formuliert. Wirtschaftliche Sanktionen wurden ausgeschlossen. Über andere Gegenmaßnahmen muss der Europäische Rat einstimmig beschließen. Kriterium dafür ist, dass sich der Drittstaat des öfteren kooperationsunwillig gezeigt hat.
Aznar wollte diese Entscheidung der Europäischen Kommission überlassen. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Einwanderungspolitik nicht nur als Teil der europäischen Innenpolitik sondern auch als Element der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik künftig begriffen wird. Die 15 Staaten der Europäischen Union einigten sich auf:
- Erhöhung der Fälschungssicherheit von Sichtvermerken (Visa) und Reisedokumenten; Erstellung eines gemeinsamen Identifikationssystems für Visa; die Errichtung gemeinsamer Konsulate in den Drittstaaten
- bessere Kooperation mit den Staaten aus denen die Einwanderer kommen, um gegen die organisierten Schlepperbanden gezielter vorzugehen
- finanzielle und technische Unterstützung der Drittstaaten beim Kampf gegen die illegale Einwanderung
- Verbesserung und Verstärkung der Überwachung der Küsten und der gemeinsamen Außengrenzen
- Durchführung von gemeinsamen Grenzkontrollen
- einheitliche Ausbildung der Grenzbeamten und verstärkte Zusammenarbeit
- ein Überdenken der Asylpolitik und Festlegung von gemeinsamen Normen für die Ausweisung
- Stärkung der Rolle Europols
- Kampf gegen die Schwarzarbeit
- Aufnahme von Klauseln mit Bezug auf Migrationsprobleme bei künftigen bilateralen Verträgen mit Drittstaaten
Die Erweiterung der Europäischen Union
Der Europäische Rat beriet die Fortschritte bei den Verhandlungen mit den Beitrittsländern. Die mittel- und osteuropäischen Länder erfüllen ihre Auflagen nach dem Zeitplan, müssen aber noch administrative und rechtliche Strukturen verbessern. Das von der Kommission erarbeitet Dossier "Enlargement communication Strategy" wurde vom Rat angenommen und verabschiedet.
Bei der Diskussion über die Agrarhilfen an die künftigen Beitrittsländer konnte keine Einigung erzielt werden. Es wurde beschlossen, diese Frage auf den nächsten Gipfel in Kopenhagen unter dänischer Ratspräsidentschaft zu klären.
Die Regierungen von Deutschland, Holland, Schweden und England sind nicht bereit, ihre Anteile für Agrarsubventionen zu erhöhen. Auch ein Kompromissvorschlag der Kommission, nach dem die Beitrittsländer bis 2004 nur 25% der landwirtschaftlichen Subventionen erhalten sollen, und bis 2013 diese Agrarhilfen auf 100% des jetzigen Niveaus aufgestockt werden, wurde abgelehnt.
Bundeskanzler Schröder betonte, dass hierfür zuerst eine Reform der Europäischen Agrarpolitik notwendig sei. Auch wollte er keine Entscheidung vor den deutschen Septemberwahlen treffen. Auf dem Gipfel wurde ausdrücklich betont, dass die Beitrittsverhandlungen bis Ende 2002 abgeschlossen werden. Darüber zeigten sich die anwesenden Staats- und Regierungschefs der Beitrittsländer sehr befriedigt.
Die Zukunft der EU
José María Aznar und Javier Solana unterbreiteten einen Vorschlag zur Schaffung des Amtes eines "europäischen Präsidenten", mit dem Ziel, wechselnde Präsidentschaften unter den Mitgliedsstaaten abzuschaffen. Hiermit waren kleinere Staaten nicht einverstanden. Auch wurde im Rahmen des Meinungsaustausches vorgeschlagen, das Vetorecht im Europäischen Rat einzuschränken und verstärkt durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen.
Dem widersprach besonders Frankreich. Auch Irland und Österreich fürchten durch dieses Verfahren um ihren Einfluss bei den Entscheidungen in der EU. Über diesen Punkt gab es daher keine Einigung. Als Neuerung wurde jedoch eingeführt, dass in Ausnahmefällen, die nicht genau definiert wurden, Mehrheitsentscheidungen gefällt werden können. Beschlossen wurde lediglich die Reduzierung der Anzahl der Treffen der europäischen Ministerräte von 16 auf 9 pro Jahr sowie eine Verkürzung der Sitzungen auf einen Tag.
