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Country Reports

Positive Bilanz der ersten achtzehn Monate

by Dr. Norbert Wagner

Die Bilanz der ersten einundeinhalb Jahre der Regierung Raffarin kann sich sehen lassen.

Mit der Reform der Rentenversicherung wurde eines der wichtigsten und zugleich schwierigsten Projekte zur Reform der sozialen Sicherungssysteme erfolgreich umgesetzt.

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Reform der Rentenversicherung

Mit der Reform der Rentenversicherung wurde eines der wichtigsten und zugleich schwierigsten Projekte zur Reform der sozialen Sicherungssysteme erfolgreich umgesetzt. Zwar stellen die ergriffenen Maßnahmen nur einen ersten Schritt in die richtige Richtung dar. Eine dauerhafte Sanierung der Rentenversicherung wird weitere Einschnitte und Korrekturen erfordern. Doch angesichts der Ausgangssituation und des Widerstandes der militanten Gewerkschaften hat die Regierung großen Mut und vor allem Geschick dabei bewiesen, wie sie ihre Politik umsetzte. Der Widerstand der Gewerkschaften wurde geschwächt, indem sie gespalten wurden. Der Widerstand der Lehrergewerkschaften brach unter dem Druck der Eltern bzw. der Öffentlichkeit zusammen, als die Abhaltung der Abiturprüfungen durch den Streik gefährdet wurden. Schließlich erlahmte insgesamt der Widerstand gegen das Vorhaben der Regierung durch das Näherrücken der Feriensaison. Enttäuscht drohten die geschlagenen Gewerkschaftstruppen an, nach dem Ende der Ferien ihren Kampf wieder aufzunehmen. Bisher hat sich diese Ankündigung als leere Drohung erwiesen.

Steuersenkungen

Die Regierung hat ihr bereits im Wahlkampf gegebenes Versprechen, die Einkommenssteuer zu senken, eingehalten. Bereits die Einkommenssteuer des Jahres 2001 wurde kurz nach dem Regierungsantritt Ende April 2002 gesenkt. Die kumulierte Senkung der Einkommenssteuer beläuft sich seitdem auf rund 10%. Weitere Steuersenkungen sind geplant.

Darüber hinaus konnte ein besonders populäres Vorhaben der Steuersenkung auf dem Weg gebracht werden. Ab 2004 wird die Mehrwertsteuer (TVA) auf Restaurantrechnungen vom normalen Steuersatz 19,6% auf 5,5% gesenkt werden.

Dezentralisierung

Die Dezentralisierung, ein Herzensanliegen von Premierminister Raffarin, wurde in Angriff genommen. Ausgangspunkt ist dabei die Schwerfälligkeit und Ineffizienz des politischen und administrativen Systems, das Raffarin als ehemaliger Präsident einer Region aus eigenem Erdulden nur zu gut kennt. Das Projekt der Regierung Raffarin zielt auf die Verlagerung zusätzlicher Kompetenzen von der nationalen auf die regionale, departementale und kommunale Ebene. Kaum jemand in Frankreich wird bestreiten, daß ein größeres Maß an Dezentralisierung und Delegation von Kompetenzen auf die unteren Ebenen unbedingt erforderlich ist. Wenn es aber um die konkrete Zuweisung bzw. den Entzug von Kompetenzen geht, regt sich sofort Widerstand. Auch die Neugruppierung von Départements und Regionen kommt nicht voran. So wäre es wohl sinnvoll, wenn sich beispielsweise die Départements Ober- und Unterrhein auflösten und in der Region Elsaß aufgingen. Genauso könnten sich die Regionen Unter- und Obernormandie zu einer Region vereinigen. Zahlreiche andere Beispiele ließen sich finden. Nach den Vorschlägen der Regierung ist dies per Volksabstimmung der betroffenen Regionen oder Départements möglich. Der Widerstand der Mandatsträger vor Ort, d.h. all jener, die eventuell ein Amt zu verlieren haben, scheint jedoch kaum überwindbar.

Zur Zeit ist offen, ob diesem Vorhaben der Regierung ein ähnliches Schicksal beschieden sein wird, wie so vielen früheren Versuchen zur Förderung der Dezentralisierung, die nach anfänglicher Euphorie sang- und klanglos versandeten. Ohne Zweifel bedarf Frankreich einer stärkeren Dezentralisierung. Förderlich wäre allerdings auch eine Reduzierung der Verwaltungsebenen. Unterhalb der nationalen Ebene bilden die Regionen, die Départements, die Communautés Urbaines und schließlich die Gemeinden ein viel zu unübersichtliches Geflecht von Zuständigkeiten und Verwaltungsebenen, daß zumindest die Bürger nicht mehr überblicken, wer wofür verantwortlich ist. Auf eine Ebene, die Départements oder die Regionen, könnte wohl problemlos verzichtet werden.

