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Getroffen wurde der Beschluß auf der Tagung des Rates der EU (Justiz und Inneres) vom 30. November/1. Dezember 2000 in Brüssel. Damit ist Bulgarien vorbehaltlos weg von der Liste jener Drittländern, deren Staatsbürger beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen - auch "Schengener schwarze (Negativ-) Visumliste" genannt.
Bekanntlich haben die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und der drei Benelux-Staaten 1985 das durch spätere Zusatzprotokolle ergänzte Schengener Abkommen (benannt nach dem luxemburgischen Ort Schengen) unterzeichnet, das u.a. bestimmt: "Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden." Dem Abkommen haben sich später weitere EU-Staaten angeschlossen.
Obgleich diese Regelung ursprünglich bereits 1990 in Kraft gesetzt werden sollte, kam es aufgrund von Sicherheitsproblemen zu Verzögerungen, so dass sie endgültig erst am 26. März 1995 zur Anwendung gelangte. Anfang der 90er Jahre wurden darüber hinaus zwei Listen verabschiedet - eine "weiße" über Staatsangehörige von Drittländern, für die bei der Einreise in die EU keine Visumpflicht besteht, sowie eine "schwarze" mit Drittländern, für die Visa verbindlich sind.
Während die meisten osteuropäischen Reformstaaten die Auflagen der EU hinsichtlich Grenzkontrollen, Fälschungssicherheit der Personaldokumente usw. erfüllten und folgerichtig in die "weiße" Liste aufgenommen wurden, unterließen es die damaligen bulgarischen Regierungen (das prosozialistische Kabinett Ljuben Berovs 1992-94 und das sozialistische Jean Videnovs 1994-97) fahrlässig oder möglicherweise sogar vorsätzlich, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, so dass sich Bulgarien als eines der wenigen Länder, die ein Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen mit der EU unterzeichnet hatten, in der"schwarzen" Liste von Staaten, für deren Bürger Visumpflicht bei der Einreise in die EU besteht, wiederfand. (Das andere assoziierte Land in der "schwarzen" Liste war Rumänien.)
Die für die bulgarischen Bürger unmittelbar fühlbare Folge waren lange Schlangen vor den Konsularabteilungen der EU-Botschaften, entsprechend lange Wartezeiten sowie finanzielle Unkosten für die Visaerteilung. Auf den ersten Blick weniger sichtbar, aber nicht minder gravierend waren andere Nachwirkungen - die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontakte zum Westen, dem sich Bulgarien zugehörig fühlt, waren eingeschränkt und behindert.
Die Situation nahm nach dem Start von Beitrittsverhandlungen mit der EU im Frühjahr 2000 nahezu groteske Züge an, da das Land weiterhin in der Negativ-Liste verblieb. Die bulgarische Regierung gab sich redliche Mühe, sämtlichen technischen Anforderungen der EU nach verschärften Grenzkontrollen, der Ausgabe neuer Personalausweise, Reisepässe und Fahrerlaubnisse etc. gerecht zu werden und erhielt aus verschiedenen Strukturen der EU sowie von nationalen Regierungen Zusicherungen, dass die Tilgung des Landes aus der Liste bis zum Jahresende 2000 vollzogen würde.
Entsprechende Empfehlungen und Resolutionen wurden von der EU-Kommission sowie vom EU-Parlament verabschiedet. Gegen Ende 2000 begann sich aber in der Union zusehends Widerstand gegen die bedingungslose Streichung Bulgariens aus der Liste zu bilden. Die Erfüllung der technischen Anforderungen durch Bulgarien wurde dabei jedoch nicht in Zweifel gezogen. Offenkundig wurde die Entscheidung mehr auf die politische Ebene verlagert.
