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"Humanitäre Katastrophe im Libanon und im Nahen Osten: Lösung liegt in Syrien"

Auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung sprach Fuad Siniora, ehemaliger Premierminister des Libanon und derzeit stellvertretender Vorsitzender der Partei Future Movement, in der KAS-Akademie zur politischen Lage im Libanon und den aktuellen Herausforderungen, mit denen sich der das Hauptaufnahmeland von Flüchtlingen im Schatten des Syrienkriegs konfrontiert sieht.

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Die Solidarität Deutschlands mit dem Libanon und die Anerkennung der Leistungen des Zedernstaats bei der Bewältigung der aktuellen Krise wurde vom Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Hans-Gert Pöttering, zu Beginn der Veranstaltung unterstrichen. Der Libanon sei auch für die KAS ein wichtiger politischer Partner und die Stiftung versuche, mit ihren Aktivitäten vor Ort dem Libanon bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise beizustehen. Der Vorsitzende der KAS betonte, dass kein anderer Staat seit dem Zweiten Weltkrieg so viele Flüchtlinge beherbergt habe. Diese enorme Leistung auf Deutschland zu übertragen, hieße über 30 Millionen Flüchtlinge innerhalb von vier Jahren aufzunehmen. Die direkten Auswirkungen des Konflikts in Syrien werden Transit- und Aufnahmeländer wie den Libanon sowie Europa und Deutschland vor langfristige Probleme stellen, die nur gemeinsam und solidarisch gelöst werden können. Einerseits müsse Flüchtlingen in Europa geholfen werden – andererseits die Fluchtursachen vor Ort bekämpft werden.

„Wir brechen zusammen unter der großen Last“

Bereits 1948 und 1967 hatte der Libanon palästinensische Flüchtlinge in großer Zahl aufgenommen, das Land habe seine Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht, stellte Fuad Siniora fest. Die Flüchtlingswellen aus Syrien, welche ab 2012 massiv einsetzten, kämen jedoch einem „Tsunami“ gleich und stellten die Aufnahmekapazitäten des Libanon vor gänzlich neue politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Ebenso sehen sich die staatlichen Institutionen des Libanon und zivilgesellschaftliche Gruppen vor der Herausforderung, wachsendes soziales, ethnisches und religiöses Konfliktpotential zwischen Flüchtlings- und Aufnahmegesellschaft zu entschärfen. Zudem sieht sich der Zedernstaat mehr und mehr der sicherheitspolitischen Bedrohung durch den angrenzenden Syrienkonflikt und einer hiervon ausgehenden Konfessionalisierung der Region ausgesetzt.

Hierzu kommt eine andauernde innenpolitische Krise. In den stockenden Verhandlungen über die Wahl eines neuen Präsidenten haben sich die beiden großen politischen Lager seit Mai 2014 immer weiter voneinander entfernt. Ausgelöst durch die „Müllkrise“ gingen zuletzt Zehntausende, zumeist junge Libanesen im Protest gegen die politischen Parteien und den Stillstand des parlamentarischen Systems auf die Straße.

Im Libanon leben rund vier Millionen libanesische Staatsbürger neben rund 1,2 Millionen syrischen, etwa 400.000 palästinensischen, mehr als 50.000 irakischen und geschätzten weiteren 500.000 nicht registrierten Flüchtlingen. Insgesamt mache die Zahl der im Libanon lebenden Flüchtlinge damit mehr als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Es gebe „weltweit kein Äquivalent zu einer solchen demografischen Situation“. Bezug nehmend auf die „verlorene Generation“ junger Flüchtlinge steht zwar einer begrenzten Anzahl syrischer Schüler der Unterricht an libanesischen Schulen offen. Dennoch haben noch immer rund 280.000 syrische Kinder keinen Zugang zu Bildung. Für die Konfliktländer im Nahen Osten ermittelte eine UNICEF-Studie jüngst, dass von rund 34 Millionen Kindern im schulpflichtigen Alter nur rund 13 Millionen einen Zugang zu Bildung haben bzw. regelmäßig den Unterricht besuchen können.

