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Reuters / Bernadett Szabo

Country Reports

Viktor Orbán gewinnt zum vierten Mal in Folge die parlamentarische Zweidrittelmehrheit

by Michael Winzer

Selbst durch einen Zusammenschluss der Opposition gelingt es dem breiten rechts-links-Bündnis nicht, die Fidesz-KDNP-Regierung abzulösen.

Aufgrund des Wahlrechts in Ungarn haben die Parteien der parlamentarischen Opposition nur in einem gemeinsamen Bündnis die Chance gesehen, die Fidesz-KDNP-Regierung unter Führung von Viktor Orbán nach drei Amtszeiten abzulösen. Nachdem sich das heterogene Oppositionsbündnis auf einen gemeinsamen Spitzenkandidaten geeinigt hat, hat der russische Angriffskrieg im Nachbarland Ukraine dafür gesorgt, dass die Wahlkampfkampagnen aller Parteien komplett neu aufgestellt werden mussten. Obwohl Umfrageinstitute in den Wochen vor der Wahl stets nur einen kleinen prozentualen Vorsprung für die Regierung gemessen haben, konnte die Regierung am Wahltag dennoch ihre Zweidrittelmehrheit sichern. Nach aktuellem Stand (das amtliche Endergebnis wird erst in ein paar Tagen feststehen) hat das bisherige Fidesz-KDNP-Regierungsbündnis 135 von insgesamt 199 Parlamentssitzen gewonnen. Somit wäre die für die Erreichung einer Zweidrittelmehrheit erforderliche Anzahl von 133 Sitzen klar überschritten. Die Herausforderungen für diese nächsten vier Jahre werden allerdings groß sein: Die Regierung muss innenpolitisch das stark polarisierte Land einen, wirtschaftspolitisch das Land aus den Folgen der Corona-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine hinausführen und außen- und europapolitisch verlorenes Vertrauen wiederherstellen. Die Opposition wird eine schwierige Zeit der Neuaufstellung vor sich haben, zumal es ihr selbst als Bündnis, welches das gesamte politische Spektrum von rechts bis links abgedeckt hat, nicht gelungen ist, die Fidesz-KDNP-Regierung abzulösen. Die Wahlbeteiligung hat sich mit 69,54% im Vergleich zur letzten Wahl 2018 (70,22%) kaum geändert.

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Übersicht Wahlergebnisse:

Wahlen Ungarn - Sitzverteilung im Parlament

Das heterogene Oppositionsbündnis entstand aufgrund der Besonderheiten des Wahlrechts

Der Zusammenschluss der Oppositionsparteien in ein breites und heterogenes rechts-links-Bündnis ist durch die Besonderheiten des ungarischen Wahlrechts bedingt. Das ungarische Parlament besteht aus 199 Abgeordneten, wobei keine Überhang- oder Ausgleichsmandate vorgesehen sind. Hiervon werden von den etwa 7,8 Millionen Stimmberechtigten 106 Abgeordnete über die Erststimme per relativer Mehrheit als Direktkandidaten gewählt. Die restlichen 93 Abgeordneten werden per Zweitstimme über die Parteiliste gewählt. Im Gegensatz zu Deutschland entscheidet in Ungarn die Zweitstimme nicht über die Gesamtzahl der Parlamentssitze der Partei, sondern nur über die Verteilung der 93 Listenplätze. Das ungarische Wahlsystem wird daher als Grabenwahlsystem bezeichnet. Eine wichtige Besonderheit ist weiterhin das System der „Gewinner- und Verliererkompensation“ bei der Erststimme. Damit keine Erststimmen „verloren“ gehen, werden die Stimmen der Wahlkreisverlierer zusätzlich der Parteiliste als so genannte „Bruchstimmen“ hinzugerechnet. Die Stimmen des Gewinners, die über das Ergebnis des Zweitplatzierten hinausgehen, also die, die für den Gewinn des Direktmandates nicht benötigt werden, werden ebenfalls der Parteiliste zugeschlagen. Dieses System begünstigt zwar große Parteien, hat jedoch in der Vergangenheit für politische Stabilität in Ungarn gesorgt. Allerdings ist es so möglich, mit unter 50% der Parteistimmen (Zweitstimmen) eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Ebenso ist es denkbar, dass bei entsprechendem Gewinn von Direktmandaten eine Mehrheit der Parteilistenstimmen für die Erlangung einer parlamentarischen Mehrheit nicht zwangsläufig erforderlich wäre.