Korsika

Wie schwierig das jedoch ist, zeigt nicht zuletzt das gescheiterte Referendum auf Korsika. Dabei ging es unter anderem auch darum, die beiden Départements im Norden und Süden der Insel aufzulösen und die gesamte Administration in der bereits bestehenden „Region“ Korsika zusammenzufassen. Bekanntlich scheiterte das Referendum knapp. Dazu trugen sicherlich unterschiedliche Gründe bei. Eine wichtige Rolle dürfte indes gespielt haben, daß rund 40% der Beschäftigten auf Korsika beim Staat angestellt sind. Die Streichung einer Verwaltungsebene schien diesen öffentlich Bediensteten (wohl nicht ganz zu unrecht) als eine Gefährdung ihrer Arbeitsplätze.

Das Scheitern des von der Regierung vorgelegten Referendums auf Korsika bedeutete zwar eine Niederlage für die Regierung Raffarin, insbesondere für den zuständigen Innenminister Nicolas Sarkozy, der sich sehr für die Annahme des Referendum engagiert hatte. Gleichwohl hat dieses Scheitern weder Sarkozy noch der Regierung insgesamt politisch geschadet. Offenkundig ist den meisten Franzosen bewußt, daß „Korsika“ gewissermaßen ein Fall für sich ist, der aus dem üblichen politischen Kategorien herausfällt. Inakzeptabel ist dabei allerdings, daß auf einer von Frankreich und der EU derart hoch subventionierten Insel gerade jene Kräfte Zulauf haben, die sich „Separatisten“ oder „Independantisten“ nennen.

Innere Sicherheit

Den größten Erfolg der ersten achtzehn Monate hat die Regierung Raffarin zweifellos auf dem Feld der inneren Sicherheit zu verbuchen. Mit der statistisch belegbaren (alle Verbrechenskategorien mit Ausnahme der Drogendelikte nehmen ab) und vor allem mit der von den Menschen gefühlten Verbesserung der inneren Sicherheit stieg in gleichem Maße die Popularität von Innenminister Nicolas Sarkozy. Er ist mittlerweile zum beliebtesten französischen Politiker geworden. Seine Popularität übertrifft jene von Präsident Jacques Chirac und von Premierminister Jean-Pierre Raffarin bei weitem. Gemeinsam mit Justizminister Dominique Perben führt er diese Politik unter dem Slogan „Rétablir l’autorité d’état“.

Immigration

Aber nicht nur durch seine Politik zur Förderung der inneren Sicherheit erfreut sich Nicolas Sarkozy großer Zustimmung. Auch seine Maßnahmen zur Eindämmung der Immigration sind in der Bevölkerung populär, ebenso wie die konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber oder sein intensiver Dialog mit der (auf seinen Druck hin gewählten) Vertretung der Muslime in Frankreich. Dabei haftet Sarkozy keineswegs das Image eines Populisten oder Hardliners an. Denn er versteht es, seine Politik sehr gut zu verkaufen und seine Härte und Konsequenz auch mit Konzilianz und Zugeständnissen zu verbinden. Ein Beispiel hierfür sind die wilden „Technoparties“, die in den vergangenen Sommern immer wieder ein Dorn im Auge der Bevölkerung und der Polizei waren. In diesem Jahr nun bot Sarkozy das Terrain für solche Parties an unter der Bedingung, daß die Veranstalter den internen Sicherheitsdienst organisierten und die Polizei die Sicherheit außerhalb gewährleistete. Aufgrund dieser Vorkehrungen verliefen die Parties in diesem Jahr wesentlich unproblematischer. „Technoparties“ wurden zu „Sarko-Parties“.

Ein „heißer“ Sommer

Es war zu erwarten, daß Premierminister Jean-Pierre Raffarin und seine Regierung nicht dauerhaft derart unangefochten würden arbeiten können und in der Öffentlichkeit so viel Zustimmung genießen würden wie in den ersten einundeinhalb Jahren seit der Übernahme der Regierungsverantwortung. Seit dem Sommer dieses Jahres scheinen sich die Rahmenbedingungen für die Regierung Raffarin zunehmend zu verschlechtern. Es zeichnet sich ein Stimmungswandel ab. Vor allem Premierminister Raffarin, aber auch Präsident Chirac sinken kontinuierlich in den Umfragewerten.