Dabei sei Syrien früher selbst, zuletzt während des libanesisch-israelischen Krieges 2006, Aufnahmeland von Flüchtlingen – von Libanesen, Palästinensern und Irakern – gewesen. Hinsichtlich der verheerenden Folgen, die ein Leben auf der Flucht bei einer ganzen Generation von Syrern hinterlassen werde, stellte Siniora fest: „Von seinem Zuhause fliehen zu müssen, ist schon Demütigung genug. Aber stellen Sie sich vor, wie groß die Demütigung und der Würdeverlust erst sein müssen, wenn man von einem Flüchtlingslager in das nächste fliehen muss!“

Krisenwahrnehmung

Der ehemalige Premierminister betonte, dass die gegenwärtigen Krisenerscheinungen nicht neu, sondern aus ungelösten Problemen der Region hervorgegangen seien. Nicht zuletzt bescheinigte Siniora der Geschichte des Nahen Ostens eine „arabische Krise“ und eine tiefe Krise des Islam selbst. Es sei kein Zufall, so Siniora, dass sieben der insgesamt 16 weltweiten Konflikte in der arabischen Welt zu lokalisieren seien. Syrien als „Exporteur arabischer Flüchtlinge“ habe mit rund 4,5 Millionen Flüchtlingen außerhalb Syriens und geschätzten 7,3 Millionen Binnenflüchtlingen international inzwischen Afghanistan als führendes Ursprungsland von Flüchtlingen abgelöst. Insgesamt befindet sich damit rund die Hälfte der etwa 22 Millionen Syrer, die 2011 nach Schätzungen noch in ihrem Land gelebt haben, auf der Flucht. Unter den führenden sechs Herkunftsländern von Flüchtlingen, so Siniora weiter, seien fünf Länder islamisch geprägt, wie auch insgesamt die Zahl arabischer Flüchtlinge weltweit unverhältnismäßig zu den Gesamtzahlen sei: Araber, die rund fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, stellen etwa 30 Millionen und damit die Hälfte der nach UNHCR-Angaben ca. 60 Millionen weltweiten Flüchtlinge und Vertriebenen.

Dass das Bürgerkriegsland auch auf lange Sicht unter den Folgen des Konflikts leiden werde, machte Fuad Siniora im Hinblick auf die immensen Zerstörungen der Infrastruktur deutlich. So seien rund 2,2 Millionen der von den Vereinten Nationen statistisch geführten 4,2 Millionen Wohneinheiten in Syrien bereits zerstört und unbewohnbar gemacht worden.

Syrisches Volk zwischen Assad und IS

Die Entwicklung der Region in den kommenden Jahren werde wesentlich vom Reformwillen der Nachkriegskräfte gegenüber den Problemen des wirtschaftlichen Niedergangs, der Massenarbeitslosigkeit, des religiösen Extremismus und einer damit einhergehenden gesamtgesellschaftlichen Intoleranz abhängen. Diese Entwicklungsdefizite seien ursächlich für das Entstehen und den Aufstieg extremistischer Organisationen wie des Islamischen Staates (IS). Die Stärkung des IS sei jedoch nicht ohne die Mithilfe des syrischen Regimes unter Bashar al-Assad möglich gewesen, so Siniora weiter. Gleichzeitig hat die Ausweitung der Terrororganisation das Überleben des Regimes in Damaskus gesichert, da dieses sich bislang mit Erfolg als einzige Alternative zum religiösen Extremismus darstellen konnte. Das Assad-Regime hat, wie andere autoritäre Regime in der Region zuvor, Ängste in der Bevölkerung und bei westlichen Beobachtern vor einer Übernahme durch radikale Islamisten geschürt: „Der Westen ist in diese Falle getappt. Das wahre Gesicht des Regimes zeigte sich spätestens als es den Befehl gab, auf Demonstranten zu schießen und damit klarmachte, dass es ausschließlich eine militärische Lösung anstrebe“. Vier Jahre, so Siniora weiter, habe man die Augen verschlossen vor den Kriegs-Gräueln in Ermangelung einer politischen Alternative zum Assad-Regime. Inzwischen gebe es viele Befürworter von Verhandlungen mit Assad, die sich gegenwärtig jedoch ebenso indifferent gegenüber den jüngsten, in erster Linie gegen die moderate syrische Opposition gerichteten russischen Luftschlägen zeigten.