Seit der so genannten „Lügenrede“, bei der der damalige sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány im Jahr 2006 zugegeben hat, unter anderem über den Zustand der ungarischen Wirtschaft und Staatsfinanzen gelogen zu haben, ist das linke Lager in Ungarn stark fragmentiert. Aufgrund des Wahlrechts ist es in dieser Situation schwierig, der vor allem im ländlichen Raum starken Fidesz, die für die Parlamentsmehrheit erforderlichen Direktmandate abzuringen. Daher ist bei den im Parlament vertretenen Oppositionsparteien die Einsicht gekommen, nur vereint eine Chance auf Ablösung der Fidesz-KDNP-Regierung zu haben. Bei den Kommunalwahlen im Jahr 2019 ist die Opposition daher erstmals mit gemeinsamen Spitzenkandidaten angetreten und konnte somit spektakulär Hochburgen der Regierungsparteien, wie beispielsweise die Hauptstadt Budapest, gewinnen. Um an dieses Erfolgsmodell anzuknüpfen, haben die Oppositionsparteien für diese Parlamentswahlen alle inhaltlichen und ideologischen Gräben überbrückt und sich als Zweckbündnis mit dem Hauptziel zusammengeschlossen, die Regierung von Viktor Orbán zu stürzen.

 

Aufschlüsselung der Ergebnisse in Erst- und Zweitstimme:

Wahlen Ungarn - Gewonnene Direktmandate (Erststimme)
Wahlen Ungarn - Ergebnisse Parteilisten (Zweitstimme)

Der Sieg von Orbán zeigt die Schwäche der Opposition

 

Obwohl in verschiedenen Umfragen vor der Wahl eine Wechselstimmung gemessen wurde, hat es die Opposition nicht geschafft, sich während des Kriegs im Nachbarland als eine verlässliche und stabile Alternative zu präsentieren. Insbesondere ist im Wahlkampf nicht ausreichend klargeworden, welche Inhalte und Programmatik das so unterschiedliche Oppositionsbündnis über die Ablösung der Orbán-Regierung hinaus verkörpert. Die lange außenpolitische Erfahrung und Vernetzung Viktor Orbáns bedingt durch 16 Jahre als Regierungschef (von 1998 bis 2002 und seit 2010) hat es dem bisher landespolitisch recht unerfahrenen Oppositionskandidaten Péter Márky-Zay, der ohne eigene Partei Bürgermeister einer Stadt mit rund 47.000 Einwohnern ist, schwer gemacht, sich als staatstragende Alternative im Wahlkampf zu präsentieren. Die Tatsache, dass sich das sehr heterogene Oppositionsbündnis, was sich über das Parteispektrum von rechts bis links erstreckt, in vielen Politikbereichen nicht klar inhaltlich positionieren konnte, hat es der Regierung hingegen leichtgemacht, sich in der aktuellen geopolitischen Krise als sicher und verlässlich zu präsentieren. Der politisch wenig erfahrene Oppositionskandidat hat der Regierung hingegen immer wieder durch mehrdeutige Aussagen und Schwächen der Führung der Wahlkampagne Angriffsflächen geboten, die das personell und finanziell hervorragend ausgestattete Team von Viktor Orbán stets nutzen konnte. Nach fast zwölf Jahren mit parlamentarischer Zweidrittelmehrheit dominiert das Regierungsbündnis den Diskurs im politischen und vorpolitischen Raum in Ungarn. Dadurch, dass das Bündnis der Oppositionsparteien inhaltlich und ideologisch so heterogen ist, ist es offenbar nicht gelungen, sich auf eine etablierte und politisch erfahrene Persönlichkeit aus einer der Oppositionsparteien zu einigen. Daher ist schlussendlich bei Vorwahlen der zunächst als Außenseiter gehandelte und keiner der Oppositionsparteien angehörende Péter Márki-Zay zum Spitzenkandidaten gekürt worden. Gegen diesen hat nun der politisch erfahrene Viktor Orbán gewinnen können. Die aktuelle Krisensituation, nach zwei Jahren Pandemie herrscht nun im Nachbarland Ukraine Krieg, hat offenbar weiter dazu beigetragen, dass die ungarische Bevölkerung eher auf den bekannten und als Regierungschef erfahrenen Viktor Orbán gesetzt hat, auch wenn bei bestimmten Themen die Opposition in der Tat die Regierung vor sich hertreiben konnte und in einigen Umfragen vor der Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Regierung und Opposition vorhergesagt wurde. So konnte das Oppositionsbündnis beispielsweise im vergangenen Jahr innerhalb kürzester Zeit eine Großdemonstration in Budapest gegen den von der Regierung geplanten Bau eines Campus der chinesischen Fudan-Universität organisieren. Auch mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Opposition geschickt die Annäherung der Regierung an Russland während der letzten Jahre kritisiert und die Parlamentswahlen zu einer Entscheidungswahl „Ost oder West“ hochstilisiert. Die Orbán-Regierung hat in ihrer Kampagne hingegen die Wahl als eine Entscheidung zwischen „Krieg und Frieden“ dargestellt. Mit dem von Orbán geprägten Begriff der „strategischen Ruhe“ wurde der Bevölkerung im Wahlkampf versprochen, man könne Ungarn aus dem Krieg „heraushalten“. Durch das Verbot, über ungarisches Territorium Waffen an die Ukraine zu liefern hat die Orbán-Regierung suggeriert, man könne damit russische Angriffe sowohl auf ungarisches Territorium wie auch auf die ungarische Minderheit in der Westukraine verhindern. Somit wurde in der Kampagne die langjährige politische Erfahrung des Regierungschefs betont und der politisch weniger erfahrene Oppositionskandidat in der Wahlkampagne der Regierung als potentielles Sicherheitsrisiko für Ungarn dargestellt. Daher ist es offenbar der Opposition nicht gelungen, die Regierung mit ihrer Russland-Politik zu schlagen, obwohl es allen Umfragen zufolge in der ungarischen Bevölkerung eine überdurchschnittlich hohe Zustimmung sowohl zur EU als auch zur NATO gibt. Das Wahlergebnis ist daher nicht als ein Votum gegen die EU und für eine Annäherung an Russland und China zu sehen, sondern es verkörpert vielmehr in einer Zeit der Unsicherheit und Krise den Wunsch, weiter auf die erfahrene Regierung zu setzen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass Ungarn als Nachbarland unmittelbar viel stärker vor allem wirtschaftlich von dem Krieg in der Ukraine betroffen war.