Im November 2000 sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Parlaments, Assen Agov: "Es besteht die reale Gefahr, dass Bulgarien formal aus der Liste gestrichen wird, die Visabeschränkungen jedoch bis Anfang 2003 aufrechterhalten werden." Demnach würde die EU-Erweiterung nach einem Schema "10+2" mit 2= Bulgarien und Rumänien abgewickelt. Er sowie Mitglieder der Regierung und Regierungsfraktionen sahen darin eine spezifische "geopolitische Botschaft", und Agov regte sogar ein Ausscheiden des Landes aus regionalen Initiativen wie dem Stabilitätspakt für den Balkan bis hin zu "drastischsten Maßnahmen" der bulgarischen Seite an, sofern das Land in der Negativ-Liste belassen würde.
Die Oppositionsparteien Bulgarische Sozialistische Partei (BSP), Bewegung für Rechte und Freiheiten (BRF) und Bulgarische Eurolinke (BEL) erklärten sich ebenfalls für die vorbehaltlose Aufhebung der Visumpflicht, jedoch gegen ein Verlassen des Stabilitätspakts für den Balkan als eventuelle Reaktion.
Am 11. November verabschiedete das bulgarische Parlament eine aus sechs Punkten bestehende Erklärung, deren erste vier Punkte einmütig angenommen wurden. Darin wurden die Einschätzung der EU-Kommission über den Fortschritt Bulgariens sowie ihre Empfehlung zur Tilgung des Landes aus der Liste und ebenso die einschlägige Resolution des EU-Parlaments vom Juli 2000 begrüßt und die Befürchtung geäußert, dass der Rat der Innen- und Justizminister der EU nichtsdestoweniger den Beschluss fassen könnte, das Land in der Liste zu belassen.
Das Parlament Bulgariens bestehe auf der bedingungslosen Streichung des Landes aus der Liste. Kontrovers blieben hingehen Punkt 5 und 6 des Dokuments, in denen die Regierung angewiesen wurde, die Interessen Bulgariens zu verteidigen und keine Abweichung von der europäischen Orientierung des Landes sowie ihren Ersatz durch Regionalinitiativen (eine Anspielung auf den Stabilitätspakt) zuzulassen.
Die Länder sollten gemäß ihren individuellen Errungenschaften bewertet werden. Letzteres war wiederum eine Anspielung auf Rumänien, das zweifellos bei der Erfüllung der Schengener Kriterien hinter Bulgarien zurückbleibt, in der EU jedoch die Tendenz besteht, beide Länder "im Paket" zu betrachten. Diese Texte wurden lediglich mit den Stimmen der Regierungsparteien verabschiedet.
Die Hintergründe der "geopolitischen Botschaft" und die Drohung mit dem Verlassen des Stabilitätspaktes verdienen eine kurze Erläuterung.
Es kann zu Beginn des dritten Jahrtausends nicht von abgelebten Schemata geopolitischer Interessenlagen, wie sie in vergangenen Epochen bzw. während des Kalten Krieges maßgebend waren, ausgegangen wären. Andererseits wäre es naiv anzunehmen, dass die Zeit breitangelegter geopolitischer Konzeptionen nach dem Zerfall des Ostblocks vorüber ist (vgl. z. B. das Buch des bekannten amerikanischen Politologen Zbigniew Brzezinski "Das große Schachbrett" über die amerikanische Vorherrschaft und ihre geostrategischen Imperative nach 1989). Es ist nach wie vor eine unbezweifelbare Tatsache, dass bestimmte Regionen der Welt für manche Staaten weiterhin von besonderem Interesse sind.
Nun gehört der Balkan trotz gewisser wirtschaftlicher, kulturell-historischer, konfessioneller u.a. Eigentümlichkeiten fraglos zum Abendland. Das Bestreben der Länder in der Region, Mitglied der EU und NATO zu werden, ist infolgedessen nur folgerichtig und legitim. Auf der anderen Seite macht Russland keinen Hehl aus seinen besonderen Interessen auf dem Balkan: "Eine der wichtigsten geopolitischen und strategischen Prioritäten Russland bleibt der Balkan, der eine Schlüsselstellung in der russischen Politik bereits seit dem 19. Jahrhundert einnimmt.