Siniora betonte, dass weder das Assad-Regime noch der IS Teil der Zukunft Syriens sein könne. Ebenso wenig sei ein effektiver Kampf gegen den Extremismus möglich, wenn Assad an der Macht bleibe. Zukunftsperspektiven zu reduzieren auf eine Wahl zwischen autoritärem Regime und Extremismus weder eine Lösung noch akzeptabel für das syrische Volk. Vielmehr müssten alle syrischen Gruppen in eine breite Koalition eingeschlossen werden um so den Übergang zu einer demokratischen Ordnung zu ermöglichen.

Normalisierung und Ursachenbekämpfung als Mittel zur Stabilisierung

Instabilität, und durch diese immer neue Flüchtlingsbewegungen seien symptomatisch für die Region und insgesamt das Resultat von seit Jahrzehnten ungelösten Problemen. Etwa der ungelöste israelisch-palästinensische Konflikt, der Fortbestand autokratischer Ordnungen, das Erstarken des militanten Islam oder unterentwickelte wirtschaftliche Strukturen führten insgesamt zu einer Verstetigung regionaler Instabilität im Nahen Osten. Vor diesem Hintergrund habe die Wahrnehmung der Araber und die Wahrnehmung des Islam international Schaden genommen und Zweifel an der Kompatibilität der Region mit einem globalen System zivilisatorischer Freiheit, bürgerlicher und individueller Rechte und Toleranz aufkommen lassen. Dringender denn je seien deshalb politische und wirtschaftliche Reformen für die Region aber auch ein Wandel im Umgang des Staates und der Gesellschaft mit Fragen der Religion nötig. So sollten etwa neue Programme im Bildungssektor und in der religiösen Bildung junge Menschen zu mehr Toleranz, Offenheit und Respekt erziehen. Ebenso müssten religiöse Autoritäten befähigt sein, dieses konstruktive Islambild gesellschaftlich zu etablieren und vorzuleben.

„Potential wiederentdecken und nutzen“

Siniora skizzierte drei Eckpunkte, die als Ausgangspunkte für einen Wandel und die Nutzung des Potentials der Region dienen sollten: Erstens, könne Friede und Wohlstand im Nahen Osten nur nach einer Überwindung des außenpolitischen Status Quo und einer Normalisierung der Beziehungen der Nachbarn untereinander und insbesondere zu Israel erlangt werden. Mit der Arabischen Friedensinitiative wurde 2002 bereits ein Weg zur Normalisierung der Beziehungen zu Israel, zu einer Akzeptanz der Zweistaatenlösung und damit der Grundstein für die Lösung eines großen regionalen Konflikts vorgelegt.

Zweitens, müsse die religiöse und ethnische Vielfalt des Nahen Ostens anerkannt und akzeptiert werden. Dies beziehe unbedingt die Rechte und den Schutz sowie die volle Integration von Minderheiten mit ein: “Es wird Zeit, die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehen. Nur Staaten, die Mechanismen für die Integration und Inklusion ihrer Minderheiten schufen, konnten sich so nicht nur internationale Legitimität und Ansehen verschaffen, sondern darüber hinaus ihre Entwicklung vorantreiben. Dieser Wandel müsse jedoch von innen kommen, da der Schutz einer Minderheit schon zu oft als Vorwand für Interventionen von außen genutzt wurde. Um einen Beitrag zur Stabilität im Nahen Osten zu leisten, müssten nicht zuletzt die Beziehungen der arabischen Staaten mit dem Iran nachhaltig verbessert werden.