Präsident Chirac hatte sich insbesondere vor und während des Irakkrieges außergewöhnlich hoher Zustimmungswerte erfreut. Es überrascht daher nicht, daß sich nun die Popularität wieder auf ein „Normalmaß“ einpendelt. Darüber hinaus wird dem Präsidenten angelastet, daß er während der gesamten Sommerpause praktisch nicht „sichtbar“ war und sich nicht oder kaum in die politische Debatte einschaltete. In den letzten Tagen und Wochen hat er dies durch zahlreiche öffentliche Auftritte auszugleichen versucht.

Auch für Premierminister Raffarin werden einige Reden und öffentlichkeitswirksame Auftritte wohl kaum ausreichen, um in der Gunst der Bevölkerung wieder zuzulegen. Der schwierige Start der Regierung Raffarin in die neue politische Saison hat sich schon während der Sommerferien abgezeichnet.

Intermittents

Was nach dem erfolgreiche Start der Regierung Raffarin ein ruhiger und erholsamer Sommer hätte werden können, wurde vor allem durch zwei Faktoren merklich getrübt. Die wilden und aggressiven Streiks und Blockaden der „Intermittents“, der Bühnenarbeiter störten die Sommerpause nachhaltig. Eine große Zahl der beliebten Theater- und Musikfestivals, die sonst die Sommerzeit in Frankreich prägen, fielen, einschließlich des Festivals von Avignon, infolge dieser Streiks aus. Andere konnten nur eingeschränkt, teils sogar nur unter Polizeischutz, stattfinden. Die AnzahI der Intermittents ist in den letzten Jahren auf über 10.000 angestiegen. Bisher waren sie nur zu einer geringen Zahl von Arbeitsstunden (ca. 32) pro Monat verpflichtet. Ansonsten wurde ihr Einkommen von der Arbeitslosenversicherung getragen. Damit zeichnen die Intermittents für einen beträchtlichen Teil des Defizits der Arbeitslosenversicherung verantwortlich. Die Regierung wollte nun die Anzahl der Arbeitsstunden pro Monat auf etwa 50 erhöhen Das führte zu den wütenden Protesten der Intermittents. Die Regierung blieb hart, was von einem Großteil der Bevölkerung vermutlich begrüßt wurde. Gleichwohl führte diese Auseinandersetzung über den ganzen Sommer hin zu negativen Schlagzeilen.

Hitzetote

Kalt erwischt wurde die Regierung Raffarin außerdem von der Hitzewelle („canicule“) des vergangenen Sommers. Zwar waren infolge der außergewöhnlichen Hitze in vielen Ländern Europas zahlreiche zusätzliche Tote, vor allem unter den älteren Menschen, zu beklagen. In keinem europäischen Land war deren Zahl indes so hoch. Nach französischen Schätzungen sind im August 2003 im Vergleich zu den Vorjahren bis zu 15.000 Menschen zusätzlich gestorben. War dies schon traurig genug, so verschlimmerte sich die Angelegenheit im nachhinein noch zusätzlich.

Als das ganze Ausmaß der Tragödie erkennbar wurde, versuchte die Opposition natürlich der Regierung die Verantwortung hierfür zuzuschieben, allerdings ohne großen Erfolg. Aber auch die Regierung selbst trug dazu bei, sich selbst in ein schlechtes Licht zu rücken. Der zuständige Gesundheitsminister Jean-François Mattei beklagte, man habe ihn nicht ausreichend und rechtzeitig informiert, und entließ den für Gesundheit zuständigen Generaldirektor. Ferner gab er eine Untersuchung in Auftrag, die mittlerweile zu dem Ergebnis gekommen ist, daß zahlreiche Mängel im staatlichen Gesundheitswesen verantwortlich zu machen sind, keineswegs aber die Regierung oder der zuständige Minister. Premierminister Raffarin und Gesundheitsminister Mattei suchten zu retten, was zu retten war. Einige öffentlichkeitswirksame Besuche in Hospitälern und Altenheimen sowie ein Investitionsprogramm für die Krankenhäuser konnten aber die Entwicklung nicht mehr zurückdrehen.

Die Hitzewelle des vergangenen Sommers offenbarte einige Schwachstellen im französischen politischen und gesellschaftlichen System. Der unübersichtliche und schwerfällige Verwaltungsapparat trug seinen Teil zu der Situation bei. So war die dramatische Lage in den Départements relativ früh bekannt. Bis aber auch die Zentralverwaltung aufgewacht war, war es schon zu spät. Trotz hoher Ausgaben für das Gesundheitswesen kommt bei den Kranken und Gebrechlichen nur wenig an tatsächlicher Leistung an. In französischen Altenheimen beträgt die Personalausstattung nur die Hälfte derer in Deutschland. Die Einführung der 35-Stundenwoche kompliziert die Situation zusätzlich. Schließlich tat die Ferienzeit den Rest. Der Hinweis auf die Feriensaison und die eigene Abwesenheit wegen Urlaubs gehörte zum Standardrepertoire vieler Verantwortlicher des staatlichen Gesundheitswesens.