Die Kopplung der Wahl mit dem Referendum über das so genannte „Kinderschutzgesetz“, was schlussendlich die erforderliche absolute Mehrheit nicht erreicht hat, dürfte wohl weiterhin für eine Mobilisierung der Anhänger der Fidesz-KDNP-Regierung gesorgt haben.

 

Die nächste Amtszeit wird die bisher schwerste für Viktor Orbán werden

Die nicht ideologisch, sondern von machttaktischen und innenpolitischen Motiven geprägte multivektorale Außenpolitik der Orbán-Regierung der letzten Jahre wurde mit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine in eine Sackgasse geführt. Die anstehende Amtszeit wird geprägt sein von einer Neugestaltung der ungarischen Außen- und Sicherheitspolitik. Auch in der Europapolitik hat der russische Angriff auf die Ukraine formale Kooperationsformen, wie beispielsweise die Visegrád-Gruppe oder informelle Bündnisse, wie beispielsweise die Kooperation von Parteien rechts der EVP durch konträre Positionen in der Russlandpolitik gespalten. So steht Ungarn nun zu Beginn der neuen Legislaturperiode außen-, europa- und sicherheitspolitisch am Beginn einer neuen Ära. Bei der Reduzierung von Abhängigkeiten von Russland und China ist Ungarn auf Unterstützung angewiesen, da es als kleines Land weder über die Wirtschaftskraft noch über die politischen Hebel verfügt, beispielsweise die extrem hohe Abhängigkeit von russischem Gas kurzfristig aus eigener Kraft zu reduzieren. Innenpolitisch muss die extrem polarisierte ungarische Gesellschaft wieder geeint werden. Dieser Kraftakt wird ohne Kompromisse und ohne die Einbindung politischer Gegner nicht gelingen. Auch wirtschaftlich steht Ungarn nach über zwei Jahren der Corona-Pandemie sowie aufgrund der Auswirkungen des Kriegs im Nachbarland vor großen Herausforderungen. Die in den letzten Jahren krisenbedingt wieder stark gestiegene Staatsverschuldung lässt kaum haushaltspolitische Spielräume zur Unterstützung der Sozialsysteme und das baldige Auslaufen der staatlichen Preisbindung für Benzin und bestimmte Grundnahrungsmittel wird die ohnehin schon hohe Inflation weiter antreiben. Die nächsten vier Jahre dürften für Viktor Orbán also die schwersten Jahre in seiner politischen Karriere werden und ihm innen- und außenpolitisch einige Kompromisse abringen.