Der Balkan bleibt auch heute im Blickfeld der Politiker und Geostrategen in Moskau. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Russlands stehen mehrere in geopolitischer Hinsicht wichtige Ziele:
- keine diplomatische Isolation Moskaus in Belgrad, Sarajewo und Sofia zuzulassen, den Appetit des Westens, der sich in die Innenpolitik der slawischen Völker einmischt, zu zügeln;
- die führende Rolle Russlands in den Geschehnissen auf dem Balkan zu sichern,
- insbesondere die NATO daran zu hindern, den Serben und Bulgaren eine Lösung für ihre Sicherheit aufzuzwingen, die die Präsenz Moskaus dort ausschließen würde."(1), heißt es beispielsweise in einer systematischen russischen Darstellung über Geopolitik von 1999.
Zbigniew Brzezinski schreibt über Russland: "Es braucht kaum betont zu werden, dass Russland trotz seiner Schwäche und wahrscheinlichen lang andauernden Instabilität ein großer geostrategischer Spieler bleiben wird...es verfolgt umfangreiche geostrategische Ziele"(2)
Auf der anderen Seite wird im Stabilitätspakt tatsächlich an manchen Stellen ausdrücklich die Rolle Russlands auf dem Balkan festgeschrieben, z. B.: "Russland hat in der Region eine Schlüsselrolle gespielt und spielt sie weiterhin."
Angesichts dessen werden die Befürchtungen der bulgarischen Regierung verständlich, ein Verbleiben des Landes in der Negativ-Liste sowie ein verstärktes bulgarisches Engagement im Rahmen des Stabilitätspakts würde russischen Bestrebungen Vorschub leisten, die Integration Bulgariens in die euro-atlantischen Strukturen wenn schon nicht zu vereiteln, so doch zumindest zu verzögern. Die Nichtstreichung des Landes aus der schwarzen Liste käme insofern einer geopolitischen Botschaft gleich, als ob man dies als mittelbare Anerkennung der russischen Ansprüche auf den Balkan und eine Abschottung der Region vom Westen auslegen könnte.
Daher war der ganze November mit einer fieberhaften Aktivität des Kabinetts für eine Aufhebung der Visabeschränkungen angefüllt. Ein wichtiger Faktor war dabei auch der veröffentlichte Fortschrittsbericht der EU über Bulgarien, der trotz einiger kritischer Bemerkungen dem Land eine insgesamt positive Bewertung gab. Ein vorsichtiger Optimismus kam erst in den letzten Tagen vor der Tagung der EU-Minister auf, nachdem deutlich wurde, dass der Ausschuss der Ständigen Vertreter (Botschafter) der Regierungen der EU-Staaten in Brüssel sich zugunsten einer Lösung des Problems im Sinne Bulgariens ausgesprochen hatte.
Die erlösende Nachricht traf am frühen Nachmittag des 1. Dezember ein. Die Politiker der Regierungsparteien lagen sich in den Armen, ja es wurden sogar manche Tränen der Freude vergossen. Die Entscheidung wurde auch von der Opposition begrüßt. Ministerpräsident Iwan Kostov meinte, dass dieser Beschluss der EU vor allem auf die Einheit, Nachdrücklichkeit und Konsequenz bei der Verteidigung der nationalen Interessen zurückzuführen sei. Der BSP-Vorsitzende Georgi Parwanov nannte die Entscheidung "gerecht". Dafür hätten alle Regierungen seit 1990 gearbeitet.
Wie bereits im Vorfeld der Tagung des EU-Rates klar geworden war, hatten Frankreich, Belgien und Griechenland aus verschiedenen Motiven heraus die größten Bedenken gegen die Aufhebung der Visumpflicht für Bulgarien geäußert. Zudem hatten in Bulgarien selbst Regierungskreise die Opposition beschuldigt, offiziell die Bemühungen zur Streichung Bulgariens aus der berüchtigten Liste unterstützt, insgeheim aber dagegen gearbeitet zu haben.