Aber unter den Hitzetoten dieses Sommers sind auch viele alte Menschen zu beklagen, die nicht in Heimen lebten, sondern alleine oder in ihrer Familie.

Nur ganz vereinzelt kommen Stimmen auf, die fragen, ob denn etwas mit der französischen Gesellschaft nicht stimme, wenn eine Hitzewelle, die viele Länder Europas getroffen habe, nur in Frankreich so außerordentlich viele Hitzetote verursache. In Deutschland, in der Schweiz oder in Italien seien zwar auch zusätzliche Todesfälle aufgetreten, bei weitem aber nicht so viele wie in Frankreich. Noch trauriger wird das Bild, wenn man bedenkt, daß viele Fälle bekannt wurden, in denen die Polizei die Angehörigen der Verstorbenen zwar über den Todesfall informierten, die Angehörigen es aber ablehnten, sich um die Beerdigung des Verstorbenen zu kümmern. Die Polizei oder der Bürgermeister seien dafür verantwortlich.

So zählt zu den traurigsten Bildern dieses Sommers die Szene, in der Präsident Chirac und der Bürgermeister von Paris an einer Trauerfeier für 57 verstorbene Einwohner von Paris teilnahmen, deren Verwandte es abgelehnt hatten, für das Begräbnis ihrer Angehörigen zu sorgen.

Bewährungsprobe bis zu den Regionalwahlen

Für die Regierung Raffarin steht im Frühjahr nächsten Jahres die erste Wahl seit ihrer Amtsübernahme an. Am 21. und 28. März 2004 werden die Regionalwahlen abgehalten. Bis dahin muß es der Regierung Raffarin gelingen, einen Stimmungswandel herbeizuführen. Falls das nicht gelingt, werden die Franzosen aus Protest, nicht weil die Opposition so gut ist – sie existiert praktisch nicht - , gegen Kandidaten der UMP stimmen. Folge könnte sein, daß einige Regionen verloren gehen.

La France en déclin?

Heftige Reaktionen hat in den vergangenen Wochen ein Buch des liberalen Ökonomen Nicolas Baverez ausgelöst. Seine zentrale These lautet, Frankreich befinde sich in einem andauernden Abstieg („La France en déclin“), weil sich das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche System als nicht reformierbar erweise. Frankreich sei zu einem unaufhaltsamen Abstieg verdammt.

„Agenda 2006“

Premierminister Raffarin widersprach deutlich. Frankreich sei einer der modernsten und erfolgreichsten Staaten der Welt. Von seinem Reformprogramm werde er keine Abstriche machen. Während der Fraktionsklausurtagung (journées parlementaires) in Nancy am 22. und 23. September stellte Premierminister Raffarin seine 10 Punkte umfassende „Agenda 2006“ vor. Seine feste Absicht ist es, diese zehn Punkte bis Ende 2004 umzusetzen, in der Hoffnung, daß die positiven Wirkungen bis 2006, also im Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen, spürbar werden.

Wachstumsflaute

Während Frankreich im vergangenen Jahr noch ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum als Deutschland verzeichnen konnte, gleichen sich die französischen Wachstumsraten in diesem Jahr dem deutschen Stagnationsniveau an. Premierminister Raffarin machte schon früh den Ausfall der deutschen Wachstumslokomotive verantwortlich. Weitere wichtige Ursache ist aber auch das deutliche Sinken der inländischen Nachfrage. Dies ist vor allem auf die äußerst nachteiligen Auswirkungen der 35-Stundenwoche zurückzuführen. Sie hängt gewissermaßen wie ein Klotz am Bein der französischen Konjunktur. Aus verschiedenen Gründen hatte die Regierung Raffarin nach ihrem Amtsantritt im Frühjahr 2002 nur einige geringfügige Korrekturen vorgenommen, die 35-Stundenwoche in ihrem Kern aber nicht angetastet. Jetzt mehren sich wieder die Rufe nach einer Revision. Die Erfolgsaussichten für eine Reform sind indes gering.

Die Wachstumsflaute in Verbindung mit dem rigiden Arbeitsmarkt hat natürlich auch das Beschäftigungsproblem nicht gelindert, im Gegenteil. Die Arbeitslosenquote wird wohl schon bald die 10%-Marke überschreiten.