 

Die politische Spaltung des Landes zeigt sich in der Reaktion der Medien

In der ungarischen Medienberichterstattung ist klar zu erkennen, dass mit einer Fortsetzung der Fidesz-KDNP-Regierung gerechnet wurde. Lediglich das sehr eindeutige Ergebnis und das erneute Erringen einer Zweidrittelmehrheit hat in den Kommentaren für Überraschung gesorgt. Während die oppositionsnahen Medien aufgrund der Übermacht der Regierung und der Dominanz vor allem im öffentlichen Rundfunk von unfairen Wahlen sowie einem „Stimmenkauf“ durch steuerfinanzierte „Wahlgeschenke“ sprechen, spricht beispielsweise die regierungsnahe Zeitung Mandiner von einem „Bankrott“ der Opposition. Péter Márki-Zay, der Spitzenkandidat der Opposition hat zwar den Wahlsieg der Regierung und somit das Ergebnis anerkannt, aber eingeschränkt, dass es sich um einen unfairen und ungleichen Wahlkampf gehandelt und die Regierung die Wahlen schlussendlich nur durch „Propaganda“ und „Gehirnwäsche“ gewonnen habe.

Regierungschef Viktor Orbán hat hingegen in seiner Rede nach dem Sieg in der Wahlnacht erneut die „Bürokraten in Brüssel“ sowie den „ukrainischen Präsidenten“ in der Liste der „Gegner“ genannt, mit denen man es im Wahlkampf zu tun gehabt habe.
Die Äußerungen der Spitzenpolitiker sowohl der Regierung als auch der Opposition sowie die Medienberichterstattung nach der Wahl lassen darauf schließen, dass sich das Land nach dem Wahlkampf und insbesondere nach dem Wahlergebnis noch stärker polarisiert und gespalten hat.

 

Europapolitisch kann es kein „weiter so“ geben

Nach dem klaren erneuten Mandat für die Fidezs-KDNP-Regierung ist für die Europapolitik der nächsten Jahre in Bezug auf Ungarn ein Neuanfang erforderlich. Vor allem da, wo im EU-Rat Einstimmigkeit erforderlich ist, insbesondere im Bereich der Finanzen und der Außenpolitik, wird in Zukunft ein neuer Konsens mit der neuen alten ungarischen Regierung erforderlich sein. Sowohl der „Green Deal“ als ein wichtiges Zukunftsprojekt, als auch der Umgang mit der russischen Aggression wird ohne Ungarn nicht möglich sein. Hierfür muss verlorenes Vertrauen wiederhergestellt werden. Die ungarische Regierung besteht beispielsweise auf die baldige komplette Freigabe der Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds und es bestehen unterschiedliche Ansichten bezüglich der Ausgestaltung und Anwendung des neuen Instruments der Rechtsstaats-Konditionalität. Diese ganze thematische Bandbreite bietet genügend Raum, Ungarn in den nächsten vier Jahren einer weiteren Fidesz-KDNP-Regierung in die weitere Ausgestaltung der europäischen Integration einzubeziehen und zu Kompromissen zu finden. Wichtig ist hierbei, dass in der ungarischen Bevölkerung eine sehr hohe Zustimmung zur EU besteht, was die Umfragen des EU-Eurobarometers kontinuierlich belegen. Dem kann sich keine ungarische Regierungspartei, egal welcher Couleur, entziehen und daher sollte dieser Aspekt auch im Umgang mit Ungarn bei kontroversen Themen stets berücksichtigt werden. Das klare Mandat für die nächsten vier Jahre bietet nun eine gute Gelegenheit, die Rolle Ungarns in der EU neu zu gestalten.

 

Die deutsche Minderheit erhält erneut ein Abgeordnetenmandat

Alle dreizehn staatlich anerkannten nationalen Minderheiten in Ungarn können über die Zweitstimmenliste mit einem Kandidaten antreten und somit im Rahmen der staatlich garantierten Mitbestimmungsrechte eines der 93 Listenmandate erringen. Wählerinnen und Wähler können sich ohne weitere behördliche Überprüfung als Angehörige einer Minderheit registrieren und dadurch mit ihrer Zweitstimme dem Wahlvorschlag ihrer Minderheitengruppe zustimmen. Die Abgabe der Zweitstimme für die Wahl der Parteilisten entfällt dadurch. Bei der Wahl im Jahr 2018 konnte die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU) mit Imre Ritter erstmalig einen ungarndeutschen Abgeordneten über die Minderheitenregelung ein Abgeordnetenmandat erreichen.