Befürchtungen der Oppositionsparteien, die regierenden Vereinigten Demokratischen Kräfte (VDK) könnten aus dem Beschluss Vorteile bei den in annähernd sechs Monaten anstehenden Parlamentswahlen ziehen, sind nicht von der Hand zu weisen. Zudem sind die Lobbyisten russischer Interessen in Bulgarien vorwiegend in Kreisen der Oppositionsparteien angesiedelt. Daher kann ein gewisses Unbehagen oder gar Widerstand vor allem seitens der BSP und BRF nicht allzu sehr wunder nehmen.
Die äußerst skeptische und in ihrer überwiegenden Mehrheit traditionell regierungskritische bulgarische Presse gab sich am Tag danach mit der Entscheidung zufrieden. Lauteten die großen Schlagzeilen vor der Tagung häufig beispielsweise "Die Visa bleiben!", so titelte die BSP-nahe Duma am 2.12.2000 "Schengen fällt", die 24 Tschasa "Die Mauer ist gefallen", der Monitor "Man lässt uns herein". Fast am bescheidensten gab sich die regierungsnahe Demokrazija, deren große Überschrift "Freizügigkeit ab Mai 2001" lautete. (In der Tat kann die Visafreiheit effektiv erst ab Frühjahr 2001 nach der Ratifizierung des Beschlusses des EU-Rates durch das EU-Parlament einsetzen.)
In den letzten Tagen wird allerdings in manchen Medien der Versuch unternommen, den Erfolg der Regierung zu relativieren und Kritik an der bevorstehenden Einführung von Visa gegenüber Staaten wie Russland zu üben, was jedoch angesichts der Tatsache, dass Bulgarien nunmehr zur Außengrenze des Schengener Raumes wird, sehr wahrscheinlich erscheint.
Die russische Tageszeitung Iswestja hat bereits einen Artikel unter der Überschrift "Die Bulgaren haben beschlossen, dass sie Europäer sind" veröffentlicht, in dem unter unverhohlener Ironie behauptet wird, dass Bulgarien im Gegensatz zu den mitteleuropäischen Reformstaaten auf absehbare Zeit keine Chance habe, EU-Mitglied zu werden und nicht mit Polen oder Estland, sondern eher mit Albanien verglichen werden könne. Deshalb sei die Einführung von Visa für russische Bürger ein Ausdruck sinnlosen Übereifers.
Rumänien wurde übrigens auf derselben Tagung ebenfalls aus der Liste gestrichen, allerdings mit einem Sternchen versehen, was eine ungünstigere Variante darstellt. Die Aufhebung der Visumpflicht wird damit auf unbestimmte Zeit verschoben.
Eventuelle Befürchtungen in der EU über eine mögliche Zuwanderungswelle aus Bulgarien sind im übrigen irrational überhöht und unbegründet. Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass nach dem effektiven Wegfall der Visa sich zunächst ein verstärkter (touristischer) Reiseverkehr in Richtung EU einstellt, mit einer massenhaften Immigrationsbewegung (einschließlich der Roma-Minderheit) ist indessen sicher nicht zu rechnen.
Die Herausnahme Bulgariens aus der Negativ-Liste kann als einer der größten außenpolitischen Durchbrüche in den vergangenen 11 Jahren seit der Wende bezeichnet werden, der zudem für die Bevölkerung unmittelbar spürbar wird. Er kann auch als eine Widerlegung von bisweilen postulierten skeptischen Szenarien gelten, wonach die Großmächte durch Gipfel-Diplomatie, beispielsweise in Jalta 1945 oder Malta 1989, ihre Einflußsphären aufgeteilt, für immer vorausbestimmt und Bulgarien dem sowjetisch-russischen Einzugsbereich zugeschlagen hätten.
(1) N. A. Nartov: Geopolitika, Moskau 1999, S. 192.
(2) Zbigniew Brzezinski: The Grand Chessboard, 1997, zitiert nach: Zbigniew Brzezinski: Goljamata achmatna Dâska, Sofia 1997, S. 54.