Budgetdefizit

Allem Anschein nach hat die Regierung Raffarin es aufgegeben, in der unmittelbaren Zukunft das Defizitkriterium des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu respektieren. Lippenbekenntnisse können nicht darüber hinwegtäuschen. Ein Defizit von fast 4% in diesem Jahr und wohl auch im nächsten bereitet der französischen Regierung offenbar auch deshalb nur geringes Kopfzerbrechen, weil auch Deutschland die Defizitgrenze deutlich überschreitet. Bei den Journées Parlementaires am 23. September in Nancy bekräftigte Raffarin indes, im Haushaltsjahr 2005 solle das Defizit wieder unter 3% liegen. Die zugrundeliegenden Wachstumsprognosen scheinen indes sowohl für 2004 als auch für 2005 mehr als optimistisch.

Gegen alle ökonomische Vernunft argumentiert Raffarin, seine Politik ziele auf höheres Wachstum und zusätzliche Beschäftigung. Die kurzfristige Überschreitung der Defizitgrenze müsse dafür in Kauf genommen werden. Den Konflikt mit der EU-Kommission und den übrigen EU-Mitgliedern nimmt er in Kauf. Ganz im Sinne dieser verfehlten Logik haben denn auch Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac im September in Berlin eine deutsch-französische Initiative lanciert, die mit zehn Infrastrukturprojekten Wachstums- und Beschäftigungsimpulse setzten soll.

Am liebsten wäre es den Politikern aus dem französischen Regierungslager, wenn sie einen Teil der Beträge, die sie für bestimmte Investitionen (z.B. bei den Ausgaben für Rüstung, für Forschung, Erziehung und Verkehr) tätigen, aus den Berechnungen des Haushaltsdefizits herausnehmen dürften. Diese Investitionen seien ja besonders wichtig und sicherten die Zukunft des Landes bzw. Europas. – Als ob das für alle übrigen Investitionen nicht gelten sollte.

Steuerpolitik

Trotz des hohen Budgetdefizits hält die Regierung an ihrem Versprechen fest, die Einkommenssteuer weiter zu senken. Vorbild sind dabei zahlreiche westliche Industriestaaten, nicht zuletzt Deutschland. Um das Haushaltsgleichgewicht nicht vollends aus dem Ruder laufen zu lassen, hat sich die französische Regierung Mitte September entschlossen, die Steuer auf Dieselkraftstoff (um 3 Cent) zu erhöhen. Das brachte ihr sogleich selbst aus den eigenen Reihen den Vorwurf ein, sie hole aus der einen Tasche der Bürger das wieder heraus, was sie zuvor in dessen andere Tasche gesteckt habe. Die zusätzlichen Einnahmen sollen vorwiegend zur Finanzierung von Investitionen im Bereich der Eisenbahn verwendet werden.

Überhaupt keine Fortschritte macht die Regierung beim Abbau der überbordenden Staatsausgaben. Weiterhin sind rund 25% der Beschäftigten beim Staat angestellt. Die Verwaltung ist vielfach ineffizient und nimmt der privaten Wirtschaft die Luft zum atmen. Kein Land in der EU wendet beispielsweise einen höheren Betrag auf als Frankreich, um einen Euro an Steuereinnahmen zu erzielen.

Haushaltsminister Alain Lambert hat bereits Haushaltssperren angekündigt, die allerdings das Verteidigungs-, das Innen- und das Justizressort verschonen sollen.

Konflikt mit der EU-Kommission

Aber nicht nur das hohe Budgetdefizit bringt Frankreich in Konflikt mit der EU-Kommission. Auch auf dem Feld der Industrie- und der Außenhandelspolitik knirscht et gewaltig zwischen Paris und Brüssel.

Die Politik von Außenhandelskommissar Pascal Lamy (einem Sozialisten) geht der Regierung wegen ihrer mangelnden Rücksichtnahme auf die französischen Bauern viel zu weit. Öffentlich hat Premierminister Raffarin den Kommissar Lamy bereits gerügt, er solle seinen Auftrag erfüllen.

Problematisch sind auch die Staatshilfen (Beteiligung an einer Kapitalaufstockung) an die Firma Alstom (einen Hersteller von Kraftwerken und Eisenbahnen, u.a. TGV, mit fast 120.000 Beschäftigten) aus Sorge um die Arbeitsplätze und über die Abwanderung bzw. den Ausverkauf „französischer“ Technologie.

