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Jahresauftakt zu 75 Jahre Grundgesetz

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Stephan Harbarth, eröffnete das Jubiläumsjahr "75 Jahre Grundgesetz" mit einer Rede am 148. Geburtstag von Konrad Adenauer.

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Der Petersberg ist kein magischer Ort, kein Zauberberg, aber ein bedeutender, geschichtsgesättigter Landschaftspunkt. Heute war er auch ein nachdenklicher Ort, der den Blick weit zurück und vor in eine mögliche Zukunft erlaubte – und dass nicht nur, weil dieser Tag ganz im Zeichen der Beerdigung des Staatsmannes Wolfgang Schäuble stand, mit dem eine Ära zu Ende geht. Anlass der Zusammenkunft war der alljährliche Jahresauftakt der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Stiftung Bundeskanzler Adenauer Haus zu Ehren des Geburtstages ihres Namensgebers, und zugrundeliegendes Ereignis ist das 75-jährige Jubiläum der Verkündung des Grundgesetzes und damit der Gründung der Bundesrepublik. Wie immer war die Rotunde des Hotels Petersberg gut und würdig gefüllt.

Wer wäre berufener, zum Thema zu sprechen als der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Prof. Dr. Stefan Harbarth. Nun hätte es eine Weihestunde werden können, rückwärtsgewandt und selbstzufrieden. Es kam anders – wenn auch der erste Teil von Harbarths Ausführungen auf die Führungsrolle Konrad Adenauers auf dem Weg zur Verabschiedung des Grundgesetzes und auf seine, des Grundgesetzes, Erfolgsgeschichte abhob. Konrad Adenauer war Staatsmann und Politiker. Als Staatsmann schuf er die erste stabile Demokratie auf deutschem Boden und ebnete der ersten erfolgreichen deutschen Verfassung den Weg. Als Politiker war er aber durchaus häufiger mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes nicht einverstanden, was Harbarth augenzwinkernd einwarf.

Im zweiten, über das Staatsrechtliche zum Rechtsphilosophischen hinausgehenden Teil nahm Harbarth sich der Präambel des Grundgesetzes an: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“ Seine Ausführungen verdienten einen breiteren Raum der Darstellung, mit ihnen begann schon die Nachdenklichkeit, wenn auch noch in einem abstrakteren Sinne. Er griff die drei Elemente „vor Gott“, „vor den Menschen“ und „Verantwortung“ heraus. Das erste charakterisierte er als „Demutsformel“ des Staates, vor der Gesamtheit allen Geschehens, das der Staat nicht zu bezwingen vermag (wie es der totalitäre Staat von sich annimmt) – aber auch vor den Staatsbürgern: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, wie es im Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee hieß. „Vor den Menschen“ versteht Harbarth als Öffnungsklausel: Weder geht es um den Menschen als solchen noch um das (deutsche) Staatsvolk allein. Das Grundgesetz gilt für alle, die in seinem Geltungsbereich leben, und ist zugleich offen für völkerrechtliche, übergeordnete Rechtswerke, z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention.

Mit dem letzten Punkt „Verantwortung“ begann dann der wirklich nachdenkliche Teil des Abends. Denn damit ist nach Harbarth vor allem die Zukunft des Gemeinwesens gemeint. Wie stellt sich denn nach heutigem Stand die Zukunft des Grundgesetzes und des Gemeinwesens dar? Dürfen wir optimistisch sein? Harbarth sagte klugerweise nicht, dass wir es nicht sein könnten, aber er stellte Bedingungen des Gelingens vor: Ein Gemeinwesen sei dann stabil durch eine Verfassung geschützt, wenn die Bevölkerung Verfassung und staatliche Institutionen achte und wenn die Institutionen ihre Aufgaben befriedigend erfüllten. Hier stellte Harbarth nun einen „Klimawandel im Inneren“ fest. Die Zustimmung zur Demokratie sinke, fundamentaloppositionelle Parteien nehmen demoskopisch zu, das Debattenklima wird rauer.

Im anschließenden Gespräch mit dem Chefredakteur des Bonner General-Anzeiger, Helge Matthiesen, standen diese Bedenken im Mittelpunkt. Zwar genieße das Grundgesetz selbst Achtung, so Harbarth, aber sowohl das Engagement für als auch der Rückhalt staatlicher Institutionen in der Bevölkerung sänken. Warum diese Verschiebung? Er sieht den Schlüssel in der Lösungskompetenz des Staates, und die sei zunehmend überfordert, was sowohl an der Komplexität der Aufgaben als auch an der mangelnden Fähigkeit, zu Lösungen zu kommen, läge. Es türmten sich die Aufgaben höher und höher, und der Bürger verliere das Urvertrauen in den Staat und seine Repräsentanten. Gleichzeitig appellierte er an den Staat, Vertrauen in seine Bürger und die Innovationskraft der Sozialen Marktwirtschaft zu halten; diese Kombination habe Deutschland nach dem Zusammenbruch wieder aufgerichtet und stark gemacht.