Drittens, müsse die Freiheit der Religion und die Eindämmung von Extremismus sichergestellt werden: „Gewalttätiger Extremismus hat nichts mit Religion zu tun. Extremisten nutzen Religion aus zur Ausübung von Gewalt. Größter Verlierer ist dabei die Religion selbst, sie muss befreit werden vom Extremismus.“

„Jahrhundertaufgabe“ für Europa, Deutschland und die Region

Die europäische und deutsche Dimension der Flüchtlingskrise stand nach vorangegangenen politischen Gesprächen zwischen Fuad Siniora und deutschen Vertretern bei der Veranstaltung genauso im Mittelpunkt wie die Situation vor Ort im Libanon. Die Flüchtlingskrise und der andauernde Krieg in Syrien, fasste Siniora seine jüngsten Eindrücke aus Deutschland zusammen, machten eine entschiedene Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und Deutschlands zur Bewältigung der Flüchtlingskrise vor Ort und zur langfristigen Eindämmung von Fluchtursachen in der Region insgesamt notwendig.

„Viel Diplomatie nötig - auf einer Linie“

Die Aufnahme von Flüchtlingen sei für Europa eine langfristige Aufgabe, welche erhebliche Kosten nach sich ziehe. Vor Ort im Nahen Osten müssten parallel die Aufnahmeländer stärker unterstützt werden. Insbesondere in Nordsyrien müsse die Einrichtung von Schutzzonen diplomatisch vorangetrieben werden. Eine entsprechende Intervention der Europäischen Union sei für das Zusammenspiel internationaler diplomatischer Bemühungen notwendig. Europa spiele in diesem Bereich bereits eine vielbeachtete Rolle. Nach den Verhandlungsgesprächen von Genf werde in diesen Tagen die Zukunft Syriens in Wien verhandelt. Erste Einigungen konnten hierbei unter den Teilnehmern hinsichtlich der Souveränität und der Einheit Syriens als Voraussetzung für einen Frieden erzielt werden. Eine Teilung und weitere Fragmentierung Syriens, so Siniora weiter, würden die Instabilität in der Region weiter vertiefen. Ebenso seien jedoch aktive Vorbereitungen für den Wiederaufbau Syriens notwendig.

Deutschlands Vorbildfunktion

Die EU aber vor allem Deutschland spiele eine große Rolle bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. In diesem Zusammenhang lobte Siniora die jüngste Aufnahmepolitik der deutschen Regierung und die Unterstützung der Deutschen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Die Bundeskanzlerin habe damit „eine große staatsmännische Haltung bewiesen und der Welt die wahre Identität Deutschlands gezeigt.“ Premierminister Siniora dankte abschließend der KAS für ihr Engagement in der Region und bei der Stärkung der deutsch-libanesischen Beziehungen.

Fuad Siniora studierte an der American University of Beirut Business Administration und arbeitete u.a. für die Citibank und die libanesische Zentralbank. Er diente später als Minister in fünf aufeinanderfolgenden Kabinetten (1992-2004) unter Rafik Hariri und von 2005 bis 2009 als Premierminister des Libanon. 2006 war es im Wesentlichen Sinioras 7-Punkte-Plan, der den Weg für einen Waffenstillstand zwischen der Hisbollah, dem Libanon und Israel frei machte und so den gut vierwöchigen Krieg beendete.

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S.E. Fuad Siniora KAS 2015
Dr. Hans-Gert Pöttering KAS 2015
Gespräch KAS 2015
S.E. Fuad Siniora und Dr. Hans-Gert Pöttering 4 KAS 2015
Von links: Tjark Egenhoff (Leiter Vorstandsbüro), Thomas Birringer (Teamleiter Naher Osten und Nordafrika), Dr. Gerhard Wahlers (stv. Generalsekretär/HAL EIZ), S.E. Fuad Siniora, Dr. Hans-Gerd Pöttering KAS 2015

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