Bei all diesen Konflikten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als behandle die französische Seite die EU mit einer gewissen Überheblichkeit, ja Arroganz. Internationale Verträge sind gut und wichtig. Man beruft sich darauf, wenn es genehm ist, bricht sie aber auch ohne allzu große Skrupel, wenn man meint es gehe nicht anders. Nicht einmal Premierminister Raffarin, immerhin ehemaliger Europaabgeordneter, scheint hiervor gefeit. „Meine erste Pflicht ist die Beschäftigung“, so äußerte er sich in einem Fernsehinterview am 4. September, und nicht „buchhalterische Gleichungen abzuliefern und mathematische Probleme zu lösen, damit dies oder jenes Büro in diesem oder jenem Land zufrieden ist“. Selbst politische Freunde von Premierminister Raffarin hielten diese gegen Brüssel gerichteten Äußerungen für „desaströs“.

Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Erziehungswesen, Arbeitsmarkt und, und, und ...

Zusätzlich zu den bereits anstehenden Schwierigkeiten erwarten die Regierung in den nächsten Monaten noch eine ganze Reihe von weiteren Herausforderungen. Die Krankenversicherung bedarf dringend einer Reform. Das Defizit allein des Jahres 2003 wird 10,6 Mrd. Euro betragen. Für 2004 sind gar 14 Mrd. Euro zu befürchten, wenn keine einschneidenden Sparmaßnahmen ergriffen werden. Mit großem Interesse blickt man deshalb auf die entsprechende Reform in Deutschland.

Nach den Erfahrungen des vergangenen Sommers muß die Finanzierung der Pflegeversicherung reformiert werden. Dem deutschen Beispiel folgend sollen voraussichtlich ein oder zwei Feiertage als Kompensation für die höher Belastung der Unternehmen geopfert werden. Gedacht ist an den 8. Mai (Sieg über Deutschland). Die katholische Kirche hat bereits den Pfingstmontag angeboten, da die Franzosen mit dem Pfingstmontag sowieso nicht mehr viel anfangen könnten. Der zusätzliche Arbeitstag komme so indirekt wenigstens den Alten und Kranken zugute.

Das Erziehungswesen soll effizienter und flexibler werden. Das Erziehungsministerium ist mit rund 1,5 Millionen Beschäftigten das der Mitarbeiterzahl nach größte Unternehmen Frankreichs. Es wird noch immer zentral von Paris aus geführt. Den Schulen soll mehr Eigenverantwortung übertragen werden. Doch die Lehrer wehren sich dagegen, daß eine gewisse Dosis an Dezentralisierung eingeführt wird, die ihnen mehr Kompetenzen und eigene Entscheidungsspielräume gewähren soll.

Ein neues Arbeitsgesetz soll dazu beitragen, den Arbeitsmarkt flexibler und effizienter zu machen. Die Arbeitsverwaltung soll modernisiert werden.

Außen- und Europapolitik

Die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Europapolitik sind Politikfelder, die gewöhnlich nur wenig in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Im Vorfeld und während des Irakkrieges genoß die Politik von Präsident Chirac große Zustimmung. Seitdem ist das Thema etwas in den Hintergrund gerückt. Die gegenwärtige Situation im Irak wird als Beleg dafür gewertet, daß die französische Analyse/Position die richtige war. Anzeichen von Schadenfreude sind allerdings nur selten zu verspüren.

Allerdings sorgt man sich um den Zustand der Beziehungen Frankreichs zu den USA. Beunruhigt ist man auch über die geringere Zahl von Touristen aus den USA in diesem Jahr. Insgesamt sieht man sich, was Afghanistan, Irak und Israel/Palästina betrifft, in der eigenen Analyse mehr als bestätigt. Wenn die USA auf die französische Position einzuschwenken bereit sind, ist man für jede Form der Kooperation offen. Ansonsten wartet man die Entwicklung der Lage ab und wartet auf das Einsehen der USA.

Sowohl was die Außen- und Sicherheitspolitik als auch die Europapolitik betrifft, hat sich die deutsche Bundesregierung als nützlicher Partner erwiesen. Nur durch das zusätzliche deutsche Gewicht gewann die französische Position an derartiger Bedeutung. Deutschland ist gewissermaßen Juniorpartner in diesem deutsch-französischen Tandem. Präsident Chirac wird daher auch in Zukunft alles tun, um sich weiterhin diese Allianz zu sichern.

„Multipolarität“ ist seit geraumer Zeit der zentrale Begriff der französischen Außenpolitik. Den Vereinigten Staaten wird unterstellt, sie strebten eine „unipolare“ Ordnung der Welt an, in der sie unilateral den Lauf der Welt weitgehend bestimmten könnten. Die von Jean-François Revel so bezeichnete „obsession anti-américaine“ findet in dieser Interpretation eine neue Ausprägung. Man reibt sich am Führungsanspruch der Vereinigten Staaten und behauptet, die USA würden ein stärkeres Europa verhindern. Präsident Chirac und seine wichtigsten Berater sind gleichwohl der Meinung, die Beziehungen zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika seien ungetrübt.