Was bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht nur als ein deutsches „Ampelproblem“ erscheinen könnte, weitet sich bei geöffnetem Fenster zu einer globalen Herausforderung der westlichen Demokratien aus. Harbarth gab den Gedanken vieler wieder, die Zweifel hegen, ob der uns vertraute Typus der liberalen Diskursdemokratie überhaupt in der Lage sei, die Multikomplexität der politischen Fragen unserer Zeit zu lösen. Bürger wollen einen Staat, der ihre Probleme regelt, aber kann ein moderner Staat das überhaupt? Stehen nicht Anspruch der Bürger und Wirkmöglichkeit des Staates in einem ungesunden Widerspruch? Anders formuliert: Überfordert nicht die „Zuschauerdemokratie“ den Staat und wäre er nicht dringend darauf angewiesen, dass diese Bürger überall mit anpackten? Da verhakt sich gerade was, und das führt Habarth dazu, unseren gedankenlosen Optimismus, das alles würde irgendwie gutgehen, in Frage zu stellen. Es könnte alles scheitern, das ist ein hartes Wort zum Jahresauftakt.

Was kann man tun? Harbarth rät weder zu einer ängstlichen Zementierung des Status quo des Grundgesetzes noch zu hektischer Schrauberei. Eine Verbesserungsmöglichkeit sieht er z.B. darin, das Bundesverfassungsgericht besser vor staatlicher Übergriffigkeit, wie in Polen und Israel geschehen, zu schützen. Unaufgebbar erscheint ihm aber der Föderalismus, vor allem, weil er befürchtet, dass ein allzuständiger Zentralstaat noch viel größere Legitimationsprobleme bekäme. Zwar sei in einer Welt, „deren Ordnung sich auflöst“, der Wunsch nach Einheitlichkeit verständlich, aber die Enttäuschung könne am Ende größer sein als bei der föderalen Uneinheitlichkeit.

Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident des Deutschen Bundestages a.D., fügte der Nachdenklichkeit noch eine internationale Perspektive dazu. Schon länger hebt er darauf ab, dass die Probleme auf uns zukommen, anstatt von uns zu weichen. Nach dem Schock des Überfalls auf die Ukraine und damit dem endgültigen Ende der Nach-1989-Ordnung, stand das Jahr 2023 im Zeichen eines weiteren Zivilisationsbruchs, dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober und seinen Nachwirkungen im Westen. Durch beides gehen Gewissheiten und Verlässlichkeiten zu Bruch. 2024 wird das Jahr vieler, zum Teil fragwürdiger Wahlen, z.B. in Russland. Über allem hängt aber das Damoklesschwert der US-Präsidentschaftswahl, mit der Ungewissheit, was sie für die amerikanische Demokratie und die Weltordnung bedeuten könnte. Da nimmt sich der ostdeutsche Herbst mit Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg noch als vergleichsweise überschaubar aus, ist uns aber näher. Die Gefährdung der demokratischen Staaten nahm damit auch Norbert Lammert in den Blick – verwies aber auf die feinsinnige Beobachtung, dass fast kein Staat der Welt auf den Anschein von Demokratie verzichten wolle – und so sei zu unterscheiden zwischen “echten” Demokratien, in denen freie und ergebnisoffene Wahlen stattfänden (deren Ergebnisse auch anerkannt werden), und solchen, die diesen Begriff inhaltsleer im Namen oder der Verfassung führten.

Lang anhaltender Beifall für beide Debattenbeiträge zeigten, wie genau der Nerv des Publikums getroffen worden ist. Harbarth hatte den passenden Vergleich dazu: Wie der Pfarrer in der Kirche den treuesten Gläubigen seine Gardinenpredigt über die Schlechtigkeit der Welt hält, so warnten der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und der ehemalige Präsident des Bundestages engagierte Multiplikatoren im Publikum vor mangelndem politischen Engagement und Zuschauerdemokratie. Es galt also nicht ihnen, sondern der Welt da draußen. Die aber war dunkel, als alle auseinandergingen.

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