1. In Ihren Beiträgen sprechen Sie oft von einem humanitären Versagen der aktuellen europäischen Migrations- und Asylpolitik. Könnten Sie uns näher beschreiben, was Sie darunter verstehen?
Das europäische Flüchtlingssystem hilft Personen nur dann, wenn sie es an die EU-Außengrenzen schaffen. Wir verlangen damit von Menschen, sich auf lange, gefährliche und oftmals tödliche Wege zu machen. Wir sehen nicht nur das Sterben im Mittelmeer, sondern auch auf den vorgelagerten Routen, zum Beispiel durch die Sahara. Schätzungen gehen davon aus, dass in den letzten zehn Jahren zwischen 30.000 und 60.000 Personen auf diesen Wegen zu Tode gekommen sind – auf ihrem Weg ins europäische Asylsystem. Dies halte ich für eine inhumane Art und Weise, um Menschen zu helfen. Anstatt an diesem System festzuhalten, das einem darwinistischen Hindernislauf gleicht und das auch ganz bestimmte Gruppen bevorzugt und andere zurücklässt, wäre es humaner, Menschen direkt aus den Notregionen aufzunehmen. Vor allem machen sich oftmals gesunde und junge Personen, die aus relativ wohlhabenden Verhältnissen kommen, auf den meist teuren Weg, während die Ärmsten oder auch Alte und Kranke zurückbleiben, oder auch Personen, für die es keine Fluchtrouten gibt: Im Jemen sind die Kriegsopfer beispielsweise zwischen Saudi-Arabien und dem Roten Meer eingeschlossen und können keine EU-Außengrenze erreichen.
2. In Ihrem Buch Die Asyl-Lotterie machen Sie umfassende Reformvorschläge für eine praktikable und humane europäische Migrationspolitik. Wie sehen diese konkret aus?
Die grundlegende Idee ist die Umstellung von irregulärer auf reguläre Fluchtmigration. Reguläre Fluchtmigration würde dann aus zwei Komponenten bestehen: Resettlements und humanitäre Visa. Resettlements richten sich eher an kollektiv Bedrohte, die man direkt aus Krisenregionen sicher ausfliegen kann. Hierbei kann man auch gewährleisten, dass man den Schutzbedürftigsten hilft. Kanada und Australien benutzen dieses Instrument häufig und kooperieren dabei mit dem UNHCR (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, Anm.). Humanitäre Visa richten sich an individuell Verfolgte, beispielsweise politische Dissidentinnen und Dissidenten. Sie können vor Ort durch die Auslandsvertretungen vergeben werden. Die Schweiz macht beispielsweise von diesem Instrument Gebrauch. Die große Herausforderung ist jedoch die Reduktion der irregulären Migration, um die begrenzten Aufnahmekapazitäten aufrecht zu halten und um gesellschaftliche Akzeptanz zu schaffen.
3. Ein Schlüssel für das Funktionieren Ihrer Reformvorschläge sind Migrationsabkommen mit Drittstaaten, insbesondere wenn es um die nachhaltige Reduzierung irregulärer Migration sowie die Rückführung von Menschen ohne Bleibeperspektive in Herkunfts- und Transitstaaten geht. Wie sollten diese sich gestalten unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention?
Ja, die Reduktion irregulärer Migration gelingt nur durch Abkommen mit Drittstaaten – sowohl mit Herkunfts- als auch mit Transitstaaten. In Betracht zu ziehen sind darüber hinaus auch Abkommen mit anderen, „unbeteiligten“ Drittstaaten, die bereit sind, Asylverfahren für Personen, die sich an die europäische Außengrenze begeben haben, bei ihnen im Land durchzuführen und ihnen bei Bedarf Schutz zu geben. Ghana oder Senegal könnten eine solche Rolle einnehmen. Großbritannien und Dänemark haben ein solches Abkommen vor Kurzem mit Ruanda geschlossen. Solche Modelle hätten auch den Effekt, dass sich mit dieser Perspektive voraussichtlich deutlich weniger Menschen auf den gefährlichen Weg nach Europa machen würden. Essenziell für ein solches Abkommen wäre, dass der Drittstaat, in den die Schutzsuchenden geführt werden, faire Asylverfahren und adäquaten Flüchtlingsschutz garantiert. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention müssen dafür zwei Voraussetzungen erfüllt werden: Das Non-Refoulement-Gebot muss geachtet werden, das heißt Personen dürfen nicht dorthin zurück- oder abgeschoben werden, wo ihnen Gefahr droht. Zudem muss den Schutzsuchenden gleicher Zugang zu zentralen Gütern wie Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt gewährt werden wie der einheimischen Bevölkerung. Das muss kein europäischer Lebensstandard sein, sondern die Sicherung des Existenzminimums gemäß dem Standard des aufnehmenden Landes.