Bei der Diskussion des Konzepts der Multipolarität wird meist vermieden, genauer zu präzisieren, ob dabei die USA und Europa jeweils einen separaten Pol bilden, vergleichbar jenem Rußlands, Chinas oder Indiens, oder ob über den Atlantik gewissermaßen eine Brücke von gemeinsamen Werten und Interessen existiert, die diese beiden Pole auf eine besondere Weise miteinander verbindet. Nicht wenige Politiker in Frankreich dürften wohl eher der ersten Version zuneigen. Aber es gibt auch kritische Stimmen, die warnen, Europa könne sich nicht „gegen die USA“ definieren. Gerade die letzten Monate hätten gezeigt, daß kein Pol alleine erfolgreich agieren könne.

In der Europapolitik dagegen zeichnet sich ein Konflikt innerhalb der Regierungsmehrheit ab. Während Alain Juppé, der Vorsitzende der UMP, ein Referendum zur Annahme der EU-Verfassung befürwortet, ist Innenminister Nicolas Sarkozy dagegen. Juppé verspricht sich eine größere Akzeptanz für die Verfassung und möchte den Europaskeptikern Wind aus den Segeln nehmen. Sarkozy argumentiert, bei Referenden stehe selten die gestellte Frage im Vordergrund der Entscheidung der Wähler. Vielmehr nutzten die Wähler das Referendum für eine generelles Votum für oder gegen die Politik der jeweiligen Regierung.

Die Entscheidung darüber, ob ein Referendum stattfinden wird oder ob er den Kongreß (Assemblèe Nationale und Sénat) einberuft, liegt alleine beim Präsidenten. Während des Präsidentenwahlkampfs hatte Jacques Chirac ein Referendum angekündigt.

Nach den Regionalwahlen

Die Regionalwahlen im März 2004 nächsten Jahres dürften zu einer Zäsur in der zweiten Amtsperiode von Präsident Chirac und in der Wahlperiode der gegenwärtigen Regierungsmehrheit werden. (Die Neuwahlen des der Assemblée Nationale und jene des Präsidenten stehen im Frühjahr 2007 an.)

Regierungsumbildung

Wie auch immer ihr Ergebnis, nach den Regionalwahlen ist mit einer Regierungsumbildung zu rechnen. Schon vor einigen Monaten deutete Premierminister Raffarin an, daß bei der nächsten Kabinettsumbildung einige Ministerien neu zugeschnitten und manche Portefeuilles gar ganz gestrichen werden sollten. Das Kabinett dürfte folglich kleiner werden. Wer von den bisherigen Ministern und Staatssekretären weiter im Amt bleiben wird, welche werden ausscheiden müssen, welche neu berufen werden – darüber gibt es schon jetzt zahlreiche Spekulationen.

Relativ offen wird bereits die Frage diskutiert, ob Premierminister Jean-Pierre Raffarin selbst im Amt bleiben werde. Schon immer seien die Präsidenten vergleichsweise skrupellos mit ihren Premierministern umgegangen. Falls Raffarin bis zum März 2004 das Blatt nicht wenden könne, werde Präsident Chirac einen neuen Premierminister ernennen.

Präsidentenwahl

Wenn auch die nächsten Präsidentenwahlen erst im Jahr 2007 anstehen, so dreht sich doch vieles (wenn nicht alles) schon jetzt vor allem darum, wie sich die Hauptaspiranten für dieses Amt die beste Ausgangsposition sichern können. Innerhalb des bürgerlichen Lagers kommen zur Zeit folgende Namen in Frage: Jacques Chirac, Alain Juppé, Jean-Pierre Raffarin und Nicolas Sarkozy. Auch François Bayrou dürfte wieder kandidieren, spielt aber nur eine Außenseiterrolle.

Sollte Jacques Chirac eine dritte Amtszeit anstreben, was er nach der Verfassung ohne weiters könnte, so hätte er nach heutigem Stand sicher sehr gute Chancen. Sein Alter von dann 75 Jahren könnte ein Nachteil sein, ebenso ein gewisser Überdruß der französischen Wähler.

Alain Juppé, Jean-Pierre Raffarin und Nicolas Sarkozy stehen in der zweiten Startreihe. Für Alain Juppé könnte sich schon sehr bald entscheiden, ob er überhaupt in dieses Rennen eingreifen kann. Denn am 17. Oktober ist mit dem Urteil zu rechnen in seinem Prozeß wegen sieben fiktiv im Rathaus von Paris beschäftigten Mitarbeitern des RPR. Sollte Juppé verurteilt werden, wäre er wohl aus dem Rennen. Wird er dagegen freigesprochen, hätte er als Vorsitzender der UMP eine starke Basis für seine Kandidatur.