Außenbeziehungen und Verteidigung
Die 15 Mitglieder wollen eine gemeinsame Sprachregelung bei Internationalen Konferenzen und Regierungsgipfeln vermehrt anstreben. Dies sei besonders wichtig bei der bevorstehenden "Conference of sustainable development" in Johannesburg im August 2002, und bei den Stellungnahmen Europas zu dem Konflikt zwischen Indien und Pakistan sowie der Lage im Nahen Osten. Die 15 Staaten forderten in einer gemeinsamen Erklärung die Schaffung eines Palästinenserstaates sowie die Beendigung der Gewalt.
Als Erfolg kann das Einverständnis Griechenlandes zu Verhandlungen mit der NATO über eine Europäische Armee gewertet werden. Griechenland hatte dieses Vorhaben wegen des Zypernkonfliktes lange blockiert. Als Voraussetzung für sein Einlenken verlangt Griechenland die volle Autonomie der zuständigen europäischen Gremien bei militärischen Entscheidungen.
Damit beim zweiten irischen Referendum eine positive Abstimmung sicherer wird, wurde Irland in einem Sonderdokument Neutralität im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zugebilligt.
Gemeinsame Wirtschaftspolitik
Auf dem Gipfel von Sevilla ging es auch um die "Grundzüge der Wirtschaftspolitik". Besonders Chirac und seine Regierung stehen vor der Aufgabe, ihre haushaltspolitischen Verpflichtungen aus dem Stabilitätspakt mit ihren Wahlversprechen in Übereinstimmung zu bringen. Chirac hat Steuersenkungen zugesagt, und einen ausgeglichenen Staatshaushalt bis 2004 in Zweifel gezogen. Frankreich erreicht dieses Jahr ein Budgetdefizit von 2,6% des Bruttoinlandproduktes (BIP). Auch Portugal, Deutschland und Italien wurden aufgefordert, bis 2004 einen ausgeglicheneren Haushalt zu erreichen.
Chirac äußerte sich nach dem Gipfel zufrieden. Ihm gelang es, die Kritik wegen Frankreichs Haushaltsdefizit abzumildern, setzte seine Vorstellungen in der Migrationspolitik durch und verhinderte die Aufweichung des Vetorechts bei Gemeinschaftsentscheidungen.
Der europäische Konvent
Am Ende des zweitägigen Gipfels informierte der Präsident des Europäischen Konvents Valéry Giscard d'Estaing über den Stand der Beratungen. Er wies besonders auf die Notwendigkeit hin, die Europäische Union den Bürgern näher zu bringen. Nach der letzten Umfrage des Eurobarometers fordern die EU-Bürger mehr Transparenz und bessere Information über die europäische Politik.
Welche Kompetenzen der EU und welche den Mitgliedstaaten zufallen sollen, sei die herausragende Aufgabe des Konvents. Giscard d'Estaing ermunterte die anwesenden Staats- und Regierungschefs sich stärker um die institutionellen Reformen in Europa zu bemühen.
Resümee der spanischen Präsidentschaft
Am ersten Juli geht die 6-Monatige EU- Ratspräsidentschaft Spaniens zu Ende. Sie stand unter dem Motto "más Europa" (mehr Europa) und ihre Prioritäten waren der Kampf gegen den Terrorismus, die erfolgreiche Einführung des Euros, die Erweiterung der EU, stärkere Liberalisierung der Märkte in Europa, die institutionellen Reformen der EU sowie die Debatte über die Zukunft Europas.
Zu den bedeutendsten Veranstaltungen zählten die Ratsgipfel von Barcelona und Sevilla und der Gipfel zwischen der EU und den Staaten Lateinamerikas.
Aznar bewertete den Verlauf der Präsidentschaft positiv, da er alle gesetzten Ziele größtenteils erreicht hätte. Die Opposition unter der Leitung des PSOE-Vorsitzenden José Luis Rodríguez Zapatero zweifelt jedoch den Erfolg der Präsidentschaft an. Die Regierung habe ihre eigenen Erwartungen und Ansprüche nicht erfüllt.