4. Weist das geplante Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und Tunesien in die richtige Richtung? Welche Interessen sehen Sie aufseiten Tunesiens und bei weiteren möglichen Partnern für die Vereinbarung von Abkommen im Bereich der Migrationskooperation?
Prinzipiell muss man festhalten, dass ein Abkommen mit Tunesien unumgänglich ist. Tunesien ist derzeit das wichtigste Transitland für irreguläre Migration nach Europa. Während es 2015 und 2016 die Türkei war, erleben wir in diesem Jahr Rekordzahlen auf der zentralen Mittelmeeroute über Tunesien nach Italien, die als bei Weitem am tödlichsten gilt. Hinzu kommt, dass große Teile der Personen, die über die westliche oder zentrale Mittelmeerroute nach Europa kommen, keinen Schutzanspruch zugesprochen bekommen. Die hohen Zahlen irregulärer Einreisen in Kombination mit den hohen Todeszahlen auf der Route und der Tatsache, dass es sich vor allem um irreguläre Wirtschaftsmigranten handelt, weisen in die klare Richtung, dass ein Abkommen mit Tunesien absolut notwendig ist. Der bisherige Ansatz scheint jedoch offensichtlich nicht zu funktionieren, denn die Zahlen der irregulären Ankünfte in Italien steigen weiter, anstatt zu sinken. Dieser Ansatz basiert ebenso wie der Deal mit der Türkei im Jahr 2016 auf einem instabilen Tauschgeschäft, nämlich in erster Linie auf der „Währung Geld“ gegen die Eindämmung irregulärer Migration in Richtung Europa. Dabei bleibt die Verführung, den Preis auch nachträglich immer weiter nach oben treiben zu wollen. Damit Abkommen sich perspektivisch als stabil erweisen, sollte in gleicher Währung gehandelt werden und das wirtschaftliche Interesse der Drittstaaten an legalen Wegen für die Arbeitsmigration bedient und wenn nötig auch als Hebel genutzt werden.
5. Der umstrittene Plan der britischen Regierung, irregulär nach Großbritannien gelangte Asylsuchende auf direktem Weg nach Ruanda auszufliegen, wurde zuletzt durch das britische Berufungsgericht infrage gestellt. Welche Schlüsse können daraus für die Gestaltung von Migrationsabkommen gezogen werden?
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die britischen Pläne eine Antwort auf das Problem sind, dass vermehrt Menschen irregulär von Frankreich nach Großbritannien übersetzen, obwohl sie zuvor durch mehrere sichere Staaten gereist sind, in denen sie einen Asylantrag hätten stellen können. Wenn Großbritannien mit Drittstaaten wie Ruanda ein Abkommen über die Auslagerung von Asylverfahren und die Gewährung von Schutz schließen möchte, geht es in erster Linie darum, ob der Drittstaat die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention respektiert oder ob es daran berechtigte Zweifel gibt. Prinzipiell ist die Auslagerung von Asylverfahren und Asylgewährung in Drittstaaten mit der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar, solange der Flüchtlingsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gewahrt wird. Für Staaten, die Teil des gemeinsamen europäischen Asylsystems sind (Großbritannien und Dänemark sind dies nicht) beschränkt sich die Auswahl von Drittstaaten für mögliche Abkommen gemäß der Asylverfahrensrichtlinie auf jene Staaten, zu denen der Schutzsuchende einen Bezug aufweist, zum Beispiel einen Transitstaat.