Im Falle einer Verurteilung müßte Alain Juppé vermutlich den Vorsitz der UMP aufgeben. Nicolas Sarkozy würde gewiß sofort nach diesem Amt greifen und es wohl auch gewinnen. Ein UMP-Vorsitzender und äußerst erfolgreicher ehemaliger Innenminister Nicolas Sarkozy würde nahezu automatisch auch zum Kandidaten bei den nächsten Präsidentenwahlen.

Sarkozy scheint sich seiner Sache schon relativ sicher zu sein. Den Rivalen Juppé hat er offenbar schon abgeschrieben („Ich sehe keinen Grund, weshalb ich mich mit Juppé schlagen sollte, er ist schon tot“).

Auch Jean-Pierre Raffarin käme als aussichtsreicher Kandidat in Frage. Seine Pluspunkte sind seine Rede- und Kommunikationsfähigkeit, das Vertrauen, das er in der Bevölkerung genießt, seine Erfahrung als Premierminister. Da nach aller Erfahrung in Frankreich ein aktiver Premierminister Präsidentenwahlen nicht gewinnen kann, müßte sich Raffarin einige Jahre vor den Wahlen aus seinem jetzigen Amt (z.B. auf das Amt des Senatspräsidenten) zurückziehen.

In einer jüngsten Umfrage lag unter diesen vier möglichen Kandidaten Nicolas Sarkozy an erster Stelle, noch vor Jacques Chirac, und gefolgt von Jean-Pierre Raffarin und Alain Juppé.

Die große Popularität, der sich Nicolas Sarkozy erfreut, könnte für ihn allerdings auch zunehmend zu einem Problem werden. Es bleibt abzuwarten, wie lange Präsident Chiraczuschaut, wie ihm sein Innenminister „die Show stiehlt“ und sich schon fast ungeniert als sein Nachfolger präsentiert. Präsident Chirac wird zwar zögern, sein bestes Zugpferd im Kabinett zu opfern, er wird aber keine Skrupel haben, falls er dies für erforderlich hält.

UMP

Bei allen Schwierigkeiten, die zu erwarten waren, ist die Gründung der Union pour un Mouvement Populaire (UMP) eine Erfolgsgeschichte. Noch arbeitet die Partei nicht perfekt, vor allem der Dialog mit den Bürgern muß noch besser etabliert und intensiviert werden, um die Regierungspolitik zu begleiten und zu unterstützen. Doch der organisatorische Aufbau ist gut vorangekommen. Die UMP-Fraktion in der Assemblée Nationale mit ihren 364 Mitgliedern wird von Jacques Barrot sicher geführt. Im Frühjahr konnte auch im Sénat eine UMP-Fraktion gebildet werden, die dort nun über eine deutliche absolute Mehrheit verfügt.

Problematisch ist indes der noch immer ungelöste Umgang mit den sogenannten Courants, d.h. Strömungen. Bei der Bildung der UMP wurde auf Druck einiger Mitglieder der kleineren Parteien, die in der UMP aufgingen, in die Statuten aufgenommen, daß Courants als Sammelbecken und Diskussionsclubs für unterschiedliche „Sensibilitäten“ gebildet werden könnten. Alain Juppé wollte diese Zusage nun einlösen und damit die UMP als offene und diskussionsfreudige Partei präsentieren.

Damit rief er aber Premierminister Raffarin auf den Plan, der wohl zu recht argumentierte, daß es gerade einige Monate vor den Regionalen völlig töricht sei, den Eindruck von Spaltung und Zerstrittenheit zu erwecken. Er begab sich Mitte September eigens in eine Vorstandssitzung der UMP, um die Bildung dieser Courants zu verhindern. Daraufhin wurde diese zunächst bis nach den Regionalwahlen zurückgestellt.

Das zeigt, daß die Regionalwahlen für Premierminister Jean-Pierre Raffarindas entscheidende politische Ereignis der nächsten Monate sein werden. Auf dieses Ziel hin konzentriert er seine ganze Aufmerksamkeit und schaltet sich gar, und zwar gegen Alain Juppé, in das Leben der UMP ein, wenn er seinen Erfolg bei den Regionalwahlen gefährdet sieht.

Angesichts der Vorgeschichte bis zur Bildung der UMP aus den verschiedenen Vorläuferparteien hat Jean-Pierre Raffarin der UMP gewiß einen großen Dienst erwiesen. Verwunderlich, daß nicht auch Alain Juppédas so gesehen hat.

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October 17, 2003
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