Mit knappem Erfolg konnte Imre Ritter diesmal sein Mandat verteidigen. Somit sitzt erneut ein Vertreter der deutschen Minderheit als einziger über die Minderheitenregelung gewählter Vertreter im ungarischen Parlament.

 

Das Wahlergebnis eröffnet neue Möglichkeiten für die Parteienzusammenarbeit

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die von Fidesz mitinitiierten Bemühungen zur Gründung einer neuen Parteienfamilie rechts der EVP vor weitere große Schwierigkeiten gestellt. Neben unterschiedlichen Positionen in der Europa- und Innenpolitik stellt die Russlandpolitik einen wesentlichen Streitpunkt der bisher an einem solchen Bündnis interessierten Parteien dar. Nach dem Austritt aus der EVP im März 2021 ist Fidesz als die mit erheblichem Abstand stärkste ungarische Partei daher ohne Einbindung in eine Fraktion oder Parteienfamilie in Brüssel weitestgehend auf sich alleine gestellt. Die nächsten Jahre werden also ein sehr dynamisches Zeitfenster der Neuorientierung sein, in der neue Formen der Zusammenarbeit und des Austauschs mit Fidesz gefunden werden müssen. Dieses Zeitfenster bietet, konstruktiv genutzt, eine große Chance nicht nur die ungarische Regierungspartei, sondern damit verbunden auch eine starke Stimme Mittelosteuropas wieder stärker in Abstimmungsprozesse des bürgerlichen Lagers zu integrieren. Das Zeitfenster bis zu den nächsten Wahlen zum Europaparlament im Jahr 2024 bietet die Möglichkeit, zu eruieren, ob und wenn ja welche Kooperationsmöglichkeiten geeignet sind. Nach wie vor gibt es bei Fidesz verschiedene Persönlichkeiten, die sich weiter eine enge Anbindung an die EVP wünschen. Die kleinere der beiden Regierungsparteien, die christdemokratische KDNP ist Mitglied der EVP und sorgt somit für eine Einbindung der ungarischen Regierung in die Gremien der EVP.

 

Ungarn wünscht sich nach wie vor eine enge Anbindung an Deutschland

Die Orbán-Regierung hat bisher immer sehr klar artikuliert, dass Deutschland als größtes Land in der EU für Ungarn einer der wichtigsten Partner ist. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder wurden während der letzten Orbán-Regierungen stets ausgebaut und vertieft. Mit mehr als einem Viertel der Aus- und Einfuhren ist Deutschland der mit Abstand wichtigste Handelspartner Ungarns. Zahlreiche deutsche Unternehmen, insbesondere aus der Automobilindustrie haben sich in den letzten Jahren in Ungarn angesiedelt und produzieren hier auch für Drittmärkte. Auch geopolitisch ist die Lage Ungarns in der Mitte Europas und an der Grenze zur Ukraine für die künftige Sicherheitsarchitektur Europas von Bedeutung. In den Parteiführungen von Fidesz und KDNP sowie in Kabinett und Parlament gibt es mehrere Persönlichkeiten, die enge persönliche und politische Bindungen zu Deutschland haben, die in Deutschland gelebt, gearbeitet oder studiert haben und fließend deutsch sprechen. Dies bietet sowohl für die bilaterale Zusammenarbeit als auch für die europäische Integration ein großes Potential, das bisher nicht immer voll ausgeschöpft wurde.  Auch bei kontroversen Themen können diese wichtigen Verbindungen zwischen beiden Ländern künftig verstärkt eine Rolle spielen, um Kompromisse zu finden und Konflikte vorab zu vermeiden.  Dies betrifft sowohl Themen der bilateralen Beziehungen, wie beispielsweise der Wirtschafts- oder Verteidigungs- bzw. Rüstungspolitik, wo es zahlreiche gemeinsame Interessen gibt. Darüber hinaus spielt Deutschland, wie in der Vergangenheit auch, eine wichtige Rolle, wenn es darum geht Ungarn in europäische Kompromisse einzubinden. Dies gilt insbesondere für die Bereiche, bei denen die Zustimmung Ungarns aufgrund einer Einstimmigkeitserfordernis zwingend notwendig